Weltwirtschaft: Der Weg zum Techno-Nationalismus
Wie geht es weiter mit der Globalisierung? Forschende sehen kritische Entwicklungen: zunehmende wirtschaftliche und militärische Konkurrenz zwischen Staaten, wachsende Macht weniger Konzerne, weniger Chancen für Ärmere und für demokratische Mitgestaltung.
Die Vision einer Welt, die immer weiter zusammenwächst, liegt in Scherben. In Europa tobt wieder Krieg, Spannungen zwischen den USA und China bestimmen die weltwirtschaftliche Entwicklung. Dem globalen Süden droht eine neue Schuldenkrise. Gleichzeitig führen technologische Entwicklungen, Stichwort KI, zu Umbrüchen auf allen Ebenen von Wirtschaft und Gesellschaft. Doch auch die Globalisierung nach bekanntem Muster – verbunden mit Druck auf Löhne wie Sozialstandards – geht weiter. Und schließlich: Die Klimakrise verschärft sich von Jahr zu Jahr. Eine Schwerpunktausgabe der WSI-Mitteilungen beleuchtet verschiedene Aspekte dieser Gemengelage. Einige Erkenntnisse:
Wie KI die Machtverhältnisse verschiebt
Hypes kommen und gehen. Wer spricht noch von der Industrie 4.0? Manche technische Entwicklung wird als Revolution angekündigt und geht dann so langsam vonstatten, dass Nichtfachleute kaum noch Notiz davon nehmen. Doch es gibt auch den anderen Fall. Die Veröffentlichung von ChatGPT war ein Paukenschlag oder ein „iPhone-Moment“, wie es Florian Butollo von der Universität Frankfurt ausdrückt. Damit hat der Run auf eine Universaltechnologie begonnen, die in Kürze in allen möglichen Lebensbereichen unerlässlich sein könnte – und sich in der Arbeitswelt bereits rasend schnell ausgebreitet hat. Dabei geht es nicht nur um maschinell verfasste Sportberichte, schnellere Internetrecherchen oder selbstfahrende Autos. Es geht auch um die Bewältigung riesiger Datenmengen bei der militärischen Aufklärung und autonome Waffensysteme. Neben der wirtschaftlichen Bedeutung ein Grund dafür, dass „alle führenden Wirtschaftsräume explizite KI-Strategien veröffentlicht“ haben, so Butollo. Der Handelskrieg zwischen den USA und China, die beide die Technologieführerschaft bei KI erreichen wollen, werde aktuell im Wesentlichen durch Beschränkungen im Bereich der Hochtechnologie ausgetragen. Andere Länder oder Wirtschaftsräume bemühen sich zumindest, ihre Abhängigkeit von ausländischen Anbietern zu reduzieren. Der Forscher beobachtet eine „Verschiebung vom Techno-Globalismus zu einem Techno-Nationalismus“.
Aber warum entsteht dabei eine Konkurrenz, als ginge es um alles oder nichts? Das liegt an den Besonderheiten der Internet-Ökonomie. Zwar sind es immer mal wieder kleinere Unternehmen, die den Fortschritt beflügeln, doch die Kräfte, die auf die Entstehung monopolartiger Strukturen hinwirken, sind hier so stark wie in keinem anderen Wirtschaftssektor. Die großen Plattformbetreiber – etwa der Google-Konzern Alphabet, Meta, Amazon, Microsoft oder Baidu, Alibaba, Tencent und Huawei aus China – fungieren „als Drehkreuz der Distribution und Entwicklung“ und haben das Heft in der Hand. Nur sie können liefern, was für die Weiterentwicklung von KI existenziell ist: ungeheure Datenmengen und Rechenkapazitäten. Der Großteil der Entwicklungsländer bleibe bei all dem weitgehend außen vor, so Butollo.
Klimaschutz tritt in den Hintergrund
Die wachsende Vormachtstellung von Big Tech, in den USA im engen Schulterschluss mit der Trump-Regierung, verändert Gesellschaften auch jenseits der geopolitischen Dimension. Wohin sich die KI entwickelt, hängt laut dem Forscher von den Auseinandersetzungen in den Führungskreisen privater Organisationen ab, bei denen demokratische Institutionen weder Einfluss noch Einblick haben. Inwieweit sich das Gemeinwohl gegen die Profitorientierung durchsetzen kann, ist fraglich. Die Gefahren sind vielfältig: wirtschaftliche Abhängigkeit, zahlreiche Manipulationsmöglichkeiten, die sich den Herrschern über die Wissensbestände bieten, und nicht zuletzt ist KI auch eine ökologische Herausforderung. So erforderte beispielsweise das Training von ChatGPT 4 das 50-fache der Energiemenge, die bei Version 3 nötig war.
