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Magazin Mitbestimmung

Europa-Debatte: Alle Optionen müssen auf den Tisch

Ausgabe 07+08/2013

Lohn- und Preisauftriebe, Dirigismus von oben, dauerhafte Spaltung in Nord und Süd – die handfesten Folgeprobleme der frühzeitigen Einführung des Euro sind mit dem Ruf nach politischer Vertiefung nicht zu beheben, meint Martin Höpner.

Vor drei Monaten überraschte Oskar Lafontaine mit einer Presseerklärung, in der er seine bisherige Haltung zum Euro revidierte. Das Euro-System, so Lafontaine, sei durch die Verschiedenheit der innereuropäischen Lohnauftriebe aus den Fugen geraten. Mit einer europäisch koordinierten Lohnpolitik, so der ehemalige Finanzminister und Vorsitzende von zuerst SPD und dann Linkspartei weiter, sei der Euro im Prinzip zu stabilisieren. Da eine derart abgestimmte Tarifpolitik aber keine Chance auf Realisierung habe, solle Europa zu einer Währungsordnung zurückkehren, die nominale Auf- und Abwertungen erlaube.

Das Echo auf Lafontaines Erklärung war einhellig ablehnend. Genüsslich verwiesen die Kommentatoren auf den Gleichklang der Euro-Kritiken von Lafontaine und der im Februar dieses Jahres gegründeten, rechtskonservativen „Alternative für Deutschland“. Dass eine Position von in anderen Sachfragen weit auseinanderliegenden Politikern vertreten wird, macht sie indes nicht falsch. Ganz im Gegenteil befindet sich Lafontaines Einschätzung der Probleme innereuropäischer Lohnauftriebe im Einklang mit den Fakten.

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Teilnehmer am Euro über höchst unterschiedliche Institutionen und Praktiken der Lohnfindung verfügen und dass diese Unterschiedlichkeit auch im Zuge der zunehmenden Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses nicht beseitigt wurde. Die Arbeitsbeziehungen im Euroraum unterscheiden sich entlang einer Vielzahl von Merkmalen, zu denen etwa die Organisationsquoten von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, die Grade an Zersplitterung in Richtungs- und Branchenverbände, die Verbreitung von Flächentarifverträgen, die Regelungen zur Allgemeinverbindlichkeit, die Signalwirkung von Pilotabschlüssen, Mindestlöhne und die Inflationsindexierung von Löhnen zählen, um nur einige zu nennen.

Um sich in dieser Komplexität zurechtzufinden, unterscheidet die vergleichende politische Ökonomie analytisch zwei Typen von Lohnregimen. Einerseits gibt es Länder, in denen die Lohnfindung vergleichsweise koordiniert erfolgt. Es wird auf nationaler Ebene verhandelt, oder es gibt Branchenabschlüsse mit hoher Signalwirkung für die Gesamtwirtschaft, und die tarifvertraglichen Deckungsraten sind hoch. Hierzu zählen Deutschland und die anderen Länder des ehemaligen „DM-Blocks“. Andererseits gibt es Länder, in denen Lohnverhandlungen entweder auf Unternehmensebene stattfinden oder in denen zwar Flächentarifverträge existieren, in denen aber Richtungsgewerkschaften, Branchenverbände oder regionale Zusammenschlüsse um die Lohnführerschaft konkurrieren. Diese vergleichsweise unkoordinierte Form der Lohnfindung findet sich vor allem in Südeuropa.

Eine Einsicht der vergleichenden Forschung lautet nun, dass unterschiedliche Regime der Lohnaushandlung unterschiedliche nominale Lohnauftriebe hervorbringen. Das hat mit der Ungewissheit des Tarifgeschehens bei schwacher Koordination zu tun. Besteht Ungewissheit über das Verhalten anderer Träger von Tarifabschlüssen, dann erscheint es rational, den Lohnforderungen einen zusätzlichen Inflationsaufschlag hinzuzufügen, um etwaige Reallohnverluste für die vom eigenen Abschluss betroffenen Mitglieder zu vermeiden. Erfolgen Lohnaushandlungen hingegen koordiniert – durch formale Zentralisation oder durch Pilotabschlüsse mit Leitfunktion –, fällt die Ungewissheit über das Verhalten der anderen Einheiten weg, und preistreibende Aufschläge auf den Nominallohn können umgangen werden. Die Forschung spricht den Verbänden in hoch koordinierten Lohnregimen zudem eine Befähigung zu langfristig ausgerichteter Reflexion und Strategiewahl zu, die es in unkoordinierten Systemen nicht geben kann.

