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HBS Böckler Impuls

China: Arbeitsbeziehungen im Umbruch

Ausgabe 03/2014

China ist auf seinem Weg zur Marktwirtschaft weit fortgeschritten. Die Möglichkeiten der Beschäftigten, ihre Interessen durchzusetzen, sind dabei auf der Strecke geblieben. Doch es regen sich Proteste – auch als Folge der Wirtschaftskrise.

In China existieren die unterschiedlichsten Unternehmensformen nebeneinander: vom bürokratischen Staatskonzern bis zum extrem flexiblen, nach US-Vorbild organisierten Global Player; vom High-Tech-Industriepark bis zum Sweatshop mit vorsintflutlichen Produktionsanlagen. Gemeinsam ist allen diesen Unternehmen das Fehlen kollektiv ausgehandelter Arbeits- und Entlohnungsstandards. Wo überhaupt Gewerkschaften vorhanden sind, beschränken sie sich oft auf ihre traditionelle Rolle als betriebliche Co-Manager. In den vergangenen Jahren kam es jedoch zunehmend zu Streiks und Protesten von Arbeitern, die ihre Interessen von den staatsnahen Gewerkschaften nicht hinreichend vertreten sahen. Bei manchen Arbeitskonflikten, wie der Streikwelle in der Autozulieferindustrie in Südchina 2010, wurden auch Forderungen laut, die sich nicht nur auf die Ebene des Einzelbetriebs beziehen. „Damit ist zum ersten Mal in breiterer Form die Frage nach kollektivvertraglichen Lohnstandards ‚von unten‘ gestellt“, schreibt Boy Lüthje vom Frankfurter Institut für Sozialforschung. Der Soziologe und Gastprofessor an der Sun Yat-Sen Universität in Guangzhou hat mit weiteren Wissenschaftlern im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung die Arbeitsbeziehungen in China untersucht. Die Forscher beschreiben eine stark fragmentierte Wirtschaft, in der es dem Staat nicht mehr gelingt, mittels eines von oben verordneten Korporatismus für „harmonische Arbeitsbeziehungen“ zu sorgen.

Vor Chinas Abkehr von der reinen Staatswirtschaft und seiner Hinwendung zum Weltmarkt galten für Industriebeschäftigte eine Reihe sozialer Garantien: sichere Arbeitsplätze und Einkommen, Sozialversicherung und Betriebswohnung – zusammengefasst unter der Bezeichnung „die eiserne Reisschüssel“. Heute haben sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer ebenso ausdifferenziert wie die „Produktionsregimes“. Anhand von 30 „Flagschiffen“ der chinesischen Industrie haben die Forscher eine Typologie betrieblicher Arbeitsbeziehungen entwickelt:

Staatsbürokratische Unternehmen beschäftigen typischerweise mittel bis hoch qualifizierte Arbeitnehmer. Die Basislöhne sind eher gering, durch betriebliche Zulagen verdoppelt sich dieses Einkommen jedoch oft. Gewerkschaften spielen eine wichtige Rolle als Management-Partner, es gibt jedoch nur wenige kollektivvertragliche Regulierungen.

Bürokratische Großunternehmen mit ausländischer Beteiligung sind meistens Joint Ventures, in denen der Staat zwar großen Einfluss besitzt, in denen Produktionstechnologie, Management-, Entlohnungs- und Anreizsysteme aber internationalen Standards entsprechen. Diese Unternehmen zahlen oft die höchsten Löhne und Sozialleistungen, geregelte Arbeitszeiten und Weiterbildungsangebote sind üblich. Die Rolle der Gewerkschaften ist ähnlich wie bei den staatsbürokratischen Unternehmen.

Multinationale High-Performer sind Unternehmen, in denen von der Belegschaft eine besondere Leistungsorientierung und Flexibilität verlangt werden – US-amerikanische Managementmethoden stehen hier Pate. Die Basislöhne sind relativ niedrig, Boni und Überstundenzulagen spielen eine große Rolle. Die Gewerkschaften sind schwach. Der Staat nimmt vor allem indirekt Einfluss, etwa durch Auftragsvergabe oder die Einbindung in Programme zur Technologienetwicklung.

Flexible Massenproduzenten arbeiten technologisch auf internationalem Niveau. Ihr Produktionsmodell beruht jedoch „auf der Ausbeutung niedrig bezahlter ländlicher Arbeitskraft in großem Maßstab“. Extrem lange, oft gesetzeswidrige Arbeitszeiten sind üblich, eine Bezahlung oberhalb des Mindestlohns ist selten. Staat und Gewerkschaften haben kaum Einfluss.

