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Magazin Mitbestimmung

Europa-Debatte: Nationale Spielräume sollten verteidigt werden

Ausgabe 03/2012

INTERNATIONALISIERUNG Sie greifen immer tiefer in die nationale Wirtschaftspolitik ein – die Euro-Regeln und das europäische Binnenmarkt- und Wettbewerbsrecht. Europäisierung und Internationalisierung gehen zu weit. Ein Plädoyer für einen aufgeklärten Protektionismus. Von Martin Höpner

Martin Höpner ist Leiter einer Forschungsgruppe zur „Politischen Ökonomie der europäischen Integration“ am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG) in Köln/Foto: MPIfG

Im Zeitalter der Globalisierung ist der Nationalstaat zu klein, um dem Kapitalismus wirksame Regeln vorzugeben. Wer den demokratisch und sozial eingehegten Kapitalismus will, muss deshalb auf transnationale, vor allem europäische Regulierung setzen, diese weiterentwickeln und gegen nationale Egoismen verteidigen – so eine gängige Sicht.

Mit dieser Sicht stimmt etwas nicht. Sie bedarf in zweierlei Hinsicht der Korrektur. Mein erster Einwand: Wir beobachten, dass die transnationale Regulierung dort, wo sie mit der harten Grammatik der sanktionierbaren Regel operiert, keine marktbegrenzende, sondern vor allem marktschaffende Wirkung entfaltet. Mit anderen Worten: Wo transnationale Regulierung tatsächlich wirkt, ist sie keine Antwort auf die Globalisierung – sondern ihre institutionelle Unterfütterung. Sie ist eben jene Globalisierung, die die demokratischen und sozialen Handlungsspielräume zunehmend untergräbt.

Diese transnationale Regulierung hat nicht die demokratisch und sozial eingebettete Marktwirtschaft, sondern den entfesselten Finanzmarktkapitalismus hervorgebracht. Die Finanzkrise und die Eurokrise haben uns die destruktive Kraft dieser Konstellation unmissverständlich vor Augen geführt. Die nationalen Volkswirtschaften sind mittlerweile derart verflochten, dass der Fall einer systemrelevanten Bank die Finanzsysteme und Realwirtschaften eines Großteils der entwickelten Industrieländer mit sich reißen kann.

Mein zweiter Einwand bezieht sich auf die Störungen des demokratischen Prozesses. Die Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarkts und das europäische Wettbewerbsrecht sollten ursprünglich dafür sorgen, dass auf den europäischen Märkten niemand diskriminiert oder durch den Missbrauch von Marktmacht übervorteilt wird. Mittlerweile strahlen diese transnationalen Regeln auf immer mehr Politikfelder aus. Das öffentlich-rechtliche Bankenwesen, der Gesundheitssektor, der öffentlich-rechtliche Rundfunk – sie alle werden zunehmend vom europäischen Wettbewerbsrecht erfasst und wie privatwirtschaftliche Sektoren behandelt.

Und die europäischen Grundfreiheiten – der freie Warenverkehr, die Personenfreizügkeit, die Dienstleistungsfreiheit und der freie Kapital- und Zahlungsverkehr – werden von Kommission und Europäischem Gerichtshof inzwischen derart weitgehend interpretiert, dass sich alle nur erdenklichen mitgliedstaatlichen Regulierungen als illegitime Beschränkungen des Binnenmarkts interpretieren und verwerfen lassen. All dies geschieht weitgehend ohne Beteiligung der Politik und also ohne demokratisches Fundament. Die derzeit im Entstehen begriffenen neuen Euro-Regeln werden den Regierungen noch wesentlich engere Grenzen setzen. Die Chancen, dass demokratische Wahlen wirklich die Politik verändern, werden im Ergebnis immer geringer.

Freilich: Niemand, der bei Trost ist, kann sich national geschlossene Wirtschaftsräume zurückwünschen und also einem radikalen Protektionismus das Wort reden. Aber viel wäre schon mit der Einsicht gewonnen, dass wirtschaftliche Verflechtung und die Verlagerung regulatorischer Kompetenzen auf die transnationale Ebene nicht schon per se erstrebenswerte Ziele sind. Es ist an der Zeit, das wünschenswerte Ausmaß an transnationaler Verflechtung und an Transnationalisierung wirtschaftlicher Regelsetzung neu zu diskutieren. Das Programm eines neuen, eines aufgeklärten Protektionismus bestünde in dem gezielten Abbau makroökonomischer Ungleichgewichte und dem Schutz demokratischer Gestaltungsspielräume, die sich durch die Trias aus Binnenmarktrecht, Wettbewerbsrecht und Euro-Regeln zunehmend eingeengt sehen.