Dieser Mechanismus trug erheblich zur Entstehung der makroökonomischen Ungleichgewichte bei, unter denen der Euroraum derzeit leidet und an denen er zerbrechen könnte. Während der Preis einer Wertschöpfungseinheit während der ersten zehn Eurojahre in Deutschland nur um etwa ein Prozent stieg, waren es in Frankreich und Italien zwischen 20 und 30 Prozent, in Portugal und Spanien zwischen 30 und 40 Prozent und in Irland fast 50 Prozent. In der statistischen Analyse zeigt sich, dass sich die Unterschiedlichkeit der innereuropäischen Lohnauftriebe in starkem Maße mit der Beschaffenheit der Lohnregime erklären lässt. Unterdurchschnittlich stiegen die nominalen Lohnstückkosten in Ländern, in denen die Lohnfindung koordiniert erfolgt, so etwa in Deutschland, Österreich und Finnland. In den Ländern mit unkoordinierter Lohnfindung, insbesondere in Südeuropa, finden wir hingegen stärkere Lohnauftriebe, als man es aufgrund der dortigen Wachstumsraten erwarten würde.

Die Unterschiedlichkeit der innereuropäischen Lohnentwicklungen hat sich über Jahre aufgetürmt. Sie zieht entsprechende Divergenzen der Preisauftriebe nach sich, und das stellt für den Euro ein erhebliches Problem dar: Die internen realen Wechselkurse haben sich verzerrt, die preislichen Wettbewerbspositionen der beteiligten Länder haben sich quer über den europäischen Kontinent verschoben. Die Folge waren durch Kapitalimporte finanzierte Außenhandelsdefizite in den Ländern, für die der Euro zu hoch bewertet ist, und entsprechende Überschüsse und Kapitalexporte in den Ländern, die eigentlich aufwerten müssten. In den Ländern mit überbewerteter Währung belegten die Kapitalmarktteilnehmer die Staatsanleihen mit Zinsaufschlägen, die die Refinanzierbarkeit der Staatsschuld infrage stellten. Auf diese Weise trug die Heterogenität der innereuropäischen Lohnregime mehr, als man auf den ersten Blick annehmen sollte, nicht nur zur Herausbildung der innereuropäischen Wettbewerbsverzerrungen, sondern auch zur Entstehung und Verfestigung der europäischen Schuldenkrise bei.

Nun kann man fragen, ob sich das Problem nicht bewältigen ließe, ohne den Bestand des Euro infrage zu stellen. Debattiert werden drei Wege der Problembewältigung. Erstens könnten die Euroländer den Export der lohnpolitischen Institutionen des alten „DM-Blocks“ in andere Länder anstreben. Die Realisierbarkeit dieser vermeintlichen Lösung muss aber mit einem großen Fragezeichen versehen werden. Denn die Erfahrungen haben gezeigt, dass Lohnkoordination höchst voraussetzungsvoll ist und dass die Versuche einiger südeuropäischer Länder und Irlands, mittels sogenannter „sozialer Pakte“ auf einen höheren Koordinationsgrad der Arbeitsbeziehungen hinzuwirken, während der ersten zehn Eurojahre keinen durchschlagenden Erfolg hatten. Unterdurchschnittlich waren die nominalen Lohnauftriebe seit Gründung des Euro nur in Ländern, in denen sozialpartnerschaftliche Arrangements auf eine lange Tradition zurückblicken konnten. Selbst in Deutschland sind die sozialpartnerschaftlich ausgerichteten gewerkschaftlichen Großorganisationen erfreuliche historische Überbleibsel einer vergangenen Epoche, die heute – angesichts von sozialem Wandel, dem Wachstum des Dienstleistungssektors, der Individualisierung und einer allgemeinen Abkehr von Massenverbänden – nicht aufs Neue entstehen würden. Auf kurze bis mittlere Sicht muss ausgeschlossen werden, dass der Euroraum durch die europaweite Verbreitung der deutschen Spielart der Lohnfindung zu einem funktionsfähigeren Währungsraum werden könnte.

