Quelle: HBS
Böckler Impuls20 Jahre SE: Nichts zu feiern
Die Einführung der Europäischen Aktiengesellschaft vor 20 Jahren hat der Mitbestimmung massiv geschadet. Ein aktuelles Urteil des Europäischen Gerichtshofs verschärft das Problem.
Seit 20 Jahren gibt es in Deutschland die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft (SE). Für die Mitbestimmung ist sie zu einem großen und weiter wachsenden Problem geworden, wie eine Analyse von Felix Gieseke vom I.M.U. zeigt. 84 Prozent der aktiven deutschen SE mit mehr als 2000 Beschäftigten im Inland haben keinen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat, wie er für Aktiengesellschaften (AG) gleicher Größe nach deutschem Recht zwingend vorgeschrieben ist. In absoluten Zahlen sind das 103 große SE, die sich zum Stichtag der Untersuchung Ende 2022 der paritätischen Mitbestimmung entzogen haben – 17 mehr als noch zwei Jahre zuvor.
„20 Jahre SE in Deutschland sind leider kein Grund zum Feiern, sondern zur Sorge. Und das nicht nur aus Beschäftigtensicht. Denn wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass im Aufsichtsrat mitbestimmte Unternehmen sozial nachhaltiger und wirtschaftlich erfolgreicher sind und besser durch Wirtschaftskrisen oder Umbruchphasen kommen. Arbeitgeber, die Mitbestimmung sabotieren, schwächen damit also auch den Wirtschaftsstandort“, sagt Daniel Hay, wissenschaftlicher Direktor des I.M.U.
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Anders als in der deutschen AG oder GmbH, wo die Mitbestimmungsgesetze ab 501 beziehungsweise 2001 inländischen Beschäftigten ein Drittel beziehungsweise die Hälfte der Sitze im Aufsichtsrat für die Arbeitnehmerseite vorsehen, gelten in der SE zwei Grundsätze: Die Mitbestimmung ist Verhandlungssache zwischen Unternehmensleitung und Beschäftigten. Und: Der bei Gründung der SE festgelegte Mitbestimmungsstatus bleibt im Zweifel für immer erhalten. Wachsende Unternehmen, die die Mitbestimmung dauerhaft vermeiden wollen, können sich in eine SE umwandeln, wenn sie sich bei der Beschäftigtenzahl den entsprechenden „Schwellenwerten“ nähern. Geschieht dies bei Unternehmen deutscher Rechtsform mit bis zu 500 Beschäftigten, das heißt zu einem Zeitpunkt, zu dem auch dort noch kein Anspruch auf Mitbestimmung im Aufsichtsrat besteht, kann dieser Zustand dauerhaft festgeschrieben werden, unabhängig davon, wie groß das Unternehmen später wird. Unternehmen mit bis zu 2000 Beschäftigten können auf diese Weise die paritätische Mitbestimmung vermeiden. Dies wird in Fachkreisen auch als „Einfrieren“ bezeichnet.
Diese Möglichkeit haben 103 SE-Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten in Deutschland ausgenutzt, wobei 68 von ihnen als SE firmieren und weitere 35 die verwandte, aber eigenständige Rechtsform einer SE & Co. KG verwenden. Darunter befinden sich mit Zalando und Vonovia sogar zwei Mitglieder des Dax. Hinzu kommen zahlreiche große und bekannte Firmen wie Tesla Deutschland, Biontech, die Alloheim-Senioren-Residenzen, Sixt-Autovermietung, die Schön-Kliniken, der Werkzeughersteller Festo, Deichmann, der Mischkonzern Freudenberg oder Kötter-Personaldienstleistungen. Ende 2022 wurden in den 103 Unternehmen laut I.M.U. mindestens 480 000 Beschäftigte um die paritätischen Mitbestimmungsrechte gebracht, die ihnen bei deutscher Rechtsform zustehen würden.
Ein aktuelles, höchst umstrittenes Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) könnte es Unternehmenseignern künftig noch leichter machen, Mitbestimmungsrechte über die SE auszuhebeln. Bislang galt: Wird ein großes Unternehmen deutscher Rechtsform in eine SE umgewandelt, bleibt der einmal erreichte Mitbestimmungsstatus weitgehend erhalten. Mit der neuen Rechtsprechung im Fall Olympus macht es der EuGH nun aber sogar möglich, die bestehende Mitbestimmung an der Konzernspitze auszuhebeln. Die Luxemburger Richterinnen und Richter haben in ihrer Entscheidung allerdings auch darauf hingewiesen, dass die EU-Mitgliedstaaten die Pflicht und auch den Spielraum haben, gesetzgeberisch zu verhindern, dass die SE dazu missbraucht wird, Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten.
Das Expertenteam des I.M.U. warnt vor gravierenden Folgen und fordert den Gesetzgeber auf, diese und weitere Lücken zu schließen: „Die grassierende Mitbestimmungsvermeidung zusammen mit der Entscheidung und dem impliziten rechtspolitischen Fingerzeig des EuGH muss ein Anlass sein, die enormen Schwächen in der SE-Gesetzgebung zu beheben. Die nächste Bundesregierung sollte das als Teil einer Initiative tun, die soziale Marktwirtschaft wieder zu stärken, indem sie Mitbestimmungsrechte unabhängig von Unternehmensrechtsformen verankert“, sagt I.M.U.-Direktor Hay.
Felix Gieseke: Mitbestimmungsvermeidung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) – 5 von 6 großen SEs vermeiden paritätische Mitbestimmung, I.M.U. Mitbestimmungsreport Nr. 82, November 2024