Betrachten wir einige Beispiele. Die Regulierung des Arbeitsverhältnisses ist gewissermaßen das Herzstück demokratischer Intervention im Kapitalismus. Eine europäische Harmonisierung des Arbeitsrechts scheiterte bisher an unüberbrückbaren Interessengegensätzen und ist angesichts der heterogener werdenden EU auch mittelfristig nicht zu bewerkstelligen. Aus guten Gründen haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union das Arbeits- und Streikrecht zur eigenständigen Regelung vorbehalten. Aber das ist leichter gesagt als getan, denn die transnationale Arbeitnehmerentsendung schafft schwerwiegende Abgrenzungsprobleme. Je mehr Arbeitsrecht entsandte Beschäftigte vom Entsender- zum Empfängerland mitbringen könnten, umso mehr droht schwächeres Arbeitsrecht das Recht mit stärkerem Schutzniveau zu unterminieren. Der Europäische Gerichtshof hat die Schutzbestimmungen der Entsenderichtlinie sinnwidrig nicht als Mindestanforderungen, sondern als abschließende Festlegung des Höchstmaßes an Arbeitnehmerschutz interpretiert, die entsendenden Unternehmen auferlegt werden dürfen, und dabei auch in das mitgliedstaatliche Arbeitskampfrecht eingegriffen. Das Territorialitätsprinzip des Arbeitsrechts sollte gegenüber europäischen Übergriffen verteidigt werden, und Durchbrechungen dieses Prinzips müssen eng umrissene Ausnahmen bleiben.

Ein anderes Beispiel ist die Erstreckung der europäischen Binnenmarktregeln auf das Gesellschafts- bzw. Unternehmensrecht und damit auch auf die Mitbestimmung (vergleiche die Beiträge in Heft 10/2011 dieser Zeitschrift). Entschließt sich der Gesetzgeber, die deutsche Unternehmensmitbestimmung – wie von den Gewerkschaften zu Recht gefordert – auf im Inland tätige ausländische Rechtsformen zu erstrecken, werden Mitbestimmungsgegner dies als illegitimen Protektionismus brandmarken. Der Konflikt mit Brüssel und Luxemburg erschiene vorprogrammiert. Es gilt dasselbe wie für das Arbeits- und Arbeitskampfrecht: Das Territorialitätsprinzip muss verteidigt werden, um der Verdrängung des höheren Regulierungsniveaus durch niedrigere Standards Einhalt zu gebieten. Hier auf den Vorrang der nationalen Standards zu pochen, mag man protektionistisch finden – in der Tat geht es um den Schutz (Protektion) einer erfolgreich gelebten Wirtschaftskultur. Engstirnig oder nationalistisch ist das nicht.

Ebenso dringlich erscheint die Definition von Grenzen des europäischen Wettbewerbsrechts. Ging es ursprünglich um die Bekämpfung des Missbrauchs von Marktmacht, wurde das Wettbewerbsrecht seit den 80er Jahren immer mehr zu einem Instrument der Transformation staatsnaher Sektoren. Das begann mit der Liberalisierung öffentlicher Infrastruktursektoren wie Telekommunikation und Energie. Eine Arena dieses Kampfs war in den vergangenen Jahren das öffentlich-rechtliche Bankenwesen inklusive der Sparkassen. In der Finanzkrise haben sich die krisenfesten Sparkassen als Segen erwiesen. Ein aufgeklärter Protektionismus würde den Gesetzgeber ermutigen, Sparkassen gegen zukünftige Übergriffe des europäischen Wettbewerbsrechts zu schützen.

Auch der Euro ist ein Beispiel für eine institutionell verfestigte Überinternationalisierung. Sehr heterogene Volkswirtschaften mit unterschiedlichen Konjunkturverläufen – man vergleiche die derzeitigen innereuropäischen Wachstumsraten! – werden ein und derselben Zinspolitik unterworfen. Die unausweichliche Folge ist, dass die Geldpolitik für die einzelnen Volkswirtschaften dysfunktionale Impulse setzt (vergleiche hierzu auch den Beitrag in Heft 7+8/2010 dieser Zeitschrift). Auch Anpassungen der nominalen Wechselkurse sind nicht mehr möglich, obwohl sie dringend notwendig wären. In der Folge türmen sich Handelsungleichgewichte auf. Den positiven Handelssalden der Überschussländer stehen private und öffentliche Schulden der Defizitländer gegenüber, die sich in der Finanzkrise ihrerseits als Krisenansteckungsherde erwiesen haben.

Die europäischen Eliten haben erfasst, dass sich die makroökonomischen Ungleichgewichte im Euro-Raum nicht von selbst auflösen werden. Aber sie ignorieren den Beitrag, den der Euro selbst zur Entstehung der Ungleichgewichte und zu der gegenwärtig zu beklagenden nachhaltigen Verschiebung von Wettbewerbskraft quer über den europäischen Kontinent geleistet hat. Die Lösung erkennen sie in der Errichtung eines haushalts- und wirtschaftspolitischen Regimes mit autokratischen Zügen – und drohen damit nicht nur demokratische Selbstbestimmung in zentralen wirtschaftspolitischen Fragen zu untergraben, sondern durch die Suspendierung der Finanzpolitik als Instrument der makroökonomischen Gegensteuerung auch genau jene Ungleichgewichte zu verschärfen, die sie eigentlich zu beseitigen vorgeben.

