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Willy Brandt im Wahlkampf in München (1972): Unter seiner Kanzlerschaft wurde die Betriebs- verfassung runderneuert. Magazin Mitbestimmung

Geschichte: "Zeit für den nächsten Reformschub"

Ausgabe 01/2022

Der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler über die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes von 1972, über erweiterte Befugnisse von Betriebsräten und den Reformstau von heute. Das Gespräch führten Kay Meiners und Andreas Molitor.

Sie bezeichnen das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 als „neues Grundgesetz für Betriebsräte“. Warum hat es diese Bezeichnung verdient?

wolfgang däubler: Das Gesetz war ein bedeutender Fortschritt gegenüber seinem Vorgänger von 1952. Das war nach 20 Jahren völlig antiquiert. So war schon ein Verhalten verboten, das „geeignet war, den Betriebsfrieden zu gefährden“. Selbst die damals ausgesprochen arbeitgebernahe Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts sah sich veranlasst, darauf hinzuweisen, der Betriebsrat dürfe trotzdem dem Arbeitgeber widersprechen. Das muss man sich heute einmal vorstellen!

Das alte Gesetz passte nicht zu Willy Brandts Parole „Mehr Demokratie wagen“?

Die Wirtschaftswunder-Mentalität des „Ärmel-Aufkrempelns“ hatte sich spätestens mit der ersten Rezession Mitte der 1960er Jahre überlebt. Die Wahl von Willy Brandt zum Bundeskanzler 1969 brachte dann den entscheidenden Reformschub. Bundesarbeitsminister Walter Arendt, zuvor Vorsitzender der IG Bergbau und Energie, legte 1970 einen Gesetzentwurf vor, der weitgehend den Vorstellungen des DGB entsprach. Es gab allerdings schon Tarifverträge, die neue Mitbestimmungsrechte vorwegnahmen, etwa bei der Arbeitszeit, der Entlohnung und beim Urlaub.

Wo brachte die Novelle die größten Fortschritte?

Freistellungen, zuvor nur in Sondersituationen möglich, wurden erweitert und das Verfahren vereinfacht. In Betrieben von 300 bis 600 Beschäftigten war mindestens ein Betriebsrat voll freizustellen, bei 601 bis 1000 Beschäftigten sogar zwei. Das Recht auf Schulungs- und Bildungsveranstaltungen war nun gesetzlich fixiert, und der Arbeitgeber musste die Kosten tragen. Bei den Arbeitszeiten, bei Überstunden, bei Kurzarbeit und beim Arbeitsschutz konnten die Betriebsräte mitbestimmen. Als wichtigste Neuerung erwies sich später die Mitbestimmung bei der Einführung und Anwendung von Informationstechniken.

Im Jahr 1952 waren die Gewerkschaften strikt gegen das Gesetz. 20 Jahre später haben sie der SPD die Novelle sozusagen in den Block diktiert. Wie kam es zu dem Einstellungswandel?

Die Gewerkschaften hatten in den zwei Jahrzehnten seit der Verabschiedung des Gesetzes gelernt, dass die Betriebsräte, denen sie anfangs mit großer Skepsis gegenüberstanden, die beste Form gewerkschaftlicher Verankerung im Betrieb sind. Bis heute haben sie in den Betrieben ja nicht annähernd die gleichen Rechte wie die Betriebsräte. Sie haben erkannt, dass sie durch die Betriebsräte einen Fuß auf den Boden kriegen – und zwar nicht nur in einigen wenigen Großbetrieben.

Die Gewerkschaften haben ebenfalls von der Novelle profitiert.

Auch ihre Stellung wurde gestärkt, weil sie ein Zugangsrecht zum Betrieb bekamen. Außerdem waren Betriebsratsmitglieder in ihrer Betätigung für die Gewerkschaft frei. Die konnte außerdem ihre Mitglieder bei der Kandidatur unterstützen; Betriebsräte wurden in großem Stil von der Gewerkschaft beraten.

Was war damals Ihre persönliche Vision?

Ein halbes Jahr vor der Verabschiedung der Novelle war ich Hochschullehrer in Bremen geworden und verfolgte gebannt die Auseinandersetzung um das Gesetz. Uns ging es damals um mehr als diese eine Reform: Die Ausweitung der Mitbestimmungsrechte war für uns ein wichtiger Schritt zu einer besseren Gesellschaft, zu einem demokratischen Sozialismus. Autonome Betriebe in Beschäftigtenhand – das war in groben Umrissen unsere Vorstellung, der auch viele Gewerkschafter anhingen. Dass die Gewerkschaften für eine Vision standen, hat sie damals attraktiv gemacht.

Wie haben die Arbeitgeber versucht, das Gesetz abzuwenden?

Sie haben sich mit Händen und Füßen gegen die Ausweitung der Mitbestimmungsrechte gewehrt. Etliche ihnen nahestehende Juristen haben gebetsmühlenhaft wiederholt, das Gesetz sei verfassungswidrig. Allerdings haben die Arbeitgeber ihren eigenen Gutachtern nicht so richtig getraut; sie sind nicht vor das Bundesverfassungsgericht gezogen.

Wer hat auf der anderen Seite das Gesetz vorangebracht?

Es gibt nicht den einen Protagonisten, der flammende Reden gehalten hätte. Man muss aber Karl Fitting erwähnen, einen Mann, der als Ministerialdirektor im Arbeitsministerium eher im Hintergrund wirkte. Er hatte im KZ gesessen und konnte seine juristische Ausbildung nie zu Ende führen. Aber durch seine fachliche und soziale Intelligenz war er in eine sehr wichtige Position aufgestiegen. Fitting war ein Mensch, der sich sehr genau überlegte, was politisch machbar war und was nicht. Von ihm stammen viele Gesetzesformulierungen. Und er wusste auch, dass aus Karlsruhe nichts drohte.

Trotz aller Widerstände aus dem Arbeitgeberlager ging die Novelle glatt durch das Gesetzgebungsverfahren. Sogar CDU-regierte Bundesländer stimmten im Bundesrat dafür. Warum?

Unter den Beschäftigten gab es eine sehr deutliche Stimmung für den Gesetzentwurf. Die CDU hätte sich, wenn sie das Gesetz blockiert hätte, sehr unbeliebt gemacht. Dazu kam, dass das Gesetz ein Einspruchsgesetz und kein Zustimmungsgesetz war. Der Bundestag hätte den Bundesrat mit einfacher Mehrheit überstimmen können. Es war also taktisch klug, zuzustimmen. Auch im Bundestag hatten immerhin 21 CDU-Abgeordnete für das Gesetz gestimmt.

Heute wird wieder ein großer Stillstand beklagt, während große Trends wie die Digitalisierung und die ökologische Transformation die Arbeitswelt rasant verändern. Ist mit der Ampelkoalition wieder die Zeit für einen großen Wurf gekommen?

Ja, es ist wieder Zeit für eine Reform. Denken wir nur daran, was es bedeuten würde, den Betriebsräten Mitbestimmungsrechte beim Klima- oder Umweltschutz zu geben, sodass sie bei der Wahl zwischen einer umweltfreundlichen oder einer umweltbelastenden Produktion mitentscheiden könnten. Bei den Beratungen zum Koalitionsvertrag haben die Grünen sich für ein solches Recht starkgemacht. Doch die FDP ist hart geblieben. Im Koalitionsvertrag steht nur sehr vage, dass man die Mitbestimmung „weiterentwickeln“ wolle. Das sieht nicht nach einem großen Wurf aus. Der DGB wird in Kürze einen eigenen Reformentwurf präsentieren.

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