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Streitgespräch zur EU-Sozialpolitik: Auf zu den Vereinigten Staaten von Europa?

Große Hoffnungen, große Skepsis: In der ersten Runde unserer Seminarreihe zur Zukunft der EU ging es um Wege zu einem sozialen Europa.

Von Eric Bonse

Die Europäische Union soll klimafreundlicher, digitaler und sozialer werden. Dies hat die Europäische Kommission in Brüssel versprochen - und mit ihrem Programm „Next Generation EU“ auch beachtliche Finanzmittel von den Mitgliedsstaaten aufgetrieben. Alles in allem sollen 750 Milliarden Euro in den Wiederaufbau nach der Corona-Pandemie fließen.

Dies weckt große Erwartungen und Hoffnungen, auch bei den Gewerkschaften. „Führt uns eine immer engere Union in der Wirtschaftspolitik in das soziale Europa?“, fragte die Hans-Böckler-Stiftung zum Auftakt einer Seminarreihe über die EU-Wirtschaftspolitik. Die Online-Veranstaltung war als Streitgespräch angekündigt - und das war es auch.

Solidarisch im Ton, aber hart in der Sache stritten Martin Höpner (Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung), Sophie Pornschlegel (European Policy Centre) und Gesine Schwan (Humboldt Viadrina Governance Platform) über den Aufbaufonds und die Sozialpolitik.

Einiges ist zuletzt in Bewegung geraten. Die EU hatte zwar bislang im engeren Sinn in der Sozialpolitik wenig zu melden, bis vor wenigen Jahren begnügte sie sich mit unverbindlichen Konsultationen der Sozialpartner. Die 2017 eingezogene „Säule sozialer Rechte“ beruht mehr auf Prinzipien als auf Taten - und der Aufbaufonds ist neu und erst ab Sommer einsatzbereit.

Stefan Körzell vom DGB-Vorstand lobte ihn dennoch als „Meilenstein, mit dem wir als Gewerkschaften nicht gerechnet haben“. Das Programm „Next Generation EU“ erinnere an den Marschallplan, mit dem der DGB vor neun Jahren aus der Finanzkrise kommen wollte. Nun gehe es „auf zu den Vereinigten Staaten von Europa“, so Körzell.

Weniger euphorisch stieg Bettina Kohlrausch in die Debatte ein. Die Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) mahnte, dass ohne eine aktive und partizipative Sozialpolitik, der Wandel nach Corona nicht gelingen werde.

Europaparlament ist kaum beteiligt

Noch mehr Wasser in den Wein goss Martin Höpner. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ taugten nicht als Leitbild für Gewerkschafter, da sie bei vielen Beschäftigten eine Abwehrreaktion auslösen würden. Zudem handele es sich um eine „unendlich deutsche“ Vision, die im Ausland nicht geteilt und eher als Drohung empfunden werde.

Dem stimmte Sophie Pornschlegel zu - in Frankreich sei mit den „Vereinigten Staaten“ kein Blumentopf zu gewinnen. Dennoch sollten sich die Gewerkschaften um ein neues Fortschritts-Projekt bemühen. Die Vereinigung von Wirtschafts- und Sozialpolitik auf europäischer Ebene sei ein erstrebenswertes Ziel.

Hatten sich zu Beginn des Seminars noch 69 Prozent der Teilnehmer für eine stärkere Steuerung der Wirtschafts- und Sozialpolitik durch die EU ausgesprochen, so überwogen fortan die kritischen Töne. Einen Automatismus zwischen einer aktiveren EU-Wirtschaftspolitik und einem sozialen Europa, da waren sich die Referenten einig, gibt es nicht.

Fortschritte müssen erstritten werden. Allerdings ist das Europaparlament an der Umsetzung von „Next Generation EU“ kaum beteiligt - das Sagen haben die EU-Kommission und die 27 Mitgliedstaaten. Die Kommission wiederum macht die Auszahlungen von Finanzhilfen von Reformplänen abhängig, die im „Europäischen Semester“ erarbeitet werden.

Die Empfehlungen aus dem „Europäischen Semester“ haben jedoch nichts mit den Zielen des Corona-Aufbaufonds zu tun, kritisierte Höpner. Die Methode der offenen Koordinierung in der Wirtschaftspolitik sei zwar gut, die Inhalte seien jedoch fragwürdig. Zudem versuche die EU-Kommission, die unverbindlichen Empfehlungen in autoritäre Anweisungen umzumünzen und sich neue Kompetenzen anzueignen.

Einen weiteren Aspekt brachte Gesine Schwan in die Debatte ein. Die EU sei nicht nur eine Vereinigung von Staaten, sondern auch von Bürgern. Wenn man wirklich sozialen und demokratischen Fortschritt erzielen wolle, müsse man die Bürger mehr einbeziehen, etwa auf der kommunalen Ebene. Dies sei auch wichtig, um die bisher „sehr übersichtliche“ demokratische Legitimation zu stärken.

Steuern als Integrationsschritt

Eine Möglichkeit wäre, Hilfsgelder aus dem Corona-Aufbaufonds direkt an die Kommunen auszuzahlen, sagte Schwan. Damit könne die EU Städten wie Warschau oder Budapest helfen, die mit Rechtsstaats-Problemen ihrer Länder zu kämpfen haben.

Doch welche Reformen braucht die EU, um das soziale Europa voranzutreiben? Dazu legte Höpner drei Vorschläge vor. Er plädierte für „soziale Haltelinien“, die nicht unterschritten werden dürfen, etwa beim Mindestlohn. Zudem brauche man eine soziale Mindestsicherung in den ärmeren EU-Ländern und auf dem Westbalkan. Last but not least gelte es, die Tarifvertragssysteme zu stärken, die zunehmend unter Druck geraten.

Pornschlegel setzte andere Prioritäten. Aus Sicht der Brüsseler Expertin müsse die EU neue Steuern einführen, um die Schulden aus dem Aufbaufonds finanzieren zu können. Dies wäre ein wichtiger Integrationsschritt, auf dem eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik aufbauen könne.

Wenn dieser Schritt nicht gelingen sollte, könnte die EU bald wieder den Gürtel enger schnallen, um die für „Next Generation EU“ aufgenommenen Schulden abzustottern. Für das soziale Europa wäre dies ein schwerer Rückschlag.

[19.3.2021]

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