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Mit Pausenaktionen, wie hier bei VAG in Mannheim gegen Stellenabbau, spricht die IG Metall Beschäftigte an Magazin Mitbestimmung

Zukunft der Gewerkschaft: "Nicht reden, machen"

Ausgabe 06/2019

Die IG Metall will sich verändern, um auch in Zukunft stark zu bleiben. Dazu hat sie auf ihrem Gewerkschaftstag im Oktober das Projekt „IG Metall vom Betrieb aus denken“ beschlossen. Metallerinnen und Metaller im Osten und Westen probieren schon mal aus, wie das aussehen könnte. Von Fabienne Melzer – Fotos Helmut Roos; Wolfram Scheible, Stephan Pramme

Als General Electric vor eineinhalb Jahren die Turbinenfabrik in Mannheim schloss, sah Klaus Stein, Geschäftsführer der örtlichen IG Metall, zwei Möglichkeiten: „Wir können jammern oder nach vorne schauen.“ Stein hat sich für Variante zwei entschieden. In der ohnehin gebeutelten Region traf die Schließung die Menschen hart. Doch den Kopf in den Sand stecken ist nicht seine Art, und so steckte er sich Anfang 2019 lieber Ziele: „Wir wollten bestimmen, wo es langgeht, und wieder stark werden.“ Ende August waren in der Region um Mannheim mehr Menschen in die IG Metall eingetreten als im gesamten Jahr zuvor. Und bevor jemand fragt: Klaus Stein hat keinen Zaubertrank.

Rund 600 Kilometer weiter, am östlichen Ende Deutschlands, liegt Bautzen. Der Spreewald ist nah, ebenso die Oberlausitzer Heide- und Teichlandschaft, aber auch das Braunkohlerevier und Kraftwerke, die Schwarze Pumpe heißen. Als Jan Otto 2015 die Geschäftsstelle Ostsachsen der IG Metall übernahm, spielte die Gewerkschaft rund um Bautzen kaum eine Rolle, die Zahl der Mitglieder dümpelte vor sich hin. Der neue Geschäftsführer wollte weg vom Niedriglohn-image der Region. Er machte „Ostsachsen ist Zukunft“ zum Slogan der Geschäftsstelle. 

Jan Otto, in Ostberlin geboren, war acht, als die Mauer fiel. Er fand die Wende toll. Nur eins hat er nie verstanden: „Warum die Menschen aufgehört haben, zu kämpfen, als die Versprechungen sich nicht erfüllten.“ Er kämpft weiter gegen das Image des ostdeutschen Jammerers, gegen Tariflosigkeit und für eine starke IG Metall. Als er 2015 gewählt wurde, kündigte er an: 2020 soll die Zahl der Mitglieder in Ostsachsen 10 000 betragen. Im Herbst 2019 hat er sein Ziel erreicht. Auch Otto sagt: „Wir haben keinen Zaubertrank.“

In seinem Büro in Frankfurt, zwischen Mannheim und Bautzen, sucht Klaus Abel beim Vorstand der IG Metall nach einer Formel, mit der die Gewerkschaft durchsetzungsstark bleibt. Der Gewerkschaftstag beschloss im Oktober das Projekt „IG Metall vom Betrieb aus denken“, und Abel treibt es voran. „Ich weiß“, winkt er ab, „ jetzt sagen viele: Was haben wir denn bisher gemacht? Die IG Metall von oben gedacht?“ Abel weiß, dass es nicht so ist, er hat bis vor Kurzem die Geschäftsstelle Berlin geleitet. Aber er weiß auch, dass sich die IG Metall ändern muss. „Erreichen wir mit unserem Netz aus Vertrauensleuten noch alle im Betrieb? Sind Betriebsversammlungen und Antragsberatungen noch die richtigen Formen, um Menschen zu beteiligen?“, fragt Abel. 

