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Was gegen Tarifflucht hilft Böckler Impuls

Löhne: Was gegen Tarifflucht hilft

Ausgabe 18/2023

Tarifverträge sichern Arbeitsplätze und Wohlstand. Doch immer weniger Beschäftigte werden nach Tarif bezahlt. Die Bundesregierung muss schnell Maßnahmen ergreifen, um das zu ändern.

Nur noch knapp die Hälfte aller Beschäftigten in Deutschland arbeitet in tarifgebundenen Betrieben. Um den Abwärtstrend zu stoppen, muss die Bundesregierung gemeinsam mit den Tarifvertragsparteien gegensteuern. Dazu verpflichtet sie die Europäische Mindestlohnrichtlinie. Auch wenn die Richtlinie noch nicht in deutsches Recht umgesetzt ist, kann die Politik schon jetzt mit ersten Maßnahmen beginnen. Das hat der WSI-Tarifexperte Thorsten Schulten in einer Stellungnahme für den Bundestag deutlich gemacht.

Die Tarifbindung in Deutschland ist seit Mitte der 1990er-Jahre kontinuierlich zurückgegangen. Waren 1998 noch 73 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Tarifvertrag beschäftigt, betrug der Anteil 2022 nur noch 51 Prozent. Von den Betrieben waren nur noch 26 Prozent tarifgebunden. Je größer ein Betrieb ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er einen Tarifvertrag anwendet. Von den Kleinstbetrieben mit weniger als zehn Beschäftigten tut dies nur knapp ein Fünftel. Allerdings gibt es inzwischen auch immer mehr größere Unternehmen, die sich der Tarifbindung entziehen. Prominenteste Beispiele sind der Online-Händler Amazon oder der Autohersteller Tesla. Auch der Impfstoffhersteller Biontech hat in seinem Mainzer Stammwerk bislang alle Aufforderungen zur Aufnahme von Tarifverhandlungen zurückgewiesen.

Im europäischen Vergleich liegt Deutschland nur im Mittelfeld: Vor allem die west- und nordeuropäischen Nachbarländer weisen meist eine deutlich höhere Tarifbindung auf. Wie verbreitet Tarifverträge sind, hängt von vielen länderspezifischen Eigenheiten ab. Anders als in vielen anderen EU-Staaten wird die Tarifbindung in Deutschland von der Politik bisher kaum aktiv gefördert.

Auch auf europäischer Ebene gab es lange Zeit keine Unterstützung. Im Gegenteil: Für Brüssel stand jahrzehntelang die Liberalisierung der Märkte im Vordergrund. Inzwischen hat die EU jedoch erkannt, wie wichtig ein funktionierendes Tarifsystem nicht nur für die Beschäftigten selbst, sondern auch für Wohlstand und Wachstum in Europa ist. Im Oktober 2022 hat die EU-Kommission eine Richtlinie verabschiedet, die neben der Durchsetzung angemessener Mindestlöhne auch eine grundlegende Stärkung der Tarifbindung vorsieht. Alle EU-Mitgliedstaaten, in denen weniger als 80 Prozent der Beschäftigten durch Tarifverträge geschützt sind, werden verpflichtet, konkrete Aktionspläne zur Erhöhung der Tarifbindung zu entwickeln. Bis zum 15. November 2024 muss die Bundesregierung alle erforderlichen Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie in Deutschland getroffen haben. „Die Europäische Mindestlohnrichtlinie markiert im Hinblick auf die europäische Arbeits- und Sozialpolitik einen grundlegenden Paradigmenwechsel“, schreibt Schulten. Es liege nun an der Bundesregierung, die Initiative zu ergreifen und einen Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen vorzulegen. Diese Maßnahmen sind dem WSI-Experten zufolge denkbar und sinnvoll:

1. Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung: Ein wesentliches Instrument ist in vielen EU-Staaten die umfassende Nutzung der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE). Sie bewirkt, dass die von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ausgehandelten Regelungen auch für alle nicht tarifgebundenen Betriebe der jeweiligen Branche gelten. In Deutschland wird dieses Instrument allerdings nur in wenigen Branchen genutzt, unter anderem aufgrund von Widerständen auf der Arbeitgeberseite. Derzeit gibt es weitreichende Möglichkeiten, eine AVE zu verhindern. Eine Reform des Tarifvertragsgesetzes könnte hier Abhilfe schaffen. Die erleichterte Durchsetzung der AVE wäre „insgesamt das wichtigste und weitreichendste Instrument zur Stärkung des Tarifvertragssystems, da es ganze Branchen wieder in die Tarifbindung zurückholen könnte“, so Schulten.