Zweitens ruhen Hoffnungen auf der weichen transnationalen Koordinierung der Lohnfindung „von unten“. Im Rahmen solcher Koordinationsversuche mangelt es nicht an Appellen, die deutschen Sozialpartner sollten durch eine gezielte Serie hoher Lohnabschlüsse zur Entspannung der makroökonomischen Ungleichgewichte Europas beitragen. Es darf bezweifelt werden, dass die Sozialpartner diesen Appellen folgen werden. Denn die deutsche Lohnpolitik, die in besonderem Maße die Folgewirkungen für die Arbeitsplatzsicherheit im Exportsektor bedenkt, erfolgt schließlich im wohlverstandenen Eigeninteresse der Gewerkschaftsmitglieder und ist keine Folge irrationalen Handelns der Verbandsspitzen. In der Vergangenheit sind alle Versuche horizontaler Koordination der europäischen Lohnpolitiken grandios gescheitert. Nichts spricht dafür, dass dies in Zukunft anders sein könnte, zumal die unwiderrufliche Fixierung der nominalen Wechselkurse den Anreiz zum strategischen Eintritt in die transnationale Lohnkonkurrenz verstärkt und nicht etwa vermindert hat. Zu bedenken ist zudem auch hier die Heterogenität der Lohnregime, kann doch transnational nur koordiniert werden, was seinerseits – auf Ebene der Teilnehmerländer – koordiniert ist. Nicht in Abrede stellen will ich, dass die zurückhaltende deutsche Lohnpolitik der vergangenen Jahre durch Umstände verschärft wurde, die außerhalb der direkten Reichweite der Tarifpolitik liegen, wie die zunehmende Spaltung der Belegschaften und die erhöhte Lohnkonkurrenz zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen. Aber auch dieser Umstand verstärkt die immensen Schwierigkeiten transnationaler Lohnkoordination.

Und die politische Union? Diese dritte Option ist der Traum der Integrationisten und die Standardantwort auf alle Schäden, die die vorschnelle Einführung des Euro angerichtet hat. Man hätte die Währungsunion nicht ohne politische Union gründen dürfen, heißt es. Was mit „politischer Union“ oder auch „Wirtschaftsregierung“ gemeint ist, wird aber selten konkret umrissen. Welche Vertiefung der in der Tat hinter der wirtschaftlichen Integration hinterherhinkenden politischen Integration wäre in der Lage, das Problem heterogener innereuropäischer Lohnauftriebe zu beheben? Notwendig wäre ein europäischer Superstaat, der über eine Steuerungsfähigkeit und Eingriffstiefe verfügte, die den meisten Nationalstaaten fremd ist. Brüssel müsste in die Lage versetzt werden, den schützenden Panzer der Tarifautonomie zu durchstoßen und Löhne direkt zu administrieren oder die Sozialpartner bei „falschen“ Lohnabschlüssen mit Sanktionen zu belegen. Niemand, der bei Trost ist – und speziell niemand, der den historischen und zivilisatorischen Wert der Tarifautonomie erkennt –, kann das ernsthaft wollen. Auch die brüchige demokratische Legitimation europäischer Entscheidungen würde mit solchen und ähnlichen Eingriffen weit überdehnt. Und die Fiskal- und Schuldenunion, die mit der „politischen Union“ meist gemeint ist, könnte vielleicht die Finanzmarktteilnehmer vor Staatsbankrotten schützen. An den Ursachen der Verschiebungen von Wettbewerbskraft im Euroraum könnte sie aber nichts ausrichten. Kurz: Die politische Union zur Rettung des Euro ist ein Hirngespinst.

Aus dieser Lage der Dinge ergibt sich die Stimmigkeit der von den Euroskeptikern geäußerten Überlegungen. In einem System fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse stünde den Teilnehmerländern ein Instrument zur Korrektur der von den heterogenen Lohn- und Preisauftrieben bewirkten Verzerrungen zur Verfügung. Innerhalb des Euro aber ist zu befürchten, dass sich die Lohn- und Preisauftriebe auch künftig entlang der Beschaffenheit der mitgliedstaatlichen Regime der Lohnfindung unterscheiden werden. Das würde Europa nicht zusammenführen. Vielmehr würde es die derzeit bestehende Spaltung auf Dauer stellen – die Spaltung in Länder mit steigender und solche mit schwindender Wettbewerbskraft, in Gläubiger- und Schuldnerstaaten und in Urheber und Empfänger oktroyierter wirtschaftspolitischer Vorgaben. Das gilt es zu vermeiden. Alle Optionen müssen daher auf den Tisch.

Zur Person

Martin Höpner ist Politikwissenschaftler und Leiter der Forschungsgruppe zur „Politischen Ökonomie der europäischen Integration“ am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG) in Köln.

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