Chancengleichheit: Kein Aufstieg Ost
In Spitzenpositionen sind Ostdeutsche immer noch seltener vertreten. Von alleine wird es sich nicht ändern. Von Fabienne Melzer
In seinem privaten Umfeld überraschte Ernesto Klengel die meisten mit der Wahl seines Studienfachs. Wer, wie er, eine für die DDR typische Schule mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt besucht hatte, wählte nach dem Abitur meist ein Ingenieursstudium. Klengel entschied sich für Jura. „In ostdeutschen Familien gab es nicht diese Tradition von Juristen, und mit dem neuen Rechtssystem hatte noch niemand Berührung“, erinnert sich Klengel, der das Hugo Sinzheimer Institut (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung leitet. „Jura, dachten viele, ist doch nur Gelaber.“
Eine Entscheidung, die der Wissenschaftler Lars Vogel Ostdeutschen zumindest im Hinblick auf Karrierechancen öfter empfehlen würde. Vogel forscht an der Universität Leipzig zu Eliten und der Frage, warum Ostdeutsche in Führungs- und Elitepositionen 35 Jahre nach der Einheit noch immer unterrepräsentiert sind. „Wer in Elitepositionen aufgestiegen ist, hat in der Regel Berufe ergriffen, in denen er Menschen leitet, strategische Entscheidungen trifft und Budgetverantwortung hat“, sagt Vogel. „Ein Jurastudium führt öfter dorthin als das Studium des Maschinenbaus.“
In der Justiz ist der Rückstand der Ostdeutschen besonders groß. Hier betrug ihr Anteil an Elitepositionen 2024 lediglich 2,4 Prozent. Schlechter sah es nur bei den 100 größten Unternehmen in Deutschland und beim Militär aus. In beiden Sektoren fand sich kein Ostdeutscher in einer Spitzenposition. Doch auch in der Wissenschaft, der Kultur und den Medien liegen die Anteile weit hinter dem Bevölkerungsanteil der Menschen aus der ehemaligen DDR. Lediglich in der Politik entspricht der Anteil von gut 21 Prozent in etwa dem Anteil der Bevölkerung.
Angefangen hat alles, da sind sich die meisten einig, nach der Wende. Da im Osten neue Strukturen aufgebaut werden mussten, wurden Führungspositionen mit Westdeutschen besetzt. Das wirkt auch 35 Jahre später noch nach. So schieden zwar zwischen 2018 und 2023 knapp 60 Prozent der Spitzenkräfte aus, der Anteil Ostdeutscher erhöhte sich aber im gleichen Zeitraum nur leicht.
„Meist entscheiden Führungskräfte über ihre Nachfolge, und sie ziehen in der Regel Menschen nach, die ihnen selbst ähnlich sind“, sagt Vogel. Feine Unterschiede können entscheidend sein, etwa, wo man studiert hat. „Bei Heidelberg kommen Westdeutsche schneller mit einem Bewerber etwa über die besten Studentenkneipen ins Gespräch, als wenn jemand in Murmansk studiert hat“, sagt Vogel.
Nun haben bei der Vergabe von Spitzenpositionen nicht nur Ostdeutsche das Nachsehen. Auch Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund oder aus Familien mit geringem Einkommen steigen deutlich seltener auf. Ein Teil der Benachteiligung, räumt Vogel ein, ist schichtspezifisch. Aber das erkläre nicht alles. „Selbst wenn Ostdeutsche das richtige Fach an der richtigen Uni studiert haben, steigen sie seltener auf“, sagt Vogel. Das gelte auch für jene Gruppe, die in den 1990er Jahren in den Westen gegangen ist. Einfluss auf Karrierechancen habe auch die Vergabe von Stipendien. „Zwei bis drei Prozent aller Studierenden erhalten ein Stipendium“, sagt Vogel, „unter den Eliten wurde aber ein Viertel gefördert.“ Meist forderten Begabtenförderwerke zivilgesellschaftliches Engagement, dafür biete der Osten aber schlicht viel weniger Möglichkeiten.
Das hatte die Hans-Böckler-Stiftung schon 1990 erkannt und das Aufnahmeverfahren zunächst für Menschen aus dem Osten geändert. Wurden Stipendiatinnen und Stipendiaten im Westen von Gewerkschaften vorgeschlagen, konnten sich im Osten Menschen bewerben, die sich gesellschaftlich, vor allem in der Bürgerbewegung, engagiert hatten. Ralf Richter, der die Abteilung Studienförderung der Stiftung heute leitet, findet es sehr weitsichtig, wie die Verantwortlichen der Stiftung damals gehandelt haben. So richtete die Geschäftsführung in der Studienförderung ein neues Referat Ost ein und stellte als dessen Leiter Wolfgang Nitsche ein, der selbst aus der Bürgerbewegung der DDR kam.
Dank seiner DDR-Kenntnisse wusste Nitsche, wem er vertrauen konnte, und baute Kontakte in den neuen Bundesländern auf. Die ersten Studierenden aus dem Osten nahm die Stiftung bereits am 1. Oktober 1990 in die Förderung auf. Viele dieser Alumni tragen heute in der Gesellschaft Verantwortung.
