Projektbeschreibung
Kontext
Der Bereich einfacher Dienstleistungen in Deutschland ist geprägt von fehlenden Mitbestimmungstraditionen, Fragmentierung und Fluktuation der Beschäftigten sowie autoritären Führungsstrukturen, die den Aufbau betrieblicher Interessenvertretung behindern. Die Durchsetzung von Interessenvertretung bedeutet fast immer die harte Konfrontation mit einem mitbestimmungsfeindlichen Management. Betriebsräte erweisen sich aufgrund ihrer gesetzlich verankerten Rechte als eine wichtige Instanz, die Arbeitnehmerrechte wirksam durchsetzen. Um Betriebsratsgründungen voran zu treiben, greifen Gewerkschaften vermehrt zum Instrument der gezielten Kampagnen. Mit der Lidl-Kampagne der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di wurde der großangelegte Versuch unternommen, neuartige Mobilisierungs- und Organisierungsstrategien in der bundesdeutschen Realität umzusetzen. Die Lidl-Kampagne kann dabei auch als paradigmatisch für gewerkschaftliches Engagement im Bereich einfacher Dienstleistungen gelten.
Fragestellung
Die Lidl-Kampagne konnte relativ große mediale Wirkung erzielen, die sich in öffentlichen Druck auf das Unternehmen ummünzte und insbesondere Kundinnen und Kunden für das Thema menschenwürdiger Arbeitsbedingungen sensibilisierte. Nur geringe Erfolge konnten jedoch hinsichtlich der Mitgliedergewinnung bei den Lidl-Beschäftigten und hinsichtlich von Betriebsratsgründungen erzielt werden. Das Projekt rückt deshalb bei der Frage nach den Bedingungen, die zur Mobilisierung und Politisierung von ArbeitnehmerInnen im Bereich der einfachen Dienstleistungen mit kaum ausgebildeten gewerkschaftlichen Strukturen beitragen, die Perspektive der Beschäftigten ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Aus der Sicht der "Betroffenen" wurden positive und negative Entwicklungsbedingungen ausgelotet, denen der Aufbau von Interessenvertretung unterliegt. Zentral war dabei die Frage nach der Wirksamkeit des Kampagnenkonzepts (Organizing, Patenschaften).
Untersuchungsmethoden
Um Haltungen und Einschätzungen der Beschäftigten zu erfassen, wurden qualitative, leitfadengestützte Interviews zur Datenerhebung herangezogen. Insgesamt erwies es sich als überaus problematisch, Beschäftigte zur Teilnahme an der Untersuchung zu motivieren. Dies lag daran, dass die Kontakte zu Beschäftigten von gewerkschaftlicher Seite nicht zahlreich und in ihrer Struktur sporadisch und unverbindlich sind. Zusätzlich dokumentiert sich darin die Befürchtung vieler Beschäftigter, ihr Arbeitgeber könne von dem Gespräch erfahren.
Trotz der schwierigen Zugangsbedingungen zum Feld gelang es, in zehn Regionen Deutschlands (Ost und West) mit insgesamt 20 Beschäftigten Interviews in einer Länge zwischen 45 Minuten und 4 Stunden zu führen. Zur Vervollständigung der Informationen über die Kampagne und die gewerkschaftlichen Aktivitäten im Discountbereich wurden zusätzlich ExpertInneninterviews mit der Kampagnenleitung und mit Gewerkschaftssekretärinnen und -sekretären vor Ort geführt.
Darstellung der Ergebnisse
a) Die systematische Repression und offensiven Strategien des Managements zur Betriebsratsverhinderung verfestigen bei den Beschäftigten das tief greifende Gefühl völliger Machtlosigkeit. Die Vorstellung von der Legitimität eigener Interessen fehlt fast vollständig, prekäre Arbeitsbedingungen werden als Normalzustand wahrgenommen.
b) Die Beschäftigten verstehen sich nicht als Teil der Lidl-Kampagne, sie nehmen sie kaum wahr. Was sie wahrnehmen, ist der Druck auf sie selbst, sich zur Wehr setzen zu sollen. Jenseits von Interessenvertretungsfragen werden sie und ihre Arbeitsleistung nicht wahrgenommen, sie sehen sich auf den bloßen Opferstatus reduziert. Die vollständige Marginalisierung positiver oder auch nur unterschiedlicher Arbeits-Erfahrungen durch die Kampagne trägt dazu bei, dass Beschäftigte sich in die Defensive und zur Loyalität ihrem Arbeitgeber gegenüber gedrängt fühlen.
c) Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch den öffentlichen Druck wird von den Beschäftigten nicht als Erfolg der Kampagne wahrgenommen. Gleichzeitig nimmt mit der Verbesserung der Arbeitssituation der unmittelbare Problemdruck und die Ansatzpunkte für eine Politisierung der Beschäftigten ab.