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ERNESTO KLENGEL ist Referent für Arbeitsrecht am HSI der Hans-Böckler-Stiftung. Magazin Mitbestimmung

Zur Sache: "Zwölf Euro Mindestlohn verletzt nicht die Tarifautonomie."

Ausgabe 01/2022

Ernesto Klengel, Arbeitsrechtler am Hugo Sinzheimer Institut der Hans-Böckler-Stiftung, zur Ankündigung der Arbeitgeber, gegen die Erhöhung juristisch vorzugehen.

Der Mindestlohn sorgt wieder für Aufregung. Gegen das Vorhaben der Ampelkoalition, noch 2022 den Mindestlohn auf zwölf Euro pro Stunde per Gesetz anzuheben, wollen Verbandsvertreter der Arbeitgeber juristisch vorgehen. Der Vorwurf lautet: Der Mindestlohn verstoße gegen die Tarif­autonomie, das in Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz fest verankerte Recht, in Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften die Ar­beitsbedingungen zu fördern.

Die Argumente ähneln denen aus den Jahren vor 2015, als über die Einführung des Mindestlohns gestritten wurde: „Der Bundestag wird nie marktgerechtere Löhne festlegen können, als Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Gewerkschaften es können“, hieß es damals im Bundestag. Doch verletzt der Staat, indem er ein allgemeines Mindestentgelt regelt, sodass die Tarifparteien kein niedrigeres Entgelt vereinbaren können, tatsächlich die Tarif­autonomie?

Wohl kaum. Von A wie Arbeitszeit bis Z wie Zeitarbeit – Tarifverträge regeln viel mehr als die Vergütung. Auch für höhere Löhne lässt der Mindestlohn reichlich Spielraum: Wer in Vollzeit zum Mindestlohn von zwölf Euro arbeitet, geht am Monatsende mit 2000 Euro brutto nach Hause. Die meisten Tarifverträge liegen deutlich darüber. Niemand muss befürchten, dass ein Mindestlohn Beschäftigte davon abhält, sich am Arbeitsplatz zu organisieren, weil es ihnen „nicht schlecht genug“ geht oder weil sie darauf vertrauen, dass der Staat es richten ­werde.

Indem der Mindestlohn eine Referenz setzt, an der sich die Tarifparteien bei der Lohnfindung orientieren, trägt er dazu bei, die Position der Gewerkschaften am Verhandlungstisch zu stärken und in Niedriglohnbereichen Tariflöhne oberhalb des Mindestlohns festzulegen. In den Randbereichen der Arbeitswelt etabliert er einen überprüfbaren Mindeststandard. Um die Einhaltung des Mindestlohns zu überwachen und zu erwartende Umgehungsstrategien zu unterbinden, bedarf es allerdings weiterer Maßnahmen, etwa Kontrollen in den Betrieben.

Die Schwächung der Tarifbindung hat die Einführung des Mindestlohns erst auf die Tagesordnung gesetzt. Um dieses Grundproblem anzugehen, muss mehr getan werden. Diskutiert werden unter anderem digitale Gewerkschaftsrechte, Möglichkeiten zur Honorierung der Gewerkschaftsmitgliedschaft in Tarifverträgen, erleichterte Allgemeinverbindlichkeit und Tariftreue. Gebraucht werden aber auch kluge Strategien, wenn es da­rum geht, alte und neue Bereiche der Arbeitswelt gewerkschaftlich zu erschließen,  schließlich ist die Stärkung der Tarifautonomie immer auch Sache der Verbände selbst.

Auch ein weiteres Argument gegen den Mindestlohn trägt nicht: Zwar wird mit der Erhöhung auf zwölf Euro der Mechanismus der Mindestlohnfindung einmalig außer Kraft gesetzt. Die Mindestlohnkommission wird in diesem Fall nicht beteiligt. Doch erfolgt die Festsetzung des Mindestlohns auch nach dem Beschluss der Kommission stets über eine staatliche Rechtsverordnung – ­juristisch ändert sich also nicht viel.

Mit der Einführung des Mindestlohns bewegt sich die Ampelkoalition auch im Fahrwasser aktueller Entwicklungen in der Europäischen Union. Die Präsidentin der Kommission, Ursula von der Leyen, hat vor ihrer Wahl überraschend einen EU-weiten rechtlichen Rahmen für Mindestlöhne angekündigt. Die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne, die auch Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung vorsieht, wird derzeit in den europäischen Gremien abgestimmt.

So bleibt zu erwarten, dass die Aufregung um den Mindestlohn sich nach der Erhöhung schnell wieder legen wird.

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