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HBS Böckler Impuls

Beschäftigung: Demografischer Wandel ist beherrschbar

Ausgabe 09/2018

Die Alterung der Gesellschaft wird Deutschland verändern. Durch eine gute Arbeitsmarktpolitik lassen sich die Herausforderungen jedoch bewältigen.

Die deutsche Gesellschaft altert. Die ökonomischen Folgen sind aber beherrschbar. Das betrifft auch die sozialen Sicherungssysteme wie die Rentenversicherung. Der Schlüssel dazu liegt in einer besseren Erwerbsintegration: Vor allem die Erwerbstätigenquoten von Frauen und Migranten müssten steigen. Wenn Deutschland bis 2050 eine Erwerbsbeteiligung erreicht, wie Schweden sie bereits heute hat, wäre der weitaus größte Teil des „demografischen Problems“ gelöst. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie von IMK, WSI und der Arbeiterkammer Wien (AK Wien). 

Prognosen zum demografischen Wandel und seinen Folgen für die Alterssicherung zeichnen oft „Katastrophenszenarien“, konstatieren die Forscher. Sie schreiben vermeintlich stabile demografische Trends über Jahrzehnte fort, obwohl es signifikante Änderungen gibt. Vor allem setzen sie auf ungeeignete Indikatoren, so IMK, WSI und AK Wien. Tatsächlich werde, anders als oft dargestellt, das für die Lastenverteilung wichtige Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und Leistungsempfängern nicht nur durch den „Altenquotienten“ – die Zahl der Alten im Verhältnis zur Zahl der Jungen – bestimmt. Mindestens ebenso wichtig sei der ökonomische Status der Menschen: Wer ist wirtschaftlich von wem abhängig? Dazu komme, dass viele Einschätzungen auf Arbeitsmarktdaten beruhen, in denen die aktuelle Erwerbstätigkeit über- und Arbeitslosigkeit unterschätzt wird. Ausgeblendet werde damit, dass in Deutschland trotz deutlich gesunkener Arbeitslosigkeit heute und in der Zukunft noch erhebliche Beschäftigungspotenziale brachliegen. Würden diese Potenziale ins Blickfeld gerückt, werde deutlich, dass dem Arbeitsmarkt die „Schlüsselrolle“ für eine „sozial und ökonomisch sinnvolle Bewältigung des demografischen Wandels“ zukommt. 

Demografische Trends sind nicht in Stein gemeißelt 

Die in der Rentendiskussion weit verbreiteten Altenquotienten setzen die Zahl der Einwohner in unterschiedlichen Altersgruppen in Beziehung zueinander und erwecken oft den Eindruck, die Entwicklung stehe über die nächsten Jahrzehnte schon fest. IMK, WSI und AK Wien weisen jedoch darauf hin, dass es bei den Prognosen zum Altenquotienten für Deutschland in kurzer Zeit eine bemerkenswerte Revision gegeben hat: Noch 2014 ging Eurostat davon aus, dass sich in der Bundesrepublik der Anteil der über 65-Jährigen im Verhältnis zu den 15- bis 64-Jährigen bis 2060 um 86 Prozent erhöhen werde. In der aktuellen Prognose von 2017 rechnen die EU-Statistiker, unter anderem wegen der stärkeren Zuwanderung, nun mit deutlich niedrigeren Zahlen: Der Anteil erhöht sich demnach um 73 Prozent.

Die Aussagekraft des Altenquotienten ist begrenzt 

Viel wichtiger als der geringere Anstieg des Altenquotienten ist nach Analyse der Forscher aber ein anderer Punkt. Solche Quotienten könnten zwar Veränderungen der Altersstruktur beschreiben, sagten aber wenig über die ökonomisch entscheidende Frage aus: Wie viele Erwerbstätige, die ins Sozialsystem einzahlen und Steuern entrichten, stehen wie vielen Transferleistungsbeziehern gegenüber? Denn auch von den Menschen im erwerbsfähigen Alter benötigt ein erheblicher Teil Transferleistungen – etwa Arbeitslose oder Unterbeschäftigte. 

