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Magazin Mitbestimmung

Erwerbstätigkeit: Im Unruhestand

Ausgabe 01+02/2014

In Deutschland arbeiten immer mehr Rentner. Sie schätzen die sozialen Kontakte und die Möglichkeit, sich weiter einzubringen. Meist ist das wichtiger als das Geld. Von Andreas Kraft

Ruhestand? Das ist nichts für Reinhard Claves. Jeden Morgen macht der 67-Jährige beim Zähneputzen rund 100 Kniebeugen. Dann geht es zur Arbeit. Die Uhr zeigt halb sechs. In den nächsten zwei Stunden kümmert er sich bei einem großen Supermarkt um den Wareneingang und die Retouren des Brot- und Brötchenlieferanten. Mit dem frühen Aufstehen hat er kein Problem: „Ich bin gern früh auf den Beinen.“

Claves ist das gewohnt. Er ist gelernter Konditor. Aber 17 Jahre lang war er auch Lehrer – an den Beruflichen Schulen des Kreises Wesel in Dinslaken. Heute geht er dort wieder zur Schule. Jeden Montag, Dienstag und Mittwoch unterrichtet er Fünft- und Sechstklässler an der Sekundarschule in Sport. „Wenn die Schüler mich zum ersten Mal sehen“, sagt er, „dann fragen sie, was so ein alter Sack wie ich ihnen denn beibringen kann. Aber sie merken dann schnell, wie fit ich noch bin.“

Der Sport hat Claves ein Leben lang begleitet. Er war Leichtathlet, Fußballer, Bergsteiger, Handballer, bis heute spielt er mit ehemaligen Kollegen regelmäßig Volleyball. „Im Verein macht man da irgendwann einen Übungsleiterschein“, sagt er über seine Karriere als ehrenamtlicher Trainer. Heute stockt er seine Rente mit den Sportkursen auf, neben den Schülern unterrichtet er auch Senioren und gibt an der Volkshochschule einen Fitnesskurs für Männer.

IMMER MEHR ÄLTERE ARBEITEN Claves ist damit nicht allein. Immer mehr Rentner verdienen sich etwas dazu. Die Beschäftigungsquote der über 65-Jährigen hat sich in den vergangenen 20 Jahren nahezu verdoppelt. Das Institut für Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen (IAQ) untersucht daher derzeit in einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Projekt, warum Ältere trotz Rente weiterarbeiten. Die Relevanz dieser Frage ist klar: Die Rente ist eine soziale Errungenschaft. Müssten jetzt immer mehr Ältere trotzdem arbeiten, um sich ihren Lebensunterhalt zu sichern, wäre das ein gewaltiger Umbruch. Der Sozialstaat geriete möglicherweise in Gefahr.

Derzeit kann davon noch nicht die Rede sein. Das zeigen auch erste Untersuchungen im Rahmen des Projekts. Mit quantitativen Methoden haben die Sozialwissenschaftler Statistiken wie den Mikrozensus ausgewertet. Ihr Ergebnis: Etwa 4,5 Prozent der über 65-Jährigen arbeiten noch. Rund ein Drittel davon sagt, dass der Lohn für die Arbeit das Leben finanziert. Die Statistik verrät auch, dass die arbeitenden Rentner sich vom Durchschnitt der arbeitenden Bevölkerung deutlich unterscheiden. „Die Pole beim Qualifikationsniveau sind ausgeprägter“, sagt Projektleiterin Jutta Schmitz vom IAQ. Fast fünf Prozent von ihnen haben promoviert, während 15 Prozent gar keine Ausbildung haben.

Mit einer Online-Umfrage und in Einzelinterviews wollen Schmitz und ihre Kollegen in den kommenden Monaten herausfinden, was die Rentner motiviert. Warum gehen sie arbeiten? Was gibt ihnen die Arbeit? Wofür geben sie das verdiente Geld aus? Wie sieht ihre Erwerbsbiografie aus? Zudem wollen die Forscher auch mit Unternehmen sprechen, die Rentner beschäftigen. „Wir haben dabei keine vorgefassten Hypothesen, die wir nur bestätigen wollen“, versichert Schmitz. „Wir gehen ganz offen an das Phänomen heran. Bisher gibt es dazu kaum fundierte Untersuchungen.“

Dabei wirft das Phänomen jede Menge Fragen auf: Warum reicht die Rente nicht zum Leben? Wird sich das Problem der Altersarmut in den kommenden Jahren aufgrund der Rentenreformen verschärfen? Werden berufstätige Rentner für manche Arbeitgeber dann zur neuen Reserve, die je nach Bedarf flexibel eingesetzt werden kann? Oder ist das Weiterarbeiten für manche nicht auch ein Segen? Wie für Reinhard Claves.