2. Tariftreuevorgaben bei öffentlichen Aufträgen: Im Wettbewerb um öffentliche Aufträge spielen die Arbeitskosten eine wichtige Rolle. Da tarifgebundene Unternehmen in der Regel höhere Löhne zahlen, haben sie hier oft einen erheblichen Nachteil. Tariftreuevorgaben können dies ausgleichen. Sie sorgen dafür, dass öffentliche Aufträge nur an Unternehmen gehen, die nach Tarif bezahlen. Ohne einen solchen Ausgleich besteht die Gefahr, dass öffentliche Vergabeverfahren indirekt sogar Anreize zur Tarifflucht setzen.

3. Verbot von OT-Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden: Seit den 2000er-Jahren haben Arbeitgeberverbände vermehrt sogenannte OT-Mitgliedschaften (OT = ohne Tarifbindung) eingeführt, wodurch Mitgliedsunternehmen nicht mehr automatisch an den jeweiligen Verbandstarifvertrag gebunden sind. Damit haben sie faktisch einen „offiziellen Weg der Tarifflucht“ geschaffen und zur Erosion der Tarifbindung beigetragen. OT-Mitgliedschaften sollten eingeschränkt oder ganz verboten werden.

4. Stärkung der Nachwirkung von Tarifverträgen: Die Ausgliederung von Unternehmensbereichen in eigene Tochtergesellschaften war in den letzten beiden Jahrzehnten sowohl in der Privatwirtschaft als auch im öffentlichen Dienst eine weit verbreitete Strategie zur Umgehung von Tarifverträgen. Um dem einen Riegel vorzuschieben, sollte die sogenannte Nachbindung von Tarifverträgen deutlich ausgeweitet und insbesondere auch auf neu eingestellte Beschäftigte ausgedehnt werden. Darüber hinaus sollten öffentliche Einrichtungen und Unternehmen an die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes gebunden sein, die Anwendung von Billigtarifen oder gar eine fehlende Tarifbindung sollte generell untersagt werden.

5. Ausdehnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes: Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz ermöglicht die Festlegung von Mindeststandards für Arbeitsbedingungen in bestimmten Branchen und wird zum Beispiel im Baugewerbe angewandt. Es enthält jedoch unnötige Einschränkungen. So können nur die untersten drei Lohngruppen für allgemeinverbindlich erklärt werden, nicht aber die gesamte Lohntabelle. Außerdem sind regionale Tarifverträge bisher ausgenommen. Die Ausdehnung auf die regionale Ebene ist umso wichtiger, als die überwiegende Mehrzahl der Branchentarifverträge in Deutschland nicht auf nationaler, sondern auf regionaler Ebene abgeschlossen wird.

Darüber hinaus sind weitere Maßnahmen denkbar, die sich mehr oder weniger direkt auf die Tarifbindung auswirken können, wie zum Beispiel die Stärkung gewerkschaftlicher Rechte im Betrieb oder die Ausdehnung von Tarifverhandlungen auf bisher nicht erfasste Beschäftigtengruppen, etwa in kirchlichen Einrichtungen. „Die Bundesregierung hat nun die Chance, die verschiedenen Maßnahmen in eine Gesamtstrategie zur Stärkung der Tarifbindung in Deutschland einzubetten“, erklärt Schulten. Sie kann damit „bereits jetzt beginnen, und muss nicht erst bis zur formalen Umsetzung der Europäischen Mindestlohnrichtlinie in deutsches Recht warten“.

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