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Magazin Mitbestimmung

AEG-Electrolux: Der die Leiharbeiter hineinklagte

Ausgabe 06/2013

Ein Betriebsrat in der mittelfränkischen Provinz hat Rechtsgeschichte geschrieben: Arbeitnehmervertreter von Electrolux haben erkämpft, dass bei Betriebsratswahlen ab sofort auch Leiharbeiter zur Belegschaft zählen. Von Joachim F. Tornau

„Betriebsratsverseucht“ steht auf dem Aufkleber am Türrahmen. „Und das ist gut so.“ Der Sticker, der das Unwort des Jahres 2009 aufgriff, mag nicht mehr ganz taufrisch sein. Doch der kämpferische Trotz, der aus ihm spricht, ist noch immer jung. Hier jedenfalls: Hinter der Tür, auf der der Aufkleber programmatisch pappt, arbeitet der Betriebsrat des Hausgeräteherstellers Electrolux in Rothenburg ob der Tauber. Streitbar. Hartnäckig. Und so erfolgreich, dass es künftig enger wird in seinem Büro – und in vielen anderen Betriebsratsbüros im Lande wohl auch.

In einem dreijährigen Rechtsstreit erstritten die Rothenburger ein Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG), nach dem Leiharbeitnehmer wie Stammbeschäftigte zur Belegschaft zählen, wenn die Größe des Betriebsrats und die Zahl der Freistellungen bestimmt werden. Bei Electrolux wuchs die Arbeitnehmervertretung dadurch von 13 auf 15 Mitglieder. Anfang Mai wurde neu gewählt. Michael Trzybinski, alter und neuer Betriebsratsvorsitzender, erinnert sich an die Urteilsverkündung in Erfurt, an die Mischung aus Stolz und Überraschung, es wirklich geschafft zu haben. Denn das hieß nichts weniger als dafür gesorgt zu haben, dass das BAG seine bisherige Rechtsprechung aufgab. „Wahnsinn“, sagt Trzybinski. Spontaner Applaus sei aufgebrandet im Saal. „Das war bewegend.“

Auf dem weißen Straßenschild, das den Weg zu den Fabrikhallen nahe der weltberühmten Rothenburger Altstadt weist, steht noch immer der alte Firmenname: AEG. Das Werk in der mittelfränkischen Kleinstadt ist die letzte deutsche Produktionsstätte, die von dem traditionsreichen Hausgerätefabrikanten noch übrig geblieben ist, seit der neue Eigner Electrolux das ehemalige AEG-Werk in Nürnberg trotz heftiger Proteste 2007 geschlossen hat. In Rothenburg lässt Electrolux Herde und Kochmulden produzieren, zum Teil noch immer unter dem alten dreibuchstabigen Markenzeichen. Mehr als zwei Millionen Stück waren es im vergangenen Jahr. „Wir hatten kein Problem in der Wirtschaftskrise, keinen Tag Kurzarbeit“, sagt Trzybinski, der auch im Aufsichtsrat von Electrolux mitbestimmt.

SPAREN DURCH LEIHARBEIT

Das schwedische Unternehmen hat gute Geschäfte gemacht in Rothenburg. Dazu beigetragen hat ein teilweiser Lohnverzicht der Beschäftigten: Bis Ende 2012 lief ein fünfjähriger Ergänzungstarifvertrag, mit dem die ursprünglich geplante Schließung des Standorts abgewendet werden konnte. Und: Electrolux setzte massiv aufs Sparen durch Leiharbeit. Etwa jeder Vierte der rund 1200 Beschäftigten ist von einer Zeitarbeitsfirma ausgeliehen. „Wir haben Fertigungsbereiche in der Montage, da lag der Leiharbeiteranteil zeitweilig über 50 Prozent“, berichtet der Betriebsratsvorsitzende. Zusammen mit seiner Stellvertreterin Waltraud Gans und Franz Janitschek, dem dritten freigestellten Arbeitnehmervertreter, sitzt der 53-Jährige an dem runden Tisch im Betriebsratsbüro. Um sie herum ragen dunkelbraune Schränke auf, der Blick durchs Erdgeschossfenster fällt auf einen Abfallcontainer. Ein Raum, der keine Gemütlichkeit ausstrahlt, sondern nach Arbeit aussieht.Von einer Leiharbeitnehmerin, die seit einem Jahrzehnt ununterbrochen im Betrieb arbeitet und noch immer nicht übernommen wurde, erzählen die drei IG-Metall-Mitglieder. Aber auch von anderen, die nur für Tage oder Wochen angeheuert würden. „Den Tagesordnungspunkt ‚Einstellung von Leiharbeitnehmern‘ haben wir jede Woche bei der Betriebsratssitzung“, erzählt Vizevorsitzende Gans, eine 50-jährige Montiererin. Geht es dabei um spezielle Tätigkeiten? Um Arbeiten, die die Stammbeschäftigten nicht wahrnehmen? Spontan schütteln alle drei den Kopf. „Da gibt es keinen Unterschied“, sagt Trzybinski.

