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Magazin Mitbestimmung

Metall- und Elektroindustrie: Zwischen Betrieb und Fläche

Ausgabe 10/2013

Die Tarifvertragsparteien der Branche haben sich verpflichtet, in der Tarifrunde 2014 strategische Zukunftsfragen zu verhandeln. Kann damit der Rückgang der tarifgebundenen Unternehmen gestoppt werden? Von Stefan Schaumburg und Kay Ohl

Die Zahl der tarifgebundenen Unternehmen geht kontinuierlich zurück. Verstärkt sieht sich die IG Metall mit den Herausforderungen des Häuserkampfes konfrontiert. Doch dürfen selbst organisationspolitische Erfolge in einzelnen Betrieben nicht darüber hinwegtäuschen, dass die abnehmende Bindungsbereitschaft von Unternehmen unser politisches System und die Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Ganzen berührt und die Arbeitsbeziehungen verändert.

Für Arbeitgeber hat die Beachtung politischer und gesamtwirtschaftlicher Faktoren nur eine Funktion, solange dies der Entwicklung der einzelnen Unternehmen nützt. Die Arbeitgeberverbände als tarifschließende Parteien der Flächentarifverträge stehen vor diesem Hintergrund mit ihrer Politik und Programmatik im Spannungsfeld zwischen Flächentarifvertrag und Betriebsinteressen. Dass sie in diesem Spannungsfeld ihre Position, mitunter auch im Konflikt mit den Gewerkschaften, suchen und stets neu definieren, zeigt ein Blick in die Geschichte von Gesamtmetall wie auch die aktuellen tarifpolitischen Herausforderungen in und nach der Krise.

SELBSTVERSTÄNDNIS IM WANDEL

Bei seinem Amtsantritt als Präsident von Gesamtmetall hat Rainer Dulger vor einem Jahr erklärt, die partnerschaftliche Linie des Verbandes weiter zu verfolgen, die vor allem mit seinem Vorgänger Martin Kannegiesser in Verbindung gebracht wird. Was bedeutet dieses Selbstverständnis für die Rolle der Arbeitgeberverbände und ihre zukünftigen Aufgaben?

Die Gründung der metallindustriellen Arbeitgeberverbände 1890 hatte ein eindeutiges Ziel: Nach dem Ende der Sozialistengesetze ging es darum, die Bildung von Gewerkschaften zu be- und verhindern und den Zusammenschluss zur Abwehr von gewerkschaftlichen Streiks zu organisieren. Wenn Vertreter von Arbeitgeberorganisationen heute einen partnerschaftlichen Kurs öffentlich vertreten, beschreibt dies einen gewaltigen Wandel. „Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie sind in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden, ohne ihre Gegnerstellung je aufgegeben zu haben. Grundvoraussetzung dieser im Interessenkonflikt wurzelnden Verbindung ist allerdings das Vorhandensein von Demokratie, Marktwirtschaft und Tarifautonomie“, heißt es in der Festschrift „100 Jahre Gesamtmetall, Perspektiven aus Tradition“, die 1990 veröffentlicht wurde.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und vor dem Hintergrund der revolutionären Verhältnisse des Jahres 1918 sowie der Gründung der Weimarer Republik konnte mit dem Stinnes-Legien-Abkommen die Anerkennung der Gewerkschaften durch Arbeitgeber und ihre Verbände durchgesetzt werden.

Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland konstituierten sich auch die Arbeitgeberverbände neu. Ihr Selbstverständnis blieb jedoch zunächst unverändert. Mitbestimmung in der Stahlindustrie konnte von den Gewerkschaften während der Adenauer-Ära nur gegen den Widerstand der Arbeitgeber durchgesetzt werden. In der Phase des Aufbaus der Bundesrepublik Deutschland konzentrierten sich die Gewerkschaften auf die Verbesserung der materiellen Arbeitsbedingungen. Es ging um die Erhöhung der Löhne, die Verkürzung der Arbeitszeit, die Durchsetzung von mehr Urlaub und Urlaubsgeld. Die Arbeitgeberverbände, allen voran Gesamtmetall, sahen ihre Rolle darin, diese Entwicklung in ihrer Höhe zu begrenzen und zeitlich zu verzögern. Zur Abwehr von Streiks bildeten sie einen gemeinsamen Fonds, aus dem Betriebe Unterstützungsleistungen erhalten können, wenn sie von einer Gewerkschaft bestreikt werden.