ARBEITEN, UM SICH NICHT EINSCHRÄNKEN ZU MÜSSEN_ Der Sportlehrer und Konditormeister aus Dinslaken sagt, dass er von seiner Rente schon leben könnte. Doch dann müsste er sich stark einschränken. Einen Urlaub etwa könne er sich ohne Nebenjob nicht leisten. Auch daher gehe er lieber noch arbeiten. „Meine Frau ist 15 Jahre jünger als ich“, sagt er. „Da kann ich nicht allein zu Hause sitzen und Däumchen drehen.“ Seine Arbeit ist auch Freizeitbeschäftigung. Seine Augen leuchten, wenn er von den Jugendlichen erzählt, und er holt kaum Luft, wenn er berichtet, wie er Ältere mit seinen Sportkursen fit hält. Neben seinen zahlreichen Jobs engagiert er sich auch ehrenamtlich – etwa in der Kommunalpolitik.

Claves hat sein Leben lang gearbeitet – auch als Bäcker, Koch und Fleischer. Vier Jahre war er bei der Marine, hat anschließend seinen Meister gemacht und an der Abendschule sein Fachabitur. Dann hat er 17 Jahre als Berufsschullehrer angehende Bäcker und Fleischer unterrichtet. Anfang der 90er Jahre hat er sich dann als Süßwarenhersteller selbstständig gemacht. Für die Werbeindustrie hat sein Unternehmen etwa Firmenlogos aus Marzipan oder Schokolade gefertigt. „Fürs Alter habe ich in dieser Zeit kaum vorgesorgt“, sagt er heute. „Ich habe das ganze Geld in die Firma gesteckt.“ Mit entsprechenden Auswirkungen jetzt auf seine Rente.

Mit kleinen Renten haben vor allem Frauen zu kämpfen, die für die Kinder den Beruf aufgeben und sich auf ihre Männer verlassen haben. „Wenn der Mann dann gestorben oder die Ehe gescheitert ist, wird es oft schwierig“, sagt Schmitz über diese typische Frauenfalle. „In den letzten zehn Jahren des Berufslebens ist es kaum möglich, ausreichend Rentenansprüche aufzubauen.“

Doch meist ist die Berufstätigkeit im Alter gar nicht aus der Not geboren. Vielmehr sichert sie den Rentnern weiter ein reiches Sozialleben, den Kontakt mit Jüngeren, stiftet Sinn. „Für viele ist es unheimlich schön, noch gebraucht zu werden“, sagt Schmitz. So seien durchaus auch die Älteren mit ihrer Arbeit zufrieden, die das Geld dringend zum Leben brauchen. Unter ihnen seien aber auch Ängste verbreitet, wie es weitergehen soll, wenn sie einmal nicht mehr arbeiten können.

Auch Reinhard Claves ist sich bewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen wird und dass das sehr schnell gehen kann. Vor gut drei Jahren hatte er Schmerzen in der Brust, seine Hand wurde taub. Er lief in die Klinik. Diagnose: Herzinfarkt. Hätte er nicht sein Leben lang Sport gemacht, er wäre sicher nicht so glimpflich davongekommen. Aber Angst? Nein, Angst habe er keine.

Damals bei der Marine sei er als 19-Jähriger auf der Royal-Rahe der Gorch Fock, also dem höchsten Quermast des Segelschiffs, mal ausgerutscht und habe in 40 Metern Höhe am Karabiner seines Sicherungsseils frei in der Luft gebaumelt. Ein Kamerad half ihm runter. Als er wieder auf Deck stand, schickte ihn sein Vorgesetzter gleich wieder hoch. „Ich weiß bis heute nicht, wie ich das geschafft habe“, sagt Claves. „Aber das hat mir eine Menge Selbstbewusstsein gegeben. Man kann viel mehr, als man denkt. Solche Grenzerfahrungen sind wichtig, sie machen einen stark.“

Solange er kann, wird Reinhard Claves jedenfalls weitermachen. Und wenn er abends auf der Couch Fernsehen schaut, macht er nebenbei ein paar Übungen mit dem Expander. 

RENTNER GESUCHT

Das IAQ sucht berufstätige Rentner für anonymisierte Interviews und die Online-Befragung: www.erwerbstaetigkeit-rente.de

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