Auch in Arbeitszeit- oder Urlaubsmodelle sind die Leiharbeiter integriert. Für den Betriebsrat stand daher niemals infrage, dass er sich auch um diese Kollegen kümmert. Obwohl die Betreuung nicht eben unaufwendig sei – schließlich müsse dabei immer auch das Gespräch mit den derzeit acht verschiedenen Verleihfirmen geführt werden. Und auch der Wille des Arbeitgebers, unbedingt Lohnkosten zu sparen, kann dem Betriebsrat überraschende Zusatzarbeit bescheren: Weil der 2012 von der IG Metall ausgehandelte Branchenzuschlag für Leiharbeitnehmer im Osten niedriger ist als im Westen, lässt sich Electrolux aktuell Personal von einer Zeitarbeitsfirma aus Leipzig schicken. Die entsandten Arbeitnehmer seien allerdings in Tschechien angeworben worden und sprächen weder Deutsch noch Englisch, sagt Trzybinski. „Man kann sich überhaupt nicht verständigen.“ Ob und wie unter diesen Bedingungen etwa der Arbeitsschutz noch gewährleistet werden kann, gehört zu den drängenden Fragen der neu gewählten Arbeitnehmervertretung.

KLAGEWEG SCHIEN AUSSICHTSLOS

Mit anderen Worten: Leiharbeit macht Arbeit für den Betriebsrat. Bei Electrolux hatte daher der Betriebsratswahlausschuss im Jahr 2010 beschlossen, dass eine Vertretung für die gesamte Belegschaft gewählt werden solle – und nicht nur für die rund 900 Stammbeschäftigten. Zusammen mit den Leiharbeitnehmern wäre die Grenze von 1000 Beschäftigten, die das Betriebsverfassungsgesetz für den Sprung von 13 auf 15 Betriebsratsmitglieder vorschreibt, problemlos überschritten worden. Doch die Wahlausschreibung hing nur wenige Tage im Werk aus, da erwirkte der Arbeitgeber schon eine einstweilige Verfügung: Das Fremdpersonal dürfe nicht mitgezählt werden. Also blieb es bei einem 13-köpfigen Betriebsrat – erst einmal. So leicht aber wollten die engagierten Arbeitnehmer nicht aufgeben. 14 von ihnen zogen vor Gericht und fochten die Wahl an. Ließen sich auch nicht abschrecken von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, die gegen diesen Vorstoß sprach und die ihnen in den ersten beiden Instanzen auch noch klare Niederlagen bescheren sollte: Hartnäckigkeit macht sich bezahlt, meint Betriebsratsvorsitzender und Mit-Kläger Trzybinski. „100 Mal schießt man vergeblich auf die Festung – und beim 101. Mal ballert man dann ein Loch in die Mauer.“

Auch der IG-Metall-Vorstand in Frankfurt, wo man anfangs die Erfolgsaussichten eher skeptisch beurteilt hatte, zeigt sich vom BAG-Urteil vom 13. März 2013 hocherfreut. „Das ist eine gute Entscheidung für die betriebliche Mitbestimmung“, sagt Detlef Wetzel, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, es sei nur folgerichtig, dass „Leiharbeitnehmer wählen und (zur Belegschaft) zählen“.

Aktiv unterstützt hatte die Kläger die zuständige IG-Metall-Verwaltungsstelle in Fürth – damals noch geleitet von Thomas Händel, heute Europaabgeordneter der Linkspartei. „Unser Büro hat immer nach dem alten Prinzip gehandelt, dass Rechtsfortschritt durch gewerkschaftliche Gegenmacht erkämpft werden kann“, gibt sich Händel kämpferisch. Die Verwaltungsstelle wollte erreichen, dass „die missliche Aufspaltung in Stamm- und Randbelegschaften“ nicht auch noch die Interessenvertretung der Arbeitnehmer schwächt. Bei Electrolux seien die Bedingungen am besten gewesen. „Wir wussten, da haben wir eine starke gewerkschaftliche Truppe, die sich auch vom Arbeitgeber nicht einschüchtern lässt“, sagt Händel.

Der langjährige Gewerkschaftsfunktionär nennt das Verfahren ein „Politikum“. Die Electrolux-Betriebsräte dagegen halten es weniger grundsätzlich. Zwar machen auch sie aus ihrer Abscheu gegen Leiharbeit keinen Hehl: Von „moderner Sklavenarbeit“ spricht Trzybinski. Doch ihre Klagen verstehen sie nicht hochtrabend als Angriff auf das System der Zeitarbeit, sondern schlicht als Interessenvertretung. „Es geht uns darum, dass die Rechte der Arbeitnehmer und des Betriebsrats eingehalten werden“, erklärt Waltraud Gans. „Es sind ja nicht viele.“ Wenn diese Rechte vom Arbeitgeber missachtet werden, dann sind die Electrolux-Betriebsräte zum Kampf bereit. Das haben sie mit dem von ihnen erstrittenen BAG-Urteil nicht zum ersten Mal unter Beweis gestellt.