Während die Gewerkschaften, beflügelt durch die Reformen der sozialliberalen Bundesregierung, in den 70er Jahren auch in der Tarifpolitik stärker qualitative Themen aufgriffen, zum Beispiel die Humanisierung der Arbeitswelt, behielten die Arbeitgeberverbände ihr Rollenverständnis bei, gewerkschaftliche Forderung abzuwehren. Dieser Gegensatz von Gestaltungswillen auf der einen Seite und Abwehr auf der anderen Seite eskalierte im Jahr 1984 in der Auseinandersetzung um die Einführung der 35-Stundenwoche in der Metall- und Elektroindustrie. Der damalige Präsident Wolfram Thiele beschrieb die Position von Gesamtmetall mit der Aussage, man würde „keine Minute unter 40 Stunden“ vereinbaren. Beflügelt wurde diese Position durch die Politik: Die Regierung Kohl tat die 35-Stundenwoche als dumm und töricht ab und griff mit der Verweigerung der Zahlung von Kurzarbeitergeld für kalt Ausgesperrte aktiv in das Arbeitskampfgeschehen ein.

NEOKORPORATISMUS VS. NEOLIBERALISMUS

Mit der Herstellung der deutschen Einheit änderten sich die politischen und ökonomischen Verhältnisse in Deutschland grundlegend. Die Rahmenbedingungen waren geschaffen für eine Politik des Neoliberalismus, die die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts prägen sollte. Das Verhalten der Arbeitgeberverbände, insbesondere Gesamtmetall, war jedoch zunächst von einer neuen Form des Korporatismus geprägt. Mit der Herstellung der deutschen Einheit bestand die Notwendigkeit, Löhne und Arbeitsbedingungen in den Betrieben der ehemaligen DDR neu festzulegen. Die Währungsumstellung nach dem politisch gesetzten Umrechnungskurs eins zu eins reichte nicht aus. Es ging darum, den Forderungen der Menschen gerecht zu werden, möglichst schnell eine Angleichung an die Einkommens- und Lebensverhältnisse im Westen Deutschlands zu erreichen und zugleich tarifpolitische Strukturen zu errichten, die dauerhaft tragfähig waren. Vor dem Hintergrund dieser Anforderungen gründeten sich in den neuen Bundesländern Verbände der Metall- und Elektrounternehmen. Die IG Metall vereinbarte mit Gesamtmetall die Übertragung der Tarifstrukturen westdeutscher Bundesländer auf die ostdeutschen Tarifgebiete. Der erste Tarifabschluss des Jahres 1990 sah einen Stufenplan zur Angleichung von Löhnen und Gehältern, die Verkürzung der Arbeitszeit, eine Verlängerung des Urlaubes und einen einjährigen Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen vor. Während die Regierung Kohl 1984 die Konflikte zwischen den Tarifvertragsparteien befördert hat, begleitete sie 1990 die Kooperation der Tarifvertragsparteien zur Herstellung von Tarifstrukturen in den neuen Ländern konstruktiv.

Die kooperative Vorgehensweise von Gesamtmetall änderte sich mit der Zunahme von Konflikten um Privatisierung und Betriebsschließungen in den neuen Bundesländern. 1993 kündigte Gesamtmetall erstmals abgeschlossene Tarifverträge außerordentlich. Es kam zu einem Streik um die Verteidigung des Stufenplans zur Angleichung der Arbeitsbedingungen mit dem Ergebnis, dass der Stufenplan im Grundsatz erhalten blieb, jedoch zeitlich gestreckt wurde. Auch im Westen nahm die Verteilungsauseinandersetzung zu. 1995 provozierten die Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie einen Arbeitskampf durch die Weigerung, vor Ende der Friedenspflicht ein Tarifangebot vorzulegen.

Der Arbeitskampf des Jahres 1995 in Bayern endete für die IG Metall erfolgreich. Die Metallarbeitgeber empfanden ihn als Niederlage und es setzte auf ihrer Seite eine Diskussion um die richtige Strategie ein. In einem ersten Schritt musste der damalige Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall, Dieter Kirchner, seinen Posten räumen. Im Arbeitgeberlager sahen sich aber auch diejenigen gestärkt, die einen stärkeren neoliberalen Kurs durchsetzen wollten. Hierfür stehen Hans Olaf Henkel („Ein Sargnagel für das Tarifkartell“, Ingenieur.de, 30.04.1999) und Michael Rogowski („Man müsste Lagerfeuer machen, und erst mal die ganzen Flächentarifverträge verbrennen“, Spiegel online, 11.03.2003). Die Gewerkschaften wurden durch eine neoliberale Ausrichtung der Politik in die Defensive gedrängt. Gleichzeitig musste Gesamtmetall aber auch feststellen, dass nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Arbeitgeberverbände selbst geschwächt wurden. Es zeigte sich, dass eine tariffeindliche Strategie für die Arbeitgeberseite zu kurzfristig angelegt war und das nicht nur aus verbandspolitischen Gründen.

Der nach der Tarifauseinandersetzung 1995 amtierende Präsident von Gesamtmetall, Werner Stumpfe, der gleichzeitig die Position des Hauptgeschäftsführers wahrnahm, versuchte vor diesem Hintergrund eine neue Tarifstrategie und auch eine neue Partnerschaft zu begründen. Die Strategie zielte darauf ab, das in der Metall- und Elektroindustrie bewährte Instrument des Flächentarifvertrages durch eine Öffnungsklausel für betriebliche Regelungen zu ergänzen. Gleichzeitig wollte er eine neue Partnerschaft begründen, die, in Anlehnung an den Kant’schen Imperativ, davon ausging, dass keine der beiden Seiten die jeweils andere mit unzumutbaren Forderungen konfrontieren sollte: „Wir wollen deshalb in einen offenen Dialog mit der IG Metall treten, um neue, für beide Seiten tragbare Wege der Konfliktvermeidung und Konfliktlösung zu erkunden“, hieß es 1997 in der „Frankfurter Erklärung“ von Gesamtmetall.

DER UNGEIST DER TARIFLOSEN BETRIEBE

Diese Strategiedebatte auf der Arbeitgeberseite löste bei der IG Metall ebenso eine Debatte über die strategische Neuausrichtung aus: „Für die inhaltliche und strukturelle Reform des Tarifsystems ... wird es keinen Königsweg geben. Dabei wird es zunächst darum gehen, die Geltung der heutigen Flächentarifverträge so weit wie möglich zu erhalten ... Darüber hinaus wird es notwendig sein, tarifliche Gestaltungsmöglichkeiten in den Betrieben zu erweitern“; konterte die IG Metall im gleiche Jahr mit ihren „Darmstädter Thesen“. Die praktische Weiterentwicklung des Tarifvertragssystems war jedoch weiter von sinkenden Mitgliederzahlen in den Verbänden der Metall- und Elektroindustrie geprägt. Mit der Strategiedebatte ließ sich der Ungeist der tariflosen Betriebe nicht wieder in die Flasche bekommen.

Die Verbände der Metall- und Elektroindustrie reagierten hierauf mit der Gründung von zusätzlichen Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung, oder änderten ihre Satzungen und führten zusätzlich den Mitgliedsstatus „ohne Tarifbindung“ ein. Besonders offensiv wurde die OT-Strategie in Bayern, dem Tarifgebiet der Tarifauseinandersetzung 1995, verfolgt. Die Mitglieder des VBM erhielten einen Doppelstatus mit und ohne Tarifbindung, der ihnen die Tarifflucht besonders leicht macht.

Einschneidend für das Tarifvertragssystem der Metall- und Elektroindustrie war zudem die Drohung der Regierung Schröder mit gesetzlich angeordneten betrieblichen Öffnungsklauseln. Die Arbeitgeberverbände erkannten, dass gesetzlich geregelte betriebliche Öffnungsklauseln den lohnpolitischen Konflikt auf die betriebliche Ebene verlagern würden und der Tarifvertrag dann seine Friedensfunktion nicht mehr erfüllen könnte. Für die IG Metall wären betriebliche Öffnungsklauseln der gesetzlich angeordnete Häuserkampf gewesen, unter den erschwerten Bedingungen der Friedenspflicht der handelnden Betriebsräte auf der einen Seite und der notwendigen Mobilisierung, um ein betriebliches Kräftegleichgewicht zu erreichen, auf der anderen Seite.

ERFOLGREICHE BEWÄHRUNGSPROBEN

Vor diesem Hintergrund vereinbarten IG Metall und Gesamtmetall das sogenannte Pforzheimer Abkommen. Sein Kern besteht in einer kontrollierten Dezentralisierung und der gemeinsamen Absicht, den Flächentarifvertrag dadurch zu stärken, dass betriebliche Abweichungen zwischen den Tarifvertragsparteien vereinbart werden können, jedoch stets nur befristet, mit der Zweckbestimmung Investitionen und Innovation zu fördern. Inwieweit diese Ziele erreicht wurden und welche Praxis sich auf der Grundlage des Pforzheimer Abkommens entwickelt hat, zeigt Thomas Haipeter in seiner Studie „Kontrollierte Dezentralisierung? Abweichende Tarifvereinbarungen in der Metall- und Elektroindustrie“ die in Ausgabe 3/2009 der Zeitschrift „Industrielle Beziehungen“ veröffentlicht wurde: Insgesamt ist mit Blick auf das Tarifsystem der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass von der Tarifabweichung stabilisierende Impulse ausgehen können; die Tarifabweichung ist nicht die Ursache der Probleme des Tarifsystems, sondern eine Reaktion auf diese Probleme.

Damit begründete sich ein neuer Konsens zwischen den Tarifvertragsparteien. Während Ende der 90er Jahre die Arbeitgeberverbände betriebliche Öffnungsklauseln gefordert und die Flucht aus der Tarifbindung gefördert haben, unternahmen sie mit dem Pforzheimer Abkommen den Versuch einer Konsolidierung des Tarifvertragssystems. Dieser Versuch war erfolgreich und wurde ergänzt durch einen nicht einfachen Prozess der Vereinbarung von gemeinsamen Entgeltrahmen-Tarifverträgen. Mit dieser Reform der Tarifstrukturen in der Metall- und Elektroindustrie wurde das Tarifvertragssystem auf eine neue Basis gestellt. Das kooperative Modell bewährte sich in der Krise des Jahres 2009. Die Tarifvertragsparteien der Metall- und Elektroindustrie, unterstützt durch die Bundesregierung, insbesondere durch Bundesarbeitsminister Olaf Scholz, verhinderten durch die offensive Nutzung des Instruments der Kurzarbeit und tariflich vereinbarter Rahmenbedingungen zur Senkung der sogenannten Remanenzkosten die Entlassung von Tausenden Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie.

Strategie, praktisches Handeln und auch das Selbstverständnis der Verbände der Metall- und Elektroindustrie haben sich stets gewandelt. Dieser Wandel wird beeinflusst durch die jeweilige ökonomische Situation, aber auch durch das jeweilige politische Kräfteverhältnis und Entscheidungen der Bundesregierung über Rahmenbedingungen für das Handeln der Tarifvertragsparteien. Vor diesem Hintergrund kann die Strategiebildung der Verbände der Metall- und Elektroindustrie nicht als abgeschlossen gelten.

NEIN ZUR EU-EINMISCHUNG IN DIE LOHNFINDUNG

Insbesondere die ökonomischen Herausforderungen in Europa erfordern neue Antworten. Die IG Metall hat schon 1998 den ersten Versuch unternommen, die Lohnpolitik in Europa zu koordinieren – die Erfolge blieben bescheiden. Leitbild der Koordination ist die Orientierung an einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik. Sie beruht auf der Annahme, dass Länder mit einer geringeren Produktivität eine Konvergenzstrategie einschlagen können, ohne dass es zu Wettbewerbsverzerrungen kommt. Diese Lohnkoordinierung hatte, soweit es um die tariflichen Entgelte geht, durchaus Teilerfolge, ökonomisch konnten die geplanten Ziele jedoch nicht erreicht werden, da die Staaten Europas keine Konvergenzstrategie verfolgten. In den südeuropäischen Staaten begründeten sich höhere Lohnsteigerungen nicht durch den stärkeren Anstieg der Produktivität, sondern durch höhere Preissteigerungsraten. In Deutschland wurde eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik durch den politisch geförderten Aufbau eines Niedriglohnsektors unterlaufen. Schwierigkeiten der tarifpolitischen Koordination haben auch verbandspolitische Ursachen. Sie liegen einerseits in unterschiedlichen Gewerkschaftstraditionen, andererseits aber auch darin, dass die Arbeitgeberverbände auf der europäischen Ebene bisher keine Notwendigkeit sahen, zur Koordinierung der Lohnpolitik beizutragen. Mit der Initiative der EU-Kommission, die Koordinierung der Lohnpolitik an sich zu reißen, ändert sich diese Sichtweise aber auch bei Gesamtmetall. Wie die IG Metall, so lehnt auch Gesamtmetall Eingriffe in die Tarifautonomie durch die europäische Kommission ab: „Wir lehnen eine Einmischung der EU in nationale Lohnfindungsprozesse bzw. Tarifverhandlungen ganz entschieden ab“, heißt es in einem gemeinsamen Brief von Gesamtmetall und IG Metall an Kanzleramtsminister Pofalla vom Februar dieses Jahres.

Der Weg jedoch, den die Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie in Europa gehen, ist keinesfalls klar vorgezeichnet. Die Richtung wird davon abhängen, welche Rahmenbedingungen die Politik auf der europäischen Ebene vorgibt. Notwendig ist ein Masterplan für die Weiterentwicklung der Arbeitsbeziehungen in Europa, mit dem das System autonom ausgehandelter Flächentarifverträge gestärkt wird und somit auch Ländern, in denen diese Tradition bisher nicht entwickelt ist, Anreize zum Abschluss von Flächentarifverträgen zu geben.

TARIFPOLITISCHES STRATEGIEDEFIZIT

Der Stellenwert der Tarifbindung, die seit Jahren leicht rückläufig ist, ist für die Beschäftigten nach wie vor eindeutig. So hat das statistische Bundesamt erst kürzlich wieder festgestellt, dass „Arbeitnehmer mit Tarifvertrag in der Industrie einen besonders großen Lohnvorsprung gegenüber Arbeitnehmern ohne Tarifvertrag haben“ – wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) Anfang August berichtete.

Neben der notwendigen Debatte auf europäischer Ebene und einer Europäisierung der Tarifpolitik ist auch in Deutschland ein Strategiedefizit festzustellen, das dringend bearbeitet werden muss. Dabei sind folgende Fragen zu klären: Wie kann die fortschreitende Ausdifferenzierung in den Branchen und Regionen weiterhin im Flächentarifvertrag abgebildet werden? Und: Wie kann die identitätsstiftende Wirkung von Auseinandersetzungen um Haus-, Anerkennungs- oder Firmentarifverträge auf den Flächentarifvertrag übertragen werden? Die IG Metall stellt fest, dass sie gerade dort, wo keine Tarifbindung besteht, Mitglieder gewinnen kann, um mit diesen gemeinsam diese Tarifbindung in Form von Haus-, Anerkennungs- oder Firmentarifverträgen sicherzustellen. Dies gilt auch für Handwerksbereiche. Dort, wo der Tarifvertrag einzelbetrieblich erkämpft werden muss, steigen die Organisationsgrade deutlich höher als in Betrieben, die unter den Flächentarifvertrag fallen und in denen die Beschäftigten quasi automatisch in den Genuss von Tarifverträgen kommen.

Hinzu kommt: Inwieweit ist Gesamtmetall bereit, die Interessen von Unternehmen zu vertreten, die im Wertschöpfungsprozess der Metall- und Elektroindustrie immer wichtiger werden, wie Forschung und Entwicklung, Dienstleistungs- und Logistikbereich?Die Debatte dazu wird von einer Verhandlungsverpflichtung aus dem Jahr 2012 strukturiert und damit die tarifpolitische Debatte im Jahr 2014 dominieren. In dieser Verhandlungsverpflichtung haben die Tarifvertragsparteien übereinstimmend festgehalten, dass die anstehenden Herausforderungen des demografischen Wandels und des absehbaren Fachkräftemangels aufgegriffen und die Auswirkungen gestaltet werden müssen, um langfristig als Branche wettbewerbsfähig zu bleiben und sichere Arbeitsplätze zu bieten. „Darüber hinaus sind aus Sicht der Tarifvertragsparteien Instrumente erforderlich, um dem fortschreitenden Strukturwandel in der Metall- und Elektroindustrie Rechnung zu tragen. Dabei stehen insbesondere die Sicherung einfacher und Förderung qualifizierter Tätigkeiten in Deutschland, die Zukunft industrienaher Dienstleistungen sowie alternsgerechte differenzierte und flexible Arbeitszeitmodelle, unter der Berücksichtigung der demografischen Entwicklung, im Vordergrund“, heißt es in der Verhandlungsverpflichtung.

Die Tarifvertragsparteien haben ihre Spitzenorganisationen beauftragt, Gespräche über diese Aspekte zu führen und zu prüfen, ob und in welcher Form zusätzliche tarifliche Regelungen geschaffen werden können. Dieser Prozess beginnt aktuell in der IG Metall.

Stefan Schaumburg ist Leiter des Funktionsbereichs Tarifpolitik beim Vorstand der IG Metall. Kay Ohl ist sein Vorgänger in dieser Funktion.

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