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Magazin Mitbestimmung

Rumänien und Bulgarien: Fortschrittsoptimismus ade

Ausgabe 10/2012

Nach dem EU-Beitritt 2007 überfluteten Investoren die Wirtschaft von Rumänien und Bulgarien mit Kapital. Doch seit die Wirtschaftskrise kam, geht nichts mehr. Die Politiker setzen auf eine wirtschaftsliberale Agenda und schafften wesentliche Arbeitnehmerrechte ab. Von Silviu Mihai

Bogdan Hossu sitzt in seinem Gewerkschaftsbüro mitten im Bukarester Zentrum, wenige Meter vom Cotroceni-Palast, dem Sitz des Staatspräsidenten. „Der Kurs hin zu einem Wohlstandsstaat nach westeuropäischem Muster schien zwar nicht einfach, aber unausweichlich“, sagt der Mann mit dem gepflegten Bart. Doch dieser Unausweichlichkeit ist sich heute der Gewerkschaftsvorsitzende von Alfa, einer der größten unabhängigen Arbeitnehmerorganisationen in Rumänien, die mehr als eine Million Menschen in Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst organisiert, nicht mehr sicher. „Kurz nach der Wende, als die alten staatssozialistischen Unternehmen kollabierten und wir auf dem harten Weg lernten, uns als Arbeitnehmer unter den neuen kapitalistischen Bedingungen zu organisieren, hatten wir nie den Optimismus verloren“, sagt Hossu. Das ist heute anders.

Den Rumänen ist nun klar, dass die Wirtschaftskrise andauern wird: Was Ende 2009 unerwartet aus dem Westen kam, wurde zunächst eher als eine Art Zwischenfall betrachtet. Doch dann sah sich das Land – unter der damaligen rechtsliberalen Regierung von Ministerpräsident Emil Boc – plötzlich mit einer massiven Kapitalflucht konfrontiert. Trotz einer Flat-Steuer von nur 16 Prozent auf alle Einkommen und Profite nahmen auf einmal weder österreichische Banken noch französische Handelsketten die Standortvorteile wahr.

Auf dem anderen Donauufer, in Bulgarien, ist die Situation ähnlich. Die bulgarische Wirtschaft hat sich bis heute vom Schock der Wirtschaftskrise kaum erholt. „Die optimistische Grundeinstellung, dass die osteuropäischen Länder eher früher als später die gewaltigen Wohlstandsunterschiede zu Westeuropa nachholen, ist nach 20 Jahren verloren gegangen“, sagt Wesselin Mitow von Podkrepa, dem zweitgrößten Gewerkschaftsverband im Land.

VIELE KREDITE PLATZEN

Bulgarien und Rumänien erlebten kurz nach dem EU-Beitritt vor gut fünf Jahren, wie westeuropäische Investoren die Wirtschaft mit Kapital überfluteten. Der Zugang zu EU-Geldern aus den Regional- und Strukturfonds versprach die rasche Lösung alter Infrastrukturprobleme. In beiden Ländern konnten endlich moderne Autobahnen und Flughäfen gebaut werden, Eisenbahnstrecken, Schulen und Krankenhäuser wurden modernisiert, zahlreiche Windenergieprojekte entwickelt und viele alte Plattenbauten energetisch saniert. Eine Arbeitsproduktivität, die jährlich um zehn Prozent stieg, ließ Regierungen und Arbeitgebern genug Spielraum für eine sehr deutliche Steigerung der realen Einkommen. In den meisten Haushalten wurden die veralteten Haushaltsgeräte und Möbel aussortiert. Europa war in den Küchen und Wohnzimmern angekommen. Doch auf einmal wurde die Turboentwicklung hart abgebremst. Die Konsum- und Immobilienblase platzte. Die westeuropäischen Kreditinstitute und Hypermarktketten, von der Wiener Ersten Bank über Société Générale bis zu Carrefour, Kaufland, Penny Market und Praktiker, die jahrelang ihre Kunden mit „unwiderstehlichen Angeboten“ lockten, mussten auf einmal mit Verlusten rechnen. Schuldner, die zuvor Kredite erhalten hatten, allein wenn sie ihren Personalausweis vorzeigten, konnten diese nicht mehr abzahlen. Und nachdem sich die Krise im Wirtschaftspartner- und Nachbarland Griechenland verschärfte, ahnten die Regierungen in Rumänien und Bulgarien Schlimmstes. „Doch die einzige Antwort war in beiden Ländern: noch mehr Neoliberalismus“, stellt der Politologe Daniel Barbu von der Bukarester Universität fest.

Tatsächlich hat in Rumänien die rechtsliberale Regierungsmehrheit seit 2010 drastische Sparmaßnahmen durchgesetzt, die in keinem westeuropäischen Land vorstellbar wären – bisher auch nicht in Griechenland oder Spanien. So wurden sämtliche Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor um 25 Prozent gekürzt, etliche Sozialleistungen gestrichen, Krankenhäuser und Schulen geschlossen oder zusammengelegt, Zehntausende Beamte und Angestellte entlassen und gleichzeitig die Mehrwertsteuer von 19 auf 24 Prozent erhöht – was alles verteuert. Außerdem sind nach einer umfassenden Reform des Arbeitsrechts die Arbeitgeber und der Staat nicht mehr verpflichtet, landesweite Tarifverträge mit den Gewerkschaften abzuschließen. Gleichzeitig wurden die formalen Bedingungen für die Repräsentativität einer Arbeitnehmerorganisation verschärft, sodass einige von ihnen heute nicht mehr als offizielle Sozialpartner zählen.

WER QUALIFIZIERT IST, GEHT

„Wir haben versucht, zu verhindern, dass die Politiker die Wirtschaftskrise nutzen, um eine marktradikale Agenda durchzusetzen“, sagt Gewerkschafter Bogdan Hossu. Zwar gelang es, den gewerkschaftlichen Protest im Januar 2012 auszuweiten, als bei extrem winterlichen Temperaturen Tausende wochenlang auf dem Bukarester Universitätsplatz gegen die Sparmaßnahmen protestierten. Die Regierung musste zurücktreten, und die Popularität der rechtsliberalen Koalition sank so rasant, dass sie im April auseinanderfiel. Seit Mai regieren in Rumänien die Sozialdemokraten, doch bisher ist kein wesentlicher Kurswechsel zu erkennen. Die strengen Auflagen eines älteren Abkommens mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EU werden nach wie vor eingehalten, „aus Angst vor Herabstufungen durch Ratingagenturen und vor spekulativen Angriffen, die das Land in die Zahlungsunfähigkeit treiben könnten“, erklärt Politologe Barbu.

In Bulgarien, wo die Sparmaßnahmen weniger drastisch waren, bleibt die rechtsliberale Regierung bis heute im Amt. Ministerpräsident Bojko Borissow und sein Finanzminister Simeon Djankow, die Musterschüller in der Eurokrise, dozieren in Interviews über die Vorteile ihrer Steuerdumpingpolitik. Obwohl der Zehn-Prozent-Flat-Steuersatz der niedrigste in der EU ist, hält sich das Land derzeit über Wasser und erfüllt die Maastricht-Verschuldungskriterien. Die Kehrseite der Medaille: Die Menschen können von den Gehältern, die der Staat zahlt, nicht leben, immer mehr qualifizierte Arbeitskräfte wie Ärzte und Pflegepersonal verlassen Bulgarien.

„Gleichzeitig werden aber in der Privatwirtschaft entgegen der Rhetorik der Regierung keine neuen Arbeitsplätze geschaffen“, stellt Wesselin Mitow vom Gewerkschaftsverband Podkrepa fest. Im Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit verdoppelte sich in den letzten vier Jahren auf zwölf Prozent, mehr als 400 000 Stellen fielen den Sparmaßnahmen und der Krise zum Opfer. Die Zukunftsperspektiven sehen, ähnlich wie in Rumänien, düster aus. Gefangen in der simplen Haushaltsarithmetik der von der EU verlangten Schuldenbremse kann der Staat nur selten Ressourcen für neue Investitionen identifizieren und so die dramatischen Auswirkungen der Kapitalflucht mindern.

2007 bis 2013 stehen Bulgarien rund sieben Milliarden Euro an EU-Geldern zur Verfügung, davon zwei Milliarden allein für Verkehrs- und Infrastrukturprojekte wie die lang erwartete zweite U-Bahn-Linie in Sofia. Bis heute wurde lediglich ein Viertel der Gesamtsumme abgerufen, obwohl die Behörden in den letzten Monaten bemüht waren, mehr Geld abzurufen, um Kürzungen in der nächsten EU-Haushaltsperiode zu vermeiden. Noch dramatischer ist die Situation in Rumänien: Von den rund 20 Milliarden Euro aus Brüssel wurden bisher nur 15 Prozent ausgegeben. Damit ist Bukarest Schlusslicht unter den mittelosteuropäischen Hauptstädten.

Dass Bulgarien und vor allem Rumänien nur wenig EU-Geld aus den Regional- und Strukturfonds abrufen, lässt sich auch dadurch erklären, dass beide Regierungen schlicht nicht über die nötigen Selbstbeteiligungsbeträge verfügen. Diese stellen im Durchschnitt rund 17 Prozent des gesamten Projektwerts und fast 3,5 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts dar. Entsprechend wenig entwickelt ist der öffentliche Sektor in beiden Ländern. Gegenüber einer Politik, die meint, dass Deregulierung alle Probleme löst und auf Sozialdarwinismus und Standortwettbewerb setzt, konnten Gewerkschaften und linke Parteien in Rumänien und Bulgarien kaum etwas ausrichten. „Es ist mittlerweile lächerlich, zu glauben, dass kleine offene Länder wie Rumänien oder Bulgarien diese Probleme auf Nationalebene sinnvoll diskutieren können. Was wir brauchen, ist eine EU-weite Grundlage für Sozialrechte“, lautet der Hilferuf des Politologen Daniel Barbu.

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