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HENNING MEYER, 40, ist Berater und Chefredakteur von Social Europe. Er analysiert in jeder Ausgabe die Entwicklungen der EU im Wahljahr. Magazin Mitbestimmung

Kolumne: Eine neue letzte Chance

Ausgabe 02/2019

Die europäische Einigung bleibt weiterhin die richtige Antwort auf die großen Herausforderungen unserer Zeit. Nur müssen den Absichtserklärungen auch politische Taten folgen, die damit in Einklang stehen. Von Henning Meyer

Die Europäische Union steht vor einer Schicksalswahl. Wieder einmal. 2014 war der Urnengang geprägt durch die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Stabilität und die Reform der Eurozone sowie die hohe Arbeitslosigkeit waren die dominanten Themen. Der Druck auf die europäischen Entscheidungsträger war so groß, dass der neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker von der „Kommission der letzten Chance“ sprach.

Fünf Jahre später sind viele der alten strukturellen Probleme nicht gelöst und eine Reihe von ernsthaften politischen Herausforderungen hinzugekommen. Die Migrationskrise hat seit 2015 deutlich die Grenzen der europäischen Solidarität aufgezeigt. 2016 hat sich mit Großbritannien zum ersten Mal ein Mitgliedstaat für den Austritt aus der EU entschieden. Die Welle des Populismus, die auch in Deutschland zum ersten Mal eine rechtspopulistische Partei in alle Landesparlamente und in den Bundestag gebracht hat, droht die Europawahl zu überschatten.

Das Drohszenario einer noch deutlicheren Repräsentanz der Populisten im neuen Europäischen Parlament ist real. Die großen Parteienfamilien versuchen bisher mit gemischtem Erfolg, sich dagegen in Stellung zu bringen. Für die Europäische Volkspartei EVP und ihren Spitzenkandidaten Manfred Weber von der CSU wurde die Assoziation mit Ungarns autoritärem Machthaber Viktor Orbán eine ernste Belastung. Und um den Rechtspopulisten, deren Antwort auf alle Probleme die Rückkehr zum Nationalstaat zu sein scheint, eine klare Alternative entgegenzusetzen, versuchen die Sozialdemokraten es mit dem Slogan „Europa ist die Antwort“. Auch wenn völlig richtig darauf hingewiesen wird, dass fast alle akuten politischen Probleme eine internationale Lösung brauchen, sollte über der „Antwort“ die eigentliche Fragestellung nicht übersehen werden. Denn so richtig es auch ist, dass das europäische Modell als Gegenentwurf sowohl zu Trump und Putin als auch zum chinesischen Staatskapitalismus stilisiert wird, so wenig darf man die inneren Probleme der EU außer Acht lassen.

Die Art und Weise, wie in der EU Politik betrieben wird, hat erheblich zur Frustration mit dem europäischen Projekt beigetragen. Zum einen haben nationale Alleingänge und Konflikte unter verschiedenen EU-Mitgliedstaaten sehr am Zusammenhalt der politischen Union zweifeln lassen. Ein Grund, warum beispielsweise die Migrationskrise einige Länder unvorbereitet getroffen hat, war, dass die Frage auf der Agenda der EU weitestgehend ignoriert wurde, als lediglich die Anrainerstaaten am Mittelmeer Alarm geschlagen haben. Mit Verweis auf das Dubliner Übereinkommen wurde die Sache als geklärt angesehen – bis die Realität andere politische Tatsachen geschaffen hat.

Und auch im Verhältnis zu den eigenen Bürgerinnen und Bürgern hat die EU in den letzten Monaten ein Trauer­spiel abgeliefert. Der Prozess rund um die neue Urheberrechtsrichtlinie hat die schlechtesten Seiten der europäischen Politikfindung aufgezeigt. Der maßgeblich aus Deutschland getriebene Prozess hat sowohl auf der intergouvernementalen (zwischenstaatlichen) als auch auf der Ebene der supranationalen Politik deutlich negative Spuren hinterlassen. So wurde die Einführung sogenannter Uploadfilter im Koalitionsvertrag der Großen Koalition zwar ausgeschlossen, ihre De-facto-Einführung dennoch von der Bundesregierung gegen den Rat aller ihrer Fachpolitiker durchgesetzt. Als sich in der Folge Widerstand vor allem unter jungen und in der Regel sehr europa­freundlichen Europäerinnen und Europäern breit machte, kam die Idee, die notwendige Abstimmung im Europaparlament einfach vorzuziehen. Auf Teufel komm raus sollte diese in der Sache völlig verfehlte Reform vor der Europawahl durchgepeitscht werden, was am 26. März dann auch geschehen ist.

Mit dieser Art und Weise, Politik zu machen, kann man niemanden für Europa begeistern. Wenn die politische Realität so aussieht, bringt es auch wenig, wenn alle fünf Jahre pünktlich zum Wahlkampf wieder dieselben Floskeln bemüht werden. Die europäische Einigung bleibt die richtige Antwort auf die großen Herausforderungen unserer Zeit. Nur müssen den Absichtserklärungen auch politische Taten folgen, die damit in Einklang stehen. Ansonsten wird die EU es schwer haben, die Vertrauensbasis, die für viele Integrationsprojekte notwendig ist, herzustellen.

Um das Modell Europa als Vorbild in dieser so instabil gewordenen Welt zu etablieren, reicht es nicht, eine rhetorische Wagenburg aufzubauen. Wirkliche Stärke kommt nicht primär durch Abgrenzung nach außen, sondern durch solide Fundamente im Inneren. Neben den wichtigen Themen, mit denen sich die EU auseinandersetzen wird, sollte sie auch einen Moment innehalten und die eigenen politischen Prozesse unter die Lupe nehmen. Das betrifft sowohl die nationalen Regierungen, wenn sie als Teil der EU agieren, als auch die supranationalen Institutionen.

Die Juncker-Kommission war nicht die „Kommission der letzten Chance“. Aber es bleibt zu hoffen, dass wir nach der Wahl die „Kommission der neuen Chance“ erleben werden, die federführend das Politikverständnis der EU erneuert. Das wäre letztendlich auch das beste politische Mittel, den Populisten das Wasser abzugraben und ihren Vormarsch zu stoppen.

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