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HBS Böckler Impuls

Postdienstleistungen: Wettbewerb über Niedriglöhne

Ausgabe 18/2007

Bei Postdienstleistern Beschäftigte verdienen oft so wenig, dass sie Anspruch auf Sozialleistungen haben. Ein Mindestlohn würde Lohndumping auf Kosten der Versicherten abstellen, sagt Thomas Dieterich.

Die Große Koalition ringt um die Einführung eines Mindestlohns für Briefträger. Ist der denn überhaupt nötig?

Dieterich: Ja, denn bei den Briefzustellern fällt der Anteil geringfügiger Beschäftigung vollkommen aus dem Rahmen. Es gibt in Deutschland keine Branche, die zu nahezu zwei Dritteln mit ausschließlich geringfügig Beschäftigten arbeitet - also mit Arbeitnehmern, die sich kaum gewerkschaftlich organisieren lassen und unfairen Vertragsangeboten nichts entgegensetzen können. Nur so lassen sich die bei den Postdienstleistern verbreiteten Armutslöhne erklären.

Kritiker bringen vor, ein Mindestlohn behindere den Wettbewerb. Die Verbraucher müssten höhere Preise zahlen, und die kleinen Konkurrenten der Deutschen Post müssten aus dem Markt ausscheiden. Denn sie könnten sich einen Mindestlohn nicht leisten.

Dieterich: Beschäftigte der Post-Konkurrenten verdienen zwischen 30 und 60 Prozent weniger; Vollzeitbeschäftigung ist die Ausnahme. Da geringfügig entlohnte und prekäre Beschäftigung zur Existenzsicherung regelmäßig nicht ausreicht, haben diese Arbeitnehmer häufig Anspruch auf Arbeitslosengeld II und auf Zuschüsse zu den Sozialversicherungsbeiträgen. Damit unterstützt die Versichertengemeinschaft gezwungenermaßen das Lohndumping der Post-Konkurrenten. Diese erzielen so einen Wettbewerbsvorteil bei den Lohnkosten.

Eigentlich sollten doch nur jene Unternehmen eine Lizenz für die Beförderung von Briefen erhalten, deren wesentliche Arbeitsbedingungen die in der Branche üblichen nicht unerheblich unterschreiten. So der Gesetzestext. Warum greift diese Sozialklausel nicht?

Dieterich: Die Klausel sollte sicherstellen, dass Wettbewerbsvorteile nicht durch Sozialdumping entstehen, sondern durch bessere Leistung oder größere Kundenfreundlichkeit. Sie läuft jedoch ins Leere, denn sie ist zu unbestimmt: Welche Arbeitsbedingungen sind "wesentlich"? Wonach richtet sich deren "Üblichkeit"? Und wann ist eine negative Abweichung "nicht unerheblich"? Die Regulierungsbehörde hat alle diese Rechtsbegriffe bisher so restriktiv wie irgend möglich ausgelegt - und so bisher keine Lizenz verweigert. Der Gesetzgeber darf einer so offensichtlichen Fehlsteuerung nicht tatenlos zusehen.

Würde es dann nicht reichen, die Regeln für das Lizenzverfahren nachzubessern?

Dieterich: Nein, denn für die Feinsteuerung sozialer Standards gibt es keine ausreichenden Maßstäbe, die sich abstrakt und generell festschreiben ließen. Auch über die kollektive Interessenvertretung ist eine Regelung außerordentlich schwer. Denn aufgrund der Prekarität und hohen Fluktuation der Belegschaften ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei den neuen Lizenzunternehmen minimal. Auch Betriebsratsarbeit lässt sich kaum organisieren. Lediglich in 3,5 Prozent aller betriebsratsfähigen Betriebe besteht eine solche Vertretung. Ein wirksamer Schutz auf der Grundlage von Tarifverträgen ist daher praktisch nur durch Allgemeinverbindlicherklärungen erreichbar. Da für Briefdienstleistungen spätestens ab 2011 der EU-Binnenmarkt vollständig geöffnet sein wird, will die Bundesregierung das Arbeitnehmerentsendegesetz um diese Branche erweitern. So würde ein tarifgestützter Mindestlohn möglich.

  • Noch ist der Postmarkt im größten Teil Europas nicht vollständig liberalisiert. Zur Grafik

Prof. Dr. Thomas Dieterich ist ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht und war Präsident des Bundesarbeitsgerichts

Weitere Informationen zum Thema beim Projekt PIQUE, einer international vergleichenden Studie des WSI zusammen mit europäischen Partnern, unter anderem zur Liberalisierung von Postdienstleistungen

Mehr zu tarifgestützten Mindestlöhnen:  Mindestlohn: Lösungsweg Entsendegesetz, in: Böckler Impuls 14/2007.

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