Klaus Stein hat diese Fragen für sich mit Nein beantwortet. Mannheim ist noch immer von der Industrie geprägt, und oberflächlich funktionieren die klassischen Instrumente. Aber die Stärke bröckelt, unmerklich. Unternehmen verlagern ihre Produktion ins Ausland, dafür wächst die Zahl der Beschäftigten in Vertrieb und Verwaltung. „Wir spüren seit Jahren, dass es von Tarifrunde zu Tarifrunde immer mehr Kraft kostet, Leute zu mobilisieren“, sagt Stein. „Wir schließen eine gute Betriebsvereinbarung ab und kassieren in vielen Fällen dafür Prügel.“ 

Die Mannheimer wollten das ändern. Unterstützung fanden sie beim IG-Metall-Bezirk Baden-Württemberg und dem Gemeinsamen Erschließungsprojekt (GEP). 2015 hatte die Bezirksleitung 20 Erschließungssekretäre eingestellt. Sie gingen in ausgewählte Betriebe, führten Eins-zu-eins-Gespräche und probierten neue Formen von Betriebsversammlungen aus, die nicht als Frontalunterricht daherkamen. Nach Erfolgen in einzelnen Betrieben wollte Andreas Flach, Projektleiter beim Bezirk, GEP auf eine neue Stufe heben. Die Idee: statt Beteiligung in den Betrieben zu organisieren die Geschäftsstelle zur Beteiligungszentrale zu machen. 

Klaus Stein und sein Team machten mit. Sie luden alle Betriebe der Region zu einem dreitägigen Workshop ein. 16 kamen und entwickelten gemeinsam eine Jahresplanung. „Zwar unterscheiden sich die Probleme von Betrieb zu Betrieb. Oft lassen sie sich aber mit ein und derselben Methode lösen“, sagt Flach. Das Projekt sollte für die Geschäftsstelle nicht zusätzliche Arbeit bedeuten. Es sollte Kräfte bündeln. 

Effizienter werden bei gleichbleibenden Ressourcen, das ist auch ein Ziel, das die Gewerkschaft mit dem Projekt „IG Metall vom Betrieb aus denken“ organisationsweit anstrebt. Vertrauensleute, Betriebsräte, hauptamtliche Metaller, die vor Ort für die Arbeit in den Betrieben zuständig sind, sollen dort Projekte vorantreiben. Für den Ersten Vorsitzenden der IG Metall, Jörg Hofmann, lautet die Frage: „Wie können wir die Transformation im Interesse der Beschäftigten gestalten?“ Der Ansatz, die IG Metall vom Betrieb aus zu denken, soll dazu Ideen liefern. „Wenn wir dabei erkennen, dass für eine erfolgreiche Arbeit andere Strukturen, Kompetenzen und Ressourcen erforderlich sind, müssen wir das diskutieren und solidarische Lösungen entwickeln“, sagt Hofmann.

Fast schon ein Selbstläufer

Auch Jan Otto wollte die Arbeit erfolgreicher machen. Für mehr als 4000 Beschäftigte handelte das Team in Ostsachsen Tarifverträge aus. Allein in den letzten zwei Jahren waren sie Geburtshelfer für 20 Betriebsräte. Mussten sie anfangs noch in Einzelgesprächen Mitglieder überzeugen, läuft es inzwischen von selbst. „Allein in dieser Woche haben Kollegen aus drei Betrieben angerufen, die einen Betriebsrat gründen wollen“, erzählt Otto.

Das Geheimrezept? Christian Schulze, Betriebsratsvorsitzender von Accumotive in Kamenz, fasst es so zusammen: „Nicht reden, machen.“ Bei der 100-prozentigen Daimler-Tochter haben die beiden viel gemacht. Im November 2017 kam Schulze zur IG Metall in Bautzen. Er hatte genug von der Bezahlung nach Nase, von Zehn-Stunden-Tagen und anderen Ungerechtigkeiten. Der Betriebsrat wollte einen Tarifvertrag. Zwölf Mitglieder zählte die IG Metall damals in dem Großunternehmen. Die Aufgabe schien unmöglich. Das machte sie für Otto interessant: „Hier steht ein Zukunftswerk. Wenn das die Zukunft ist, na danke.“ Knapp zwei Jahre später ist Accumotive Mitglied im Arbeitgeberverband und auf dem Weg zum Flächentarifvertrag.