Doch ökologische Fragen treten derzeit in den Hintergrund, konstatiert die Politikwissenschaftlerin Simone Claar. Aktuell sei kaum erkennbar, dass die internationale Gemeinschaft den Kampf gegen den Klimawandel als gemeinsame Aufgabe begreift. Aufgrund der weltpolitischen Lage wird es schwieriger, gemeinsame Projekte durchzusetzen. Geopolitische Interessen einzelner Staaten dominieren und bestehende Ungleichheiten verstärken sich. Kriege und andere Konflikte verschärfen die Naturzerstörung. Die Bereitschaft der reichen Länder, die notwendige Unterstützung für eine sozial-ökologische Transformation zu leisten, ist gering.
Auch in anderen Sektoren schreitet die Konzentration wirtschaftlicher Macht voran. Oft zulasten der Arbeitnehmerrechte. Das beschreibt Ismail Doğa Karatepe von der Universität Muğla in der Türkei am Beispiel der Beschäftigung an den Knotenpunkten des globalen Güterhandels: in der Hafenwirtschaft. Hier zeige sich, welche Ausweichstrategien Großkonzerne finden, „wo der Abbau von Schutzrechten der Beschäftigten auf den Widerstand gut organisierter und konfliktbereiter Belegschaften stößt“.
Eine neue Schuldenkrise
Die Ausbeutung des sogenannten Globalen Südens geht auch auf einer anderen Ebene weiter: „Vor unseren Augen spielt sich die schlimmste Schuldenkrise der Nachkriegszeit ab. Die sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Kosten sind dramatisch“, schreibt die Politikwissenschaftlerin Frauke Banse von der Universität Kassel. Viele Entwicklungsländer können ihre Schulden nur noch mit Notkrediten des Internationalen Währungsfonds bedienen. Andere Staaten und internationale Investoren nutzen dies aus, indem sie sich geopolitisch beziehungsweise geoökonomisch neu aufstellen oder hohe Renditen aus dem Schuldendienst erzielen.
Insgesamt konstatieren Simone Claar und Christoph Scherrer, die diese Schwerpunktausgabe der WSI-Mitteilungen koordiniert haben, „dass geopolitisches Denken die erforderliche globale Zusammenarbeit zur Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen behindert“. Die Verschärfung der Standortkonkurrenz schwäche zudem den Zusammenhalt der Beschäftigten, der für eine gerechte Lastenverteilung auf dem Weg zu einer planetenverträglichen Produktions- und Konsumweise notwendig ist. Kluge Gegenstrategien seien gefragt.
Ungleichheit verschärft die Klimakrise
Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen der Menschheit. Um diese zu bewältigen, müssen alle an einem Strang ziehen. Gefragt sind globale Lösungsansätze, die mit Blick auf lokale Gegebenheiten umgesetzt werden und sowohl ökologische Nachhaltigkeit als auch soziale Gerechtigkeit berücksichtigen. Nötig wäre „eine neue Weltwirtschaftsordnung, die die globalen Ungleichheiten überwindet“, erklärt die Politikwissenschaftlerin Simone Claar.
Neu ist diese Einsicht nicht: Bereits die im Jahr 1974 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete Erklärung über eine „Neue Internationale Wirtschaftsordnung“ zielte darauf ab, die ungleiche Verteilung von Reichtum zu korrigieren und den Entwicklungsländern ein gleiches Mitspracherecht in der globalen politischen und ökonomischen Architektur zu gewährleisten. Zwar spielte die Klimapolitik in den Plänen für eine alternative Wirtschaftsordnung kaum eine Rolle, im Hinblick auf die Energiepolitik gab es jedoch bereits das Ziel, die Staaten des Globalen Südens mithilfe von Solar- und Windenergie unabhängiger von fossilen Energieträgern wie Öl und Gas zu machen. Um dies zu erreichen, sind – damals wie heute – Investitionen in erneuerbare Energien und klimaschonende Technologien sowie finanzielle Unterstützung notwendig.