So setzten sie vor einigen Jahren per Einigungsstellenverfahren ihre Mitbestimmungsrechte bei der Gefährdungsbeurteilung der Arbeitsplätze im Rothenburger Werk durch. Die allgemeinen Einstufungen der Berufsgenossenschaft waren ihnen zu oberflächlich, sie wollten Befragungen der einzelnen Beschäftigten und individuelle Bewertungen des Gesundheitsrisikos. Der Arbeitgeber aber lehnte das ab, sprach der Arbeitnehmervertretung sogar jegliche Beteiligungsrechte ab – und musste sich schließlich auf ganzer Linie geschlagen geben. Der Betriebsrat, betont der gelernte Industriemechaniker Trzybinski, nehme seine Aufgabe ernst: „Wir wollen uns nicht nur um Toilettenpapier und den Pausenraum kümmern.“

Und die Arbeit geht ihnen nicht aus. Trotz der Wirtschaftlichkeit seines Rothenburger Standorts, an dem erst kürzlich eine neue Fertigungsanlage in Betrieb gegangen ist, hat Electrolux beschlossen, dass das Werk die Produktion von 110 000 Geräten im Jahr nach Italien abgeben muss. Zudem werden immer weniger ganze Herde und dafür mehr Kochmulden wie etwa Ceran-Kochfelder nachgefragt. Die jedoch mit weniger Personal hergestellt werden können. Und mit dem Auslaufen des Tarifvertrags zur Standortsicherung sind seit diesem Jahr auch Entlassungen wieder möglich.

VOM WERT DER MITBESTIMMUNG

Bis zum Jahresende will Electrolux aber zunächst die Zahl der Leiharbeiter reduzieren auf dann nur noch 60. Eine gute Nachricht? Nicht wirklich. Die Geschäftsleitung, sagt Trzybinski, habe die Abkehr von der Zeitarbeit mit den neuen Branchenzuschlägen begründet: Bei „Equal Pay“ lohne sich das Ausleihen von Beschäftigten nicht mehr. Als Alternative wolle man verstärkt Tätigkeiten an Werkvertragsfirmen auslagern. Denn da funktioniert das Modell des Kostensparens per Dumpinglohn nach wie vor. „Jetzt wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben“, sagt Betriebsrat Janitschek, ein 55 Jahre alter Elektromeister. Als Erstes seien die Logistik mit 70 Arbeitsplätzen sowie Hausmeistertätigkeiten outgesourct worden. „Aber das ist sicher noch nicht das Ende.“ Wenn reguläre Jobs durch Werkverträge ersetzt werden, bedeutet das nicht zuletzt auch einen Einflussverlust für den Betriebsrat: Bei Werkverträgen gibt es so gut wie keine Mitbestimmung.

Wie wichtig Mitbestimmung und ein aktiver Betriebsrat sind, haben die Electrolux-Beschäftigten in den zwei Monaten zwischen der Urteilsverkündung in Erfurt und der Neuwahl ihres Betriebsrats erfahren: Acht Wochen lang gab es keine Arbeitnehmervertretung, und die Werksleitung konnte tun und lassen, was immer sie wollte. „Wir waren ja handlungsunfähig“, sagt Janitschek. „Das hat sich draußen bemerkbar gemacht.“ Wohl auch deshalb sei die Beteiligung bei der Betriebsratswahl um drei Prozentpunkte auf knapp 72 Prozent gestiegen.

Ob vermehrt auch Leiharbeitnehmer ihre Stimme abgegeben haben – das dürfen sie, sobald sie länger als drei Monate im Unternehmen arbeiten –, konnte zwar nicht erfasst werden, des Wahlgeheimnisses wegen. An Anerkennung für den Erfolg vor dem Bundesarbeitsgericht habe es aber nicht gemangelt, erzählt Betriebsrätin Gans: „Sogar auf der Straße bin ich von ehemaligen Kollegen angesprochen worden: Ihr habt Geschichte geschrieben.“

Das viele Schulterklopfen tat gut. Den kritischen Blick auf die Ungerechtigkeiten der Arbeitswelt aber haben die Rothenburger trotz ihres Triumphs nicht verloren. Die Rechtslage für Leiharbeitnehmer sei immer noch unbefriedigend, finden sie. Denn auch im vergrößerten Betriebsrat sind die Stammbeschäftigten unter sich – Zeitarbeiter haben im Entleihbetrieb nur das aktive, nicht das passive Wahlrecht. Betriebsratschef Trzybinski hält das für falsch: „Warum soll die Leiharbeiterin, die seit zehn Jahren hier im Betrieb ist, nicht auch für den Betriebsrat kandidieren dürfen?“, fragt er. Und meint: „Der Gesetzgeber versagt diesen Menschen das Grundrecht auf Gleichbehandlung.“

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