Am 13. Dezember vergangenen Jahres trat das sogenannte „Sixpack“ in Kraft. Dieses Maßnahmenpaket, bestehend aus fünf europäischen Verordnungen und einer Richtlinie, zielt auf die Ausweitung der haushalts- und wirtschaftspolitischen Zugriffsrechte der Kommission sowie auf die Automatisierung von Sanktionen bei Fehlverhalten. Künftig müssen die Euro-Länder der Kommission ihre Haushaltspläne zur Prüfung vorlegen, und bereits in diesem Stadium soll es möglich sein, das Fehlverhalten der Mitgliedsstaaten zu sanktionieren. Neben der strengeren Überwachung der Haushaltspolitiken umfasst das Paket ein – ebenfalls sanktionsbehaftetes – Instrumentarium zur frühzeitigen Erkennung und Beseitigung makroökonomischer Ungleichgewichte („excessive imbalance procedure“). Hiermit weitet sich der Zugriff der Kommission von der Haushaltspolitik auf weitere sensible Bereiche aus, denn auch die Lohnpolitik und die Sozialpolitik können betroffen sein.

Zudem steht die Umsetzung der Beschlüsse des EU-Gipfels vom 8. und 9. Dezember an. So ist dieser „Fiskalpakt“ Anfang März in einen zwischenstaatlichen Vertrag überführt worden. Demzufolge sollen strenge Haushaltsregeln („Schuldenbremsen“) in die nationalen Verfassungen aufgenommen und deren Umsetzung vom Europäischen Gerichtshof überwacht werden. Bei Überschreitung der Defizithürde von drei Prozent sollen die Sanktionsverfahren nur noch mit einer qualifizierten Mehrheit im Rat abgewendet werden können. Befindet sich ein Land im Defizitverfahren, muss es der Kommission ein Maßnahmenpaket mit Strukturreformen vorlegen. Nichts davon wird die Wettbewerbskrise beseitigen, aber Europa wird autoritärer.

Angesichts der gigantischen Kraftakte zur Bekämpfung der globalen Bankenkrise hat sich die kritische Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit weitgehend erschöpft. Es droht übersehen zu werden, dass die eingeleiteten Maßnahmen zur Euro-Rettung keine einmaligen Vorgänge sind. Sie verschieben das europäische Integrationsprojekt grundsätzlich und dauerhaft – in Richtung eines autokratischen Europa. Die neuen Fiskalregeln bewirken genau jene De-Politisierung der Haushalts- und Wirtschaftspolitik, die in der europäischen Binnenmarkt- und der Wettbewerbspolitik bereits vollzogen wurde. In all diesen Feldern wird oktroyiert, was in Demokratien eigentlich das Ergebnis eines Prozesses des Abwägens und des demokratischen Wettbewerbs sein sollte. „Europäische Wirtschaftsregierung“ ist ein grotesker Euphemismus für diesen Demokratieverlust.

Gewiss, „Plädoyer für einen aufgeklärten Protektionismus“ – das ist provokativ. Machen wir uns aber klar, dass in den vergangenen Jahren Weichen gestellt wurden und weiter gestellt werden, die nicht nur Geschwindigkeit und Richtung der europäischen Integration, sondern auch die Balance von demokratischer Politik und kapitalistischer Ökonomie verändern. Was für ein europäisches Wirtschaftsregime ist es, das wir einmal der nachfolgenden Generation übergeben wollen? Manchmal lohnt es, innezuhalten und darüber nachzudenken, ob man sich bei der Setzung der Ziele und der Wahl der eingesetzten Mittel nicht verrannt hat.

MEHR INFORMATIONEN

Martin Höpner (2012): Soziale Demokratie? Die politökonomische Heterogenität Europas als Determinante des demokratischen und sozialen Potenzials der Europäischen Union. In: Europarecht, Beiheft „Soziale Demokratie“ (im Erscheinen)

Martin Höpner/Alexander Petring/Daniel Seikel/Benjamin Werner (2011): Liberalisierungspolitik. Eine Bestandsaufnahme des Rückbaus wirtschafts- und sozialpolitischer Interventionen in entwickelten Industrieländern. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 63, 1, 1–32

Martin Höpner/Armin Schäfer (2010): Grenzen der Integration – wie die Intensivierung der Wirtschaftsintegration zur Gefahr für die politische Integration wird. In: Integration 33, 1, 3–20

Europa-Debatte

Anders als für Martin Höpner ist für Klaus Busch eine supranationale Wirtschaftsregierung ein zentraler Weg, die Krise zu überwinden – mit einem Beitrag von ihm setzen wir die Debatte fort.

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