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150 Jahre Flächentarifvertrag Service aktuell

Festakt "150 Jahre Flächentarifvertrag": Mit harten Bandagen

In Berlin feierten die Hans-Böckler-Stiftung und ver.di den 150. Geburtstag des Flächentarifvertrags – Anlass genug für einen Blick zurück, aber auch für eine spannende Diskussion über echte und „geschummelte“ Tarifbindung.

[26.05.2023]

Von Andreas Molitor


Hubertus Heil ist ein Mann mit einem guten Gespür für das passende historische Zitat – was er kürzlich in Berlin, beim Festakt zur Feier des ersten deutschen Flächentarifvertrags vor 150 Jahren, wieder einmal unter Beweis stellte. Die Druckereibesitzer und Verleger drohten damals, die störrischen Buchdrucker, die für einheitliche Löhne und Arbeitsbedingungen kämpften, „durch arbeitswillige und gelehrige Mädchen“ zu ersetzen. Der Bundesarbeitsminister zitierte in seiner Festrede genüsslich die Antwort der Gewerkschaft: „Die Mitglieder des deutschen Buchdruckerverbands werden diesem Angriff mit der Manneswürde begegnen, die man von ihnen gewohnt ist.“ Schon vor 150 Jahren wurden Tarifauseinandersetzungen mit harten Bandagen geführt – auch wenn die Mittel und der Umgangston heute reichlich anachronistisch erscheinen.

Nach einem mehrmonatigen harten Arbeitskampf tritt am 9. Mai 1873 der erste Flächentarifvertrag in deutschen Landen in Kraft. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung werden fast ein Drittel der im Buchdruckerverband organisierten Setzer und Drucker von den Verlegern ausgesperrt. Richard Härtel, der Vorsitzende des Verbandes, muss sechs Wochen ins Gefängnis, nachdem er öffentlich davor gewarnt hat, sich als Streikbrecher zu betätigen. Nachdem die Aussperrungsfront der Arbeitgeber zu bröckeln beginnt, wird schließlich doch verhandelt. Der ausgehandelte Tarifvertrag erfüllt wesentliche Forderungen der Gewerkschaft: eine Erhöhung des Akkordlohns, ein Mindestlohn, bezahlte Überstunden, der Zehn-Stunden-Arbeitstag und eine 14-tägige Kündigungsfrist.

Der Blick zurück auf die historische Übereinkunft bot der Hans-Böckler-Stiftung und ver.di – Nachfolgegewerkschaft des standhaften Buchdruckerverbandes – Anlass genug zum Feiern. Der Meilenstein des Jahres 1873, betonte der ve.rdi-Vorsitzende Frank Werneke, „begründete die Praxis dessen, was heute Tarifautonomie ist“ – ein System von Tarifverträgen, „das Krieg und Diktatur überstanden hat und immer noch zeitgemäß ist“.

  • 150 Jahre Flächentarifvertrag

Das Tarifsystem hat Krieg und Diktatur überstanden, aber seit Jahren erodiert es

Er wolle aber nicht nur zurückschauen, sagte Werneke und mahnte zum nachdenklichen Innehalten. Immer mehr Unternehmen „erlauben es sich, Tarifbindung nicht zu wollen, zu unterlaufen und teils auch aktiv zu bekämpfen“. In den Zahlen, die Arbeitsminister Heil präsentierte, liest sich das so: In Westdeutschland arbeiten nur noch 54 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben, in Ostdeutschland sogar nur noch knapp 45 Prozent. Im Jahr 2000 befanden sich, Ost und West zusammengerechnet, noch zwei Drittel der Beschäftigten unter dem Dach von Tarifverträgen.

