Forschungsprojekt: Ostdeutsche Gewerkschafterinnen im Einheitsprozess

Eine Geschlechtergeschichte der deutschen Gewerkschaften seit 1990

Projektziel

Das Projekt befasste sich mit Transformations- sowie Selbstwirksamkeitserfahrungen ostdeutscher Gewerkschafterinnen und verband dies mit dem Aufbau der Gewerkschaften in Ostdeutschland nach 1989/90. Es verknüpfte damit Organisations-, Transformations-, Geschlechter- und Demokratiegeschichte. Über seinen historischen Beitrag hinaus trug das Projekt auch zur Resilienz der Demokratie bei.

Projektbeschreibung

Kontext

Die Integration Ostdeutschlands in die Bundesrepublik stellte nicht nur eine große wirtschaftliche und finanzielle Herausforderung dar, sondern war auch eine soziale und kulturelle Herausforderung, die ebenso den „Westen“ erfasste. Auch in den Gewerkschaften kam es zu Ko-Transformationsprozessen. Der Kategorie Geschlecht kam dabei eine wichtige Rolle zu. Denn in Ostdeutschland engagierten sich besonders viele Frauen für die Arbeit in den neuen Gewerkschaften, in denen sie zugleich mit zahlreichen Widerständen zu kämpfen hatten: einer männlich dominierten Organisations- und Diskurskultur, dem Bedeutungsgewinn des akademischen Feminismus in der gewerkschaftlichen Frauenarbeit und Entwertungen ostdeutscher Erfahrungen. In diesem Spannungsfeld mussten sich ostdeutsche Gewerkschafterinnen behaupten und anpassen. Am Beispiel ostdeutscher Gewerkschafterinnen wurden Handlungsspielräume und Identifikationsprozesse in der Transformationsgesellschaft konkret erforscht.

Fragestellung

Wie nahmen sich Frauen in Ost und West vor 1989/90 als politische Subjekte wahr? In welchem Verhältnis standen diese Diskurse zur Entwertung ostdeutscher Erfahrungen nach 1989/90?

Welche Rolle spielten Frauen beim gewerkschaftlichen Organisationsaufbau in Ostdeutschland nach 1990? Bedeutete ihre Integration einen organisationalen Feminisierungsschub?

Wie gestaltete sich die Personalpolitik westdeutscher Gewerkschaften in Ostdeutschland und welche Rolle spielten Frauen dabei? Gestalteten sich die Karrierechancen für ostdeutsche Frauen und damit auch die inneren Widerstände, an die sie stießen, von Gewerkschaft zu Gewerkschaft unterschiedlich?

Welche Rolle spielte die Kategorie Geschlecht für die Selbstverortung ostdeutscher Gewerkschafterinnen?

Lassen sich spezifisch ostdeutsch-weibliche Aneignungsprozesse gewerkschaftlicher Handlungsspielräume identifizieren?

Welche Rolle spielten Gewerkschafterinnen in lokalen und regionalen politischen Aushandlungsprozessen?

Untersuchungsmethoden

Die zeithistorische Studie verband verschiedene Methoden. Sie näherte sich ihrem Gegenstand zunächst aus einer organisationsgeschichtlichen Perspektive, indem sie die Karrierewege und Stellung von Frauen in ost- und westdeutschen Gewerkschaften vor 1989 sowie von ostdeutschen Frauen in den gesamtdeutschen Gewerkschaften in den 1990er Jahren analysierte. Verknüpft wurde dieser Ansatz mit einem erfahrungs- und diskursgeschichtlichen Zugang, welcher die sprachliche und semantische Ebene in den Blick nahm und mit Fragen nach (Handlungs-)Macht verband. Die vorwiegend aus Archiven und publiziertem Material gewonnenen Quellen wurden vor diesem Hintergrund unter dem Gesichtspunkt der agency ostdeutscher Gewerkschafterinnen gelesen. Ergänzt wurde das Quellenmaterial um bereits archivierte und selbst geführte Interviews, die Aufschluss über alltags- und erfahrungsgeschichtliche Dimensionen gaben, Erinnerungsnarrative offenlegten und nach Methoden der Oral History ausgewertet wurden.

Darstellung der Ergebnisse

Die Geschichte ostdeutscher Gewerkschafterinnen im Transformationsprozess ist von ambivalenten Erfahrungen geprägt. Ihre Erinnerungen vermitteln das Bild einer gelungenen Integration in die neuen Gewerkschaften, spiegeln aber auch die Grenzen der Partizipation wider. Damit gestalteten sich auch Ko-Transformationsprozesse ambivalent. Hinsichtlich der Mitgliedschaft und des Sozialprofils der Hauptamtlichen waren die Gewerkschaften in Ostdeutschland weiblicher. Die meisten hauptamtlichen Gewerkschafterinnen in Ostdeutschland waren bereits im FDGB beschäftigt gewesen, nur wenige hatten einen Oppositionshintergrund. Darin spiegelten sich unterschiedliche Politikverständnisse und Vorstellungen von Gleichstellung in der ostdeutschen Gesellschaft wider. Obwohl die Integrationspolitik der westdeutschen Gewerkschaften gegenüber dem Osten und Frauen unterschiedlich ausfiel, blieb der Handlungsraum ostdeutscher Gewerkschafterinnen oft auf die ostdeutsche Region beschränkt. Auch die gewerkschaftliche Gleichstellungspolitik erwies sich nur als begrenzt offen für ostdeutsche Erfahrungen. In der Region spielten Gewerkschafterinnen aber eine wichtige Rolle für die politische Kultur.

Projektleitung und -bearbeitung

Projektleitung

Dr. Christian Rau
Institut für Zeitgeschichte München-Berlin Abt. Berlin

Kontakt

Dr. Michaela Kuhnhenne
Hans-Böckler-Stiftung
Forschungsförderung