Klassische Niedriglohnproduktion ähnelt der flexiblen Massenproduktion, was die Arbeitsbedingungen betrifft. Allerdings findet sie oft in technisch schlecht ausgerüsteten Betrieben statt. Staatliche Regulierung greift kaum. Für den Export produzierende Firmen genießen aber oft besondere Steuervorteile.

Diese Vielfalt von Organisationsformen in den Kernindustrien „verstärkt die Schwierigkeiten, gesellschaftlich akzeptierte Arbeitsstandards zu etablieren“, schreibt Lüthje. Die „Kräfte des kapitalistischen Marktes“ hätten keineswegs zu einer Vereinheitlichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen geführt, was eine kollektive Interessenvertretung der Arbeitnehmer erschwert. Stattdessen kommt es immer wieder zu spontanen und oft militanten Arbeitskämpfen in einzelnen Betrieben – ohne Beteiligung der Gewerkschaften. Zudem ist die Zahl der Klagen vor Arbeitsgerichten in der jüngeren Vergangenheit stark gestiegen.

Lüthje spricht von einem „Tripartismus mit vier Parteien“: Das traditionelle System der Arbeitsbeziehungen, in dem Betriebsleitung, Staat und Gewerkschaften Arbeitsbedingungen aushandeln, vermag die – von der Weltwirtschaftskrise verschärften – Konflikte nicht mehr zu lösen. Als vierte Kraft treten nun die Beschäftigten selbst auf den Plan. Nachdem in den Boomjahren von 2003 bis 2008 vor allem in den „klassischen Niedriglohnbetrieben“ gestreikt und protestiert wurde, haben die Arbeitskämpfe seit 2010 zunehmend modernere Unternehmen erfasst. Dabei ging es nicht nur um Lohnerhöhungen, sondern auch um die Angleichung der Löhne zwischen verschiedenen Betrieben.

Zudem berichtet Lüthje von Präzedenzfällen, meistens in der Industrieprovinz Guangdong in Südchina, in denen sich die Gewerkschaft auf die Seite der Streikenden gestellt hatte und nunmehr die Schaffung frei gewählter betrieblicher Gewerkschaftsvertretungen vorantreibe. Ob sich hier der Beginn einer von Staat und Arbeitgebern unabhängigen Gewerkschaftsbewegung andeutet, bleibe abzuwarten. Seit Amtsantritt der neuen chinesischen Staatsführung um Xi Jinping und Li Keqiang habe sich in Sachen Reform der Arbeitsbeziehungen kaum etwas getan. In aktuellen programmatischen Schriften der neuen Regierung vom November 2013 werde das Thema nicht einmal erwähnt.

„Dennoch haben sich die sozialen Konfliktpotenziale keineswegs entspannt“, wie Siqi Luo, Professorin an der Sun Yat-Sen Universität, urteilt. Im südchinesischen Perlflussdelta, der wichtigsten Exportregion Chinas, habe die Zahl der Arbeitskämpfe im Jahr 2013 wieder deutlich zugenommen. Und unter dem Druck anhaltender sozialer Spannungen wagten einige Provinzregierungen eigenständige Schritte nach vorn. So veröffentlichte das Arbeitsministerium der Provinz Guangdong jüngst einen Richtlinienentwurf für ein umfassendes System von betrieblichen und branchenweiten Tarifverhandlungen auf Grundlage eigenständiger Gewerkschaften und demokratischer Gewerkschaftswahlen.

„Auch wenn Arbeitskämpfen ein enges Korsett angelegt wird – dem deutschen Arbeitsrecht übrigens nicht ganz unähnlich –, verdienen diese Ansätze die Unterstützung der internationalen Gewerkschaftsbewegung und der Betriebsräte in China präsenter deutscher Unternehmen“, findet Lüthje.

  • Das Sozialprodukt steigt noch immer mit Wirtschaftwunder-Raten. Zur Grafik
  • Zumindest in industriellen Zentren nimmt das Lohnniveau stetig zu. Zur Grafik
  • Niedrige Staatsverschuldung, hohe Devisenreserven. Zur Grafik

Boy Lüthje, Siqi Luo, Hao Zhang: Beyond the Iron Rice Bowl – Regimes of Production and Industrial Relations in China, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2013

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