In der Entwicklungsfinanzierung setzt man heute verstärkt auf die Kapitalmärkte und private Investoren. Dieser Prozess wird als Finanzialisierung bezeichnet. Dazu gehören Finanzierungsinstrumente wie strukturierte Fonds oder Anleihen sowie internationale Abkommen, die private und öffentliche Geldgeber zusammenbringen. Ein Beispiel ist die „Just Energy Transition Partnership“ für eine Energiewende. Dabei geht es vor allem darum, die Risiken für private Investoren zu minimieren – und sie stattdessen auf die Empfängerländer zu übertragen. Die wirtschaftlichen und sozialen Implikationen werden dabei jedoch oft vernachlässigt. Dabei wären gerade jetzt neue Lösungen gefragt, die „unabhängig von nationalen oder Profitinteressen“ sind, so die Forscherin.
Arbeit im Hafen
In Häfen, den „Engpässen der globalen Lieferketten“, so der Politikwissenschaftler Ismail Doğa Karatepe, haben sich häufig ganz besondere Arbeitsregime herausgebildet. Die Arbeit ist schwer, fällt unregelmäßig an – nämlich dann, wenn ein Schiff ankommt – und muss schnell gehen, weil manche Waren verderblich sind und jeder Tag im Hafen die Reeder Geld kostet. Das Risiko, zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht genügend Personal zu finden, wäre für die Schiffseigner hoch, während Arbeitende ihre Einkünfte nicht zuverlässig voraussehen können. Die historische Lösung: Es haben sich unterschiedliche Formen von Beschäftigtenpools herausgebildet, die dafür sorgen, dass stets genügend Leute verfügbar sind und im Gegenzug eine feste Anstellung bei vergleichsweise guten Arbeits- und Entlohnungsbedingungen bekommen. Das Poolsystem sorgte lange Zeit für die Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten und unterband Lohndumping. Doch der zunehmenden Marktmacht schnell wachsender Logistikkonzerne haben die Häfen immer weniger entgegenzusetzen. So legen viele Schiffe nicht mehr in Antwerpen an, sondern in Vlissingen, wo die Hafenbeschäftigten schlechter organisiert sind. In Hamburg verlagern sich Teile der Logistikarbeit aus dem Kerngebiet des Hafens in die Peripherie. Die Gelegenheitsarbeit, meist ausgeführt von Migrantinnen und Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten, ist zurück. Dies werfe „Fragen nach der gesellschaftlichen Verantwortung für kritische Infrastruktur auf“, so Karatepe.
Schulden schaffen Abhängigkeiten
Viele Länder des Globalen Südens sind hoch verschuldet. Andere Staaten nutzen dies aus, indem sie die Kredite als geopolitisches Instrument einsetzen. China ist zwar inzwischen der größte bilaterale Geberstaat. Eine oft unterschätzte Rolle spielen jedoch unter anderem internationale Investoren, die über westliche Staaten rechtlich abgesichert sind. Eine Lösung der Schuldenkrise sei nur möglich, wenn wir ihre Ursachen verstehen, so die Politikwissenschaftlerin Frauke Banse.
Während die sogenannten Entwicklungsländer sich in den 1980er-Jahren vor allem bei Geschäftsbanken und öffentlichen Organisationen verschuldeten, sind heute private Anleiheinvestoren die größte Gläubigergruppe. Die Liberalisierung der Finanzsysteme und der Investitionsregeln schuf hierfür die zentralen Voraussetzungen. Auch die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur lockte privates Kapital an. Dieses ist inzwischen so verstreut investiert, dass der tatsächliche Schuldenstand in vielen Ländern noch weit höher sein dürfte als bekannt. Aufgrund ihrer starken ökonomischen Relevanz haben die Investoren großen Einfluss. Dieser führt zur weiteren Öffnung von Märkten und zur Förderung von Rohstoffexporten. Die Folge ist, dass die heimische Produktion zurückgedrängt wird und wirtschaftliche Abhängigkeiten zunehmen. Während Rohstoffe ausgebeutet und außer Landes verkauft werden, müssen gleichzeitig immer mehr Güter und Technologien importiert werden. Dies trifft insbesondere auf Afrika zu, wo der Anteil von Rohstoffen am Export in vielen Ländern mehr als 90 Prozent beträgt. Nach Ansicht der Wissenschaftlerin liegen die Ursachen der Schuldenkrise vor allem in der historisch bedingten ökonomischen Struktur der betroffenen Gesellschaften. Diese mache sie anfällig für die Einflussnahme von Staaten und Investoren aus dem Westen, dem Osten oder „aus welcher Himmelsrichtung auch immer“.
Newsletter abonnieren
Alle 14 Tage Böckler Impuls mit Analysen rund um die Themen Arbeit, Wirtschaft und Soziales im Postfach: HIER anmelden!
WSI-Mitteilungen 3/2025, Juni 2025