Selbst wenn Ostdeutsche das richtige Fach an der richtigen Uni studiert haben, steigen sie seltener auf.“
Zu den Geförderten in den 1990er Jahren gehörte auch Kathrin Mahler Walther aus Leipzig. Schon früh hatte sie sich in Friedens- und Umweltgruppen engagiert. Sie bereitete die Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 mit vor und ermöglichte Fotografen der Ostberliner Umweltbibliothek an diesem Tag den Zugang zum Kirchturm der Reformierten Kirche in Leipzig. Heute ist sie Geschäftsführerin der EAF Berlin, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für Demokratie und Chancengleichheit einsetzt, und engagiert sich als Zeitzeugin der Friedlichen Revolution.
Das Stipendium half ihr in mehrfacher Hinsicht. „Das war eine unheimlich wichtige Anerkennung meines politischen Engagements, die es nach der Wende in der DDR sonst nicht gab. Bei der Volkskammerwahl 1990 landeten die Bürgerbewegungen bei knapp über fünf Prozent“, erinnert sich Mahler Walther. Ihre persönliche Entwicklung verdanke sie auch dem Stipendium. Das Seminarangebot der Stiftung half ihr, in dem neuen Land anzukommen, in dem sie seit 1990 lebte. Aus ihrer Sicht hätte es mehr solcher Angebote geben müssen: „Man hat sich ganz viel um die wirtschaftliche Transformation gekümmert, aber das Ankommen in der Demokratie wurde sehr vernachlässigt.“
Sie selbst nennt sich heute „gesamtdeutsch“ und findet dennoch, dass es einen Unterschied mache, ob eine Führungskraft einen ostdeutschen Hintergrund habe. Ein Hindernis für Aufstiegskarrieren sieht sie unter anderem in der Wirtschaftsstruktur: „Kein einziger DAX-Konzern hat in Ostdeutschland seine Zentrale.“ Karrieren in der freien Wirtschaft begännen oft mit einem Praktikum. „Wenn ich dafür schon das Bundesland wechseln muss, ist das eine Hürde, die Westdeutsche nicht haben“, sagt Mahler Walther. Auch bei Hochschulen spielt die Elitenmusik im Westen: „40 Prozent der Wirtschaftseliten haben an zehn Universitäten studiert, und die liegen alle in Westdeutschland“, sagt der Leipziger Wissenschaftler Vogel.
Einen anderen Unterschied stellt HSI-Direktor Ernesto Klengel fest. Er lebt seit einigen Jahren in einer Kleinstadt in der Nähe von Frankfurt am Main. Von der Größe sei der Ort mit seiner alten Heimatstadt Riesa vergleichbar, aber die Vereinskultur sei eine ganz andere. „In Riesa gibt es auch Vereine“, sagt Klengel, „aber hier im Westen gibt es mehr, und sie sind enger mit der Lokalpolitik verbunden.“
Eine lebendige Zivilgesellschaft findet auch die Soziologin Mahler Walther wichtig. Für Karrieren brauche es das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Menschen in Führungspositionen wollen etwas bewegen. „Dazu muss ich mich ausprobieren und zum Beispiel im Ehrenamt erleben, dass ich andere anleiten kann“, sagt Mahler Walther. In Ostdeutschland seien Vereine deutlich kleiner und hätten weniger Ressourcen. Da brauche es viel mehr Förderung.
Selbstwirksamkeit erprobte Ernesto Klengel als Schülersprecher während seiner Schulzeit in Riesa. „Ich habe gegen die politische Lethargie angekämpft, die damals viele im Osten befallen hatte, und gegen die immer stärker werdende Naziszene.“ Auch Jura studierte er, um etwas zu bewegen. Dass viele Menschen im Osten mit den Institutionen der Demokratie fremdeln, führt er auch auf den geringen Anteil von Ostdeutschen in Spitzenpositionen vor allem im Osten zurück.
Lars Vogel von der Uni Leipzig erklärt es so: „Die Leute fühlen sich nicht in gleicher Weise zugehörig zum politischen System, wenn sie merken, Angehörige ihrer Gruppe spielen da keine Rolle.“ Daraus entstehe das Gefühl des Bürgers zweiter Klasse. Das sei wiederum mit ein Grund, antidemokratische Parteien zu wählen. Die Unterrepräsentation einer Gruppe sei grundsätzlich ein Problem für die Demokratie und ihr Gleichheitsversprechen. Die Gesellschaft verschenke aber auch Potenzial. „Egal ob Ostdeutsche, Frauen oder Migranten – jede Gruppe hat einen anderen Blick, und wenn der nicht berücksichtigt wird, könnten wir ineffiziente Entscheidungen treffen“, sagt Vogel.
Wie bereichernd unterschiedliche Erfahrungen sind, erlebt Ralf Richter von der Hans-Böckler-Stiftung in seiner Abteilung. Er wuchs selbst in der ehemaligen DDR auf. „Und ich bin nicht der einzige Ostdeutsche in der Abteilung“, sagt Richter. Der Sprung über Nacht von einem System ins andere 1990 sei eine enorme Leistung gewesen. Die Erfahrung helfe ihnen etwa bei der Betreuung Geflüchteter. „Was Geflüchtete heute erleben, haben auch Ostdeutsche teilweise erlebt. Man ist nicht immer mit offenen Armen empfangen worden“, sagt Richter.
Damit sich 35 Jahre nach der Einheit in den Elitepositionen etwas bewegt, plädiert der Politikwissenschaftler Lars Vogel für Sensibilisierung, denn 55 Prozent der westdeutschen Eliten glauben, dass sich das Problem von selbst erledigen werde. In einem ist sich Vogel aber sicher: „Wenn man glaubt, dass sich etwas von alleine löst, wird es sich garantiert nicht ändern.“