Heil las sowohl Gewerkschaften als auch den Arbeitgebern die Leviten. Es sei Aufgabe der Sozialpartner, den Negativtrend bei der Tarifbindung wieder umzukehren. Für die Gewerkschaften heiße das vor allem, dass sie Mitglieder gewinnen müssen. Auch bei der Fähigkeit und beim Willen zum Kompromiss sieht die Minister noch Luft nach oben. Dann kamen die Arbeitgeber an die Reihe. Die sollten „nicht nur ständig die negative Koalitionsfreiheit betonen“, also auf das Recht pochen, keinem Arbeitgeberverband anzugehören, „sondern die positive Koalitionsfreiheit auch nutzen“, betonte der Minister.

Hubertus Heil wirbt für Bundes-Tariftreuegesetz

Bei den mahnenden Ausführungen Heils zum geplanten Tariftreuegesetz rutschte der vor ihm sitzende Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BdA), ein wenig nervös auf seinem Stuhl hin und her. Es sei „kein Tarifdiktat, wenn man die öffentlichen Aufträge des Bundes an Tariftreue bindet“, warb der Minister für das Gesetzesvorhaben. Aufträge über 10000 Euro sollen künftig nur noch an Unternehmen vergeben werden, die ihre Beschäftigten nach Tarif bezahlen. „Ich kenne viele Unternehmen, die stolz darauf sind, dass sie eine Tarifbindung haben und die im Wettbewerb mit anderen nicht um die niedrigsten Löhne konkurrieren wollen, sondern um die Qualität ihrer Dienstleistungen und Produkte.“

Damit war das Terrain für die folgende Diskussion abgesteckt – fast freundschaftlich im Ton, aber hart in der Sache. Herta Laages, stellvertretende Betriebsratsvorsitzende der Regio-Kliniken, größter privater Klinikbetreiber in Schleswig-Holstein, berichtete von den Folgen der Tarifflucht bei den Krankenhäusern, wo sich im Zuge von Privatisierung und Outsourcing immer mehr Arbeitgeber aus dem Tarifvertrag verabschieden: Der Arbeitsdruck steigt, die Lohnunterschiede werden größer, die Arbeitsbedingungen schlechter.

Auf dem Podium: Freundlicher Ton, aber deutlicher Dissens

Claudia Bogedan, die Geschäftsführerin der Hans-Böckler-Stiftung wies mehrfach – zum Verdruss von Steffen Kampeter – auf den wichtigen Unterschied zwischen echter und „geschummelter“ Tarifbindung hin. Bei letzterer wenden die Unternehmen lediglich, hier mehr, dort weniger, einzelne Regelungen des Tarifvertrags an, sind aber nicht an das Vertragswerk als Ganzes gebunden. Dabei biete die echte Tarifbindung auch für die Arbeitgeber handfeste Vorteile. „Damit haben Sie die Beschäftigten auf Ihrer Seite“, erklärte Claudia Bogedan. „Dann haben Sie Leute im Betrieb, die wirklich wollen, dass es dem Laden gut geht.“

Kampeter wiederum warb um Verständnis für jene Arbeitgeber, „denen der Tarifvertrag in seiner jetzigen Ausgestaltung nicht passt, die aber für Tarifanwendung sind“. Das seien – im Vergleich zu tarifgebundenen Unternehmen – „nicht per se miese Arbeitgeber, die schlecht bezahlen“. Manche der mittlerweile hochkomplexen Tarifverträge seien „eher Einladungen zur Ablehnung als zum Eintritt“, sagte Kampeter und wünschte sich „mehr Nachdenken darüber, wie wir den Tarifvertrag für solche Unternehmen attraktiv machen“. Mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit, zum Beispiel.

Damit ließ die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Andrea Kocsis den Vertreter der Arbeitgeber allerdings nicht davonkommen. „Sie tanzen auf der negativen Koalitionsfreiheit herum“, hielt sie Kampeter entgegen, „Sie stehen auf der Bremse, das sag‘ ich hier mal ganz deutlich.“ Allein bei ver.di müsse man mittlerweile Jahr für Jahr 3000 Tarifverhandlungen bewältigen – und dies sei „auch eine Folge davon, dass der Flächentarifvertrag immer mehr auseinanderbröselt“.

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