Mithilfe eines Belastungsrechners, den die AK Wien entwickelt hat, kalkulieren die Wissenschaftler eine „ökonomische Abhängigkeitsquote“, die ein realitätsnäheres Bild zeigt. Dazu ermitteln sie aus Daten der Bundesagentur für Arbeit jene Personen, die arbeitssuchend oder nur marginal erwerbstätig sind und daher nur ein minimales Arbeitseinkommen erzielen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Arbeitslose, inklusive der Personen, die in der Statistik als „unterbeschäftigt im engeren Sinne“ geführt werden, etwa weil sie an Maßnahmen zur Weiterbildung teilnehmen oder unter die Sonderregelungen für Ältere fallen. Außerdem werden aus der Zahl der Erwerbstätigen diejenigen herausgerechnet, die ausschließlich als Minijobber arbeiten. Die so errechnete Erwerbstätigenquote ist deutlich niedriger als die Quote laut Eurostat. Insbesondere bei Frauen, die besonders oft nur Minijobs haben, ist die Differenz groß: ihre aktuelle Erwerbsbeteiligung sinkt um 11 Prozentpunkte auf nur noch knapp 58 Prozent.

  • Bei realistischen Annahmen erscheinen erscheinen die Zusatzbelastungen, die auf die sozialen Sicherungssysteme zukommen, deutlich geringer als in den verbreiteten Horrorszenarien. Zur Grafik
  • Wird berücksichtigt, dass viele nur relativ wenige Stunden in der Woche arbeiten, fällt die Erwerbsquote geringer aus - und das Steigerungspotenzial entsprechend höher. Grafik als CSV herunterladen Zur Grafik

Damit stehen den erwerbstätigen Personen unter 65 Jahren einerseits schon heute deutlich mehr zu versorgende Rentner und Beschäftigungslose gegenüber, als es die üblichen Betrachtungen auf Basis des Altenquotienten suggerieren. Andererseits steigt aber im Zeitverlauf das zahlenmäßige Verhältnis zwischen diesen beiden Gruppen deutlich schwächer an als der Altenquotient. Auf Basis der Annahmen des EU-Ageing-Reports 2015 ergibt sich eine Zunahme des Anteils der Rentner und Beschäftigungslosen gegenüber den Erwerbstätigen um 51 Prozent bis 2060 – und dabei ist sogar noch die „pessimistische“ und überholte Eurostat-Bevölkerungsprognose von 2014 zugrunde gelegt. 

Der Arbeitskräftepool ist längst nicht ausgeschöpft

Ihre realistischere Rechnung macht den Forschern zufolge deutlich, dass auf dem deutschen Arbeitsmarkt trotz sinkender Arbeitslosigkeit weiterhin eine erhebliche Unterbeschäftigung besteht. Vor allem Frauen und Migranten, aber auch Ältere, sind im internationalen Vergleich relativ schwach in den Arbeitsmarkt integriert. Berücksichtigt man die Arbeitszeit, lag Deutschland bei der Erwerbstätigenquote 2013/2014 EU-weit lediglich auf dem elften Platz. Dieser Rückstand illustriere das große Beschäftigungspotenzial. Es besser zu nutzen, sei eine Chance, den demografischen Wandel auf dem Arbeitsmarkt abzufedern, betonen die Autoren der Studie. Wie groß der Effekt sein kann, berechnen sie unter der Annahme, dass Deutschland bis 2050 die von Schweden, bei der Erwerbstätigkeit derzeit Platz zwei in der EU, bereits heute realisierte Erwerbsquote erreicht. Zudem unterstellen die Ökonomen in ihrer Modellrechnung, dass die Unterbeschäftigungsquote über die nächsten drei Jahrzehnte schrittweise auf vier Prozent sinkt – was durch Investitionen in Ausbildung, bessere Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie und mehr alternsgerechte Arbeitsplätze zu erreichen wäre. 

Ergebnis: Legt man die pessimistische Eurostat-Bevölkerungsprognose von 2014 zugrunde, steigt die ökonomische Abhängigkeitsquote bis 2060 um 18 Prozent. Rechnet man mit der „optimistischeren“ Variante der Bevölkerungsschätzung von 2017, sind es sogar nur 10 Prozent. Diese Zahlen erscheinen längst nicht so bedrohlich wie die häufig zitierte 86-prozentige Steigerung des Altenquotienten, der sich im selben Zeitraum nach der pessimistischen EU-Prognose ergibt. In den Worten von IMK-Direktor Gustav Horn: „Der demografische Wandel ist keine Monsterwelle, die auf den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland zurollt. Es ist vielmehr ein durchaus zu bewältigender Seegang, der unsere Sozialsysteme und insbesondere das Rentensystem nicht zum Kentern bringen wird – vor allem nicht, wenn mit einer expansiven Wachstums- und Beschäftigungspolitik gegengesteuert wird.“

Erik Türk, Florian Blank, Camille Logeay, Josef Wöss, Rudolf Zwiener: Den demografischen Wandel bewältigen: Die Schlüsselrolle des Arbeitsmarkts (pdf), IMK Report 137, April 2018. 

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