Im Betriebsratsbüro hängt ein Plakat mit Hunderten Gesichtern. Als sich die Auseinandersetzung zuspitzte, rief die IG Metall die Beschäftigten von Accumotive auf, Gesicht zu zeigen für den Tarifvertrag. Sie taten es, ließen sich für das Plakat fotografieren. „Keiner wird die Verhältnisse für uns verändern. Das müssen wir selbst tun“, sagt Otto. „Das mussten wir den Leuten aber erst mal klarmachen.“

Er beteiligt, er macht seine Arbeit transparent. „Anfragen von Journalisten beantworte ich immer“, sagt Otto. Ähnlich Klaus Stein in Mannheim. Wenn es in Mannheim in einem Betrieb brennt, rufen Journalisten bei ihm an, selbst wenn er gar nicht zuständig ist. „Tut mir leid, da müssen Sie bei den Kollegen von ver.di anrufen“, sagt Stein. Eine halbe Stunde später der nächste Anruf. Diesmal verweist er an die IG Bau.

Informieren, fragen, beteiligen sind seine wichtigsten Instrumente. „Wir machen öffentlich, was wir verhandeln, und fragen: Wollt ihr das?“ Wer alles transparent macht, kann in Verhandlungen weniger taktieren. Vielleicht kostet es ihn manchmal ein Zehntel Prozent. Aber das ist es ihm wert. „Dafür sind die Beschäftigten viel zufriedener mit den Ergebnissen.“

Die Stellvertreterpolitik funktioniert aus Sicht von Klaus Stein nicht mehr. Die IG Metall müsse den Menschen nicht sagen, wie es funktioniert, sondern sie fragen, was sie wollen. Dafür müsse sie ihnen aber sagen, wofür sie steht. „Wir brauchen nicht den betriebswirtschaftlichen Blick in einer Auseinandersetzung. Wir schauen über den einzelnen Betrieb hinaus“, sagt Stein. „Wir stehen für gute Arbeit und gutes Leben. Das handeln wir in jedem Konflikt aus.“

Jan Otto, 600 Kilometer weiter im Osten, sieht es genauso. „Wir müssen uns Ziele setzen, und wir müssen Dinge zu Ende bringen.“ Bei Birkenstock brauchte die IG Metall drei Anläufe, bis ein Betriebsrat gewählt wurde. „Ich hätte es noch dreimal gemacht“, sagt Otto. Er holte Beschäftigungs- und Standortgarantien heraus und setzte sich dafür ein, dass das Recycling der Batterien in die Region kam. Ein Tarifvertrag, eine Standortsicherung, ein Sozialplan – die Arbeit der IG Metall ist für die Menschen schnell spürbar. „Deshalb vertrauen sie uns“, sagt Otto.

Nah bei den Menschen

Auf der Suche nach der Formel für die IG Metall der Zukunft hat Klaus Abel vom Vorstand in Frankfurt auch die Kollegen in Ostsachsen und Mannheim gefragt. „Die Arbeit in so unterschiedlichen Regionen zeigt, dass wir Kraft gewinnen und gestalten können, wenn wir nah bei den Menschen sind. Nur so können wir aus technischem Fortschritt einen sozialen Fortschritt für die Menschen machen.“

Im Osten und Westen krempeln Metaller ihre Arbeit um und vernachlässigen dabei noch nicht mal sich selbst. Klaus Stein nimmt sich Zeit für seine erwachsenen Söhne, spielt Schlagzeug in zwei Bands. Jan Otto hat zwei kleine Kinder und übernimmt zu Hause auch, wenn die Kinder krank sind. Sie sind schließlich der Grund, warum er das alles tut: „Wenn meine Tochter mich in zehn Jahren fragt, was sie am besten machen soll, möchte ich ihr gerne sagen können: Am besten du bleibst hier.“ 

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