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Magazin Mitbestimmung

Von CARMEN MOLITOR: Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse: Die Kinder der Widerstandskämpfer

Ausgabe 10/2016

Reportage Die Wege ihrer Eltern kreuzten sich vor 80 Jahren – im Widerstand gegen die Nationalsozialisten. 1900 Gewerkschafter aus Wuppertal und Umgebung standen damals wegen Vorbereitung zum Hochverrat vor Gericht, ein Solidaritätskomitee aus Amsterdam machte die „Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse“ weltweit bekannt.

Von CARMEN MOLITOR

„Am 23. November 1941 wurde ich dir und deinem Vater durch die deutsche Gestapo weggeholt und in Untersuchungshaft gebracht. Sie beschuldigten mich des Hochverrats an Deutschland während der politischen Arbeit für das Wuppertal-Komitee. Du standst in Windeln im Laufstall und musstest eigentlich noch ins Bad. Du riefst immer: ‚Mama, Mama!‘ Da konnte ich die Tränen nicht zurückhalten.“

Das Mädchen, an das sich diese Zeilen richteten, sitzt im Sommer 2016 leicht gebeugt und nachdenklich in einem Sessel in einer lichtdurchfluteten Wohnung in der Nieuwe Keizersgracht in Amsterdam. Sinja Alma, heute 76 Jahre alt, hält ein mit Zetteln und Fotos gespicktes Buch auf ihrem Schoß. Es ist ein Tagebuch, das ihre inzwischen verstorbene Mutter Aleida Lie Heijnen Alma für sie während der Gestapo-Haft geschrieben hat. Sinja Alma blättert vorsichtig darin, zitiert kurze Textpassagen. Ihre Mutter hatte ihr die Aufzeichnungen erst übergeben, als Sinja 30 Jahre alt wurde. „Es war sehr schwer für mich, das zu lesen. Beim ersten Mal habe ich viel geweint“, sagt die Amsterdamerin in tastendem Deutsch. Neben ihr sitzt ihr Bruder Peter Alma. Der 72-Jährige dolmetscht, wenn ihr die deutschen Worte nicht einfallen wollen, und prüft ab und zu durch fürsorgliche Blicke, ob ihr das Erinnern nicht zu viel wird.

Mit der Geschichte leben

Was ihre Mutter Lie Heijnen erlebt hat, ist nicht nur Teil der Geschichte des niederländischen Widerstands, es ist auch ihre Familiengeschichte. Sinja Alma war elf Monate alt, als die Gestapo ihre Mutter verhaftete. Jeden Abend nahm der Vater sie auf den Arm, um mit ihr vor dem Gefängnis auf und ab zu spazieren. Lie Heijnen winkte ihnen stets mit einem roten Taschentuch durch die Gitterstäbe zu. Von ihrer Zelle aus hat sie ihre Tochter das erste Mal laufen gesehen.

Es war ein später Zugriff auf die junge Mutter, der den Nazis durch die Besetzung der Niederlande möglich wurde. Lie Heijnens „Verbrechen“ lag da schon fünf Jahre zurück. Sie hatte deutschen Gewerkschaftern geholfen, die in Wuppertal und Umgebung von den Nazis in Massenprozessen vor Gericht gestellt worden waren. Heijnen war ein führendes Mitglied im „Wuppertal-Komitee“, einem ungewöhnlichen Zusammenschluss linker holländischer Intellektueller mit Exilanten aus Deutschland. Die Amsterdamer Gruppe wollte – im Jahr der Olympiade in Berlin – den Blick der internationalen Öffentlichkeit auf die Verfolgung von Gewerkschaftern in Deutschland lenken und sammelte Geld für die Verhafteten und ihre Familien.

Lie Heijnen, eine angehende Lehrerin und überzeugte Linke, war 1935 nach einer gescheiterten Ehe aus der Provinz Groningen nach Amsterdam gezogen: „Sie traf dort auf vornehme Salon-Kommunisten“, erzählt ihr Sohn Peter Alma. „Das war eine neue Welt für sie. Da hat sie Beziehungen geknüpft und angefangen, sich für Frieden und Frauenrechte einzusetzen. Sie hatte Charisma und konnte gut reden.“ Die 26-jährige Pazifistin fand einen Job als Sekretärin im Druck-, Schreib- und Versandbüro der Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Selma Meijer. Als Meijer Vorsitzende des 1935 gegründeten „Centraal Comité Wuppertal Proces“ wurde, übernahm Lie Heijnen die Öffentlichkeitsarbeit. Sie reiste 1936 mit einer Delegation zu einem Gewerkschaftsprozess nach Wuppertal und machte ihre Erlebnisse öffentlich. Mit dem Ende der Prozesse 1937 beendete das Komitee seine Arbeit, Lie Heijnen wandte ihr Engagement den Demokraten im spanischen Bürgerkrieg zu.

Die Nazis hatten das Wuppertal-Komitee beim Einmarsch in die Niederlande nicht vergessen. Lie Heijnen sei „stark pazifistisch und fast überdemokratisch eingestellt“ und habe sich der „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens dringend verdächtig gemacht“, befand die Gestapo. 1941 verhafteten sie die junge Aktivistin und brachten sie ins „Huis van Bewaring II“, dem Gefängnis im Amstelveenseweg. Die Verhöre begannen.

Was dabei geschah, kann man heute im Archiv des NIOD, eines Amsterdamer Instituts für die Geschichte von Krieg und Holocaust, nachlesen. Sinja und Peter Alma zögerten, ob sie das tun sollten. „Wir fanden das heikel und ein bisschen intim“, sagt Peter Alma. „Denn um besser dazustehen, hat unsere Mutter auch Dinge gesagt, die nicht richtig waren. Wir sind die Kinder! Da ist es doch ein bisschen peinlich, wenn wir lesen, dass sie sich in dieser Weise verteidigen musste.“

Forscher mit Leidenschaft

Es war ein Wissenschaftler aus Deutschland, der Sinja und Peter Alma dazu ermutigte, die Akten dennoch einzusehen: Stephan Stracke. Was die Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse und das Wuppertal-Komitee angeht, ist der freie Historiker ein wandelndes Lexikon.

Stracke hat, finanziert durch ein Promotionsstipendium der Hans-Böckler-Stiftung, seine Doktorarbeit darüber geschrieben und auf dieser Basis ein dickes Buch über den Wuppertaler Widerstand verfasst. Aus dem Stand fallen ihm unendlich viele Namen und Details ein, oft überschlägt sich seine Stimme, weil er so viele Informationen in einer Antwort unterbringen möchte. Er hat mit vielen Zeitzeugen geredet, unzählige Dokumente gewälzt. Inzwischen rücken die Kinder der Widerstandskämpfer immer mehr ins Blickfeld: Stracke nennt sie die „zweite Generation“ und findet den Austausch mit ihnen spannend. Konfrontiert mit seinen Anfragen und den Erkenntnissen seiner Studien lernten sie ihre Eltern neu kennen und besser verstehen, erzählt er. „Die Kinder fangen jetzt an, von sich zu sprechen und wiederum ihren Kindern zu erzählen, was geschehen ist. Das ist total gut!“

Stephan Stracke ist kein Wissenschaftler im Elfenbeinturm. Er will, dass seine Forschung der Gesellschaft nutzt, und engagiert sich mit Leidenschaft im „Verein zur Erforschung der Sozialen Bewegung im Wuppertal“. Der Verein stellte schon viele antifaschistische Gedenkaktionen auf die Beine. Er setzte durch, dass vor dem Wuppertaler Landgericht ein Denkmal zu den Gewerkschaftsprozessen aufgestellt wurde, und organisierte in diesem Sommer ein Treffen von 70 Wuppertalern mit Angehörigen der Mitglieder des Wuppertal-Komitees in Amsterdam. Stracke glaubt, dass sein Engagement angesichts des Rechtsrucks in der deutschen Gesellschaft nötiger ist denn je: „Es gab früher eine Schranke gegen Rechtspopulismus und Naziparteien – ein Teil davon sind die Erinnerungsinitiativen gewesen. Die Gefahr ist da, dass diese Schranke keine große Wirkung mehr hat. Das muss man ernst nehmen!“

Stolz auf den Vater

Auch Rainer Gießwein, 69, hat durch die Arbeit von Stephan Stracke mehr darüber erfahren, was seinem Vater geschah, einem Schlosser, der sich als Gewerkschafter gegen die Faschisten auflehnte. Als vor drei Jahren seine Mutter starb, erbte er die Briefe, Essays, Skizzen und Tagebücher des Vaters und wertet sie seither akribisch aus. Arthur Gießwein sei ein „sehr fürsorglicher und liebevoller Mann“ gewesen, sagt sein Sohn. Von den Erfahrungen im Widerstand hatte er dem Sohn nur wenig erzählt. Rainer Gießwein nähert sich dieser Seite seines Vaters nun über das schriftliche Erbe. „Es ist ein interessanter Lebenslauf“, sagt er bedächtig. Er weiß selbst, dass das eine krasse Untertreibung ist.

Arthur Gießwein, Jahrgang 1904, hatte Schlosser gelernt und war schon früh Mitglied des Deutschen Metallarbeiterverbandes geworden. Die Gestapo verhaftete ihn 1933, weil er kurz nach Hitlers Machtergreifung Flugblätter verteilte, die zum Generalstreik aufriefen. Nach seiner Entlassung tauchte er ab und gründete eine illegale Gruppe der KPD in Wuppertal-Barmen. Als 1935 die Verhaftungswelle gegen Gewerkschafter einsetzte, floh Gießwein nach Holland. Eine neunjährige Odyssee begann: Gießwein kämpfte im spanischen Bürgerkrieg im Thälmann-Bataillon der Internationalen Brigaden, wurde danach in Frankreich interniert. Er musste als Fremdarbeiter für die französische Armee arbeiten, entkam und lebte unter falschem Namen in Frankreich. 1942 nahmen ihn deutsche Soldaten fest. Sie hielten ihn für einen Franzosen und deportierten ihn nach Deutschland, wo er auf der U-Boot-Werft der Nordseewerke AG in Emden als „französischer Zwangsarbeiter“ arbeitete und wegen seiner „ausgezeichneten Deutschkenntnisse“ oft als Dolmetscher fungierte. Im Oktober 1944 flog seine falsche Identität auf. Die Gestapo nahm ihn fest, er kam ins KZ Ostermoor.

„Es ist toll, so einen Vater gehabt zu haben“, sagt Rainer Gießwein bewegt. Er ist stolz, dass sein Vater den Nazis trotzte, fühlt eine Verantwortung, diese Geschichte öffentlich zu machen, und arbeitet an einer Biografie. Bei seiner Recherche fand Gießwein ein ungewöhnliches Foto: sein Vater, der arme Schlosser aus Barmen, im schicken Doppelreiher mit Hut. Es entstand im Exil in Amsterdam, wo Arthur Gießwein bei Lie Heijnen im Wuppertal-Komitee Schutz fand. Die Unterstützer hatten ihm gute Kleidung besorgt, damit er im Straßenbild nicht auffiel. Gießwein vergaß diese Hilfe nicht – er reiste schon kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges mehrfach nach Amsterdam und besuchte seine einstige Helferin. Auch ihre Kinder lernten sich damals kennen. Erst jetzt, im Alter, haben sie durch Stephan Strackes Forschung wieder losen Kontakt.

Komplizierter Neuanfang

Auch für Sinja Alma und ihren Bruder Peter ist die Annäherung an die Geschichte ihrer Eltern gleichzeitig bereichernd und emotional herausfordernd. Die Geschwister haben sich selbst nie politisch engagiert, aber sie können nachempfinden, warum die Mutter und auch der Vater Peter Alma, ein bekannter Künstler und überzeugter Kommunist, sich für die Verfolgten einsetzten. „Meine Eltern waren nicht richtig intellektuell, sie waren eher Gefühlsmenschen und idealistisch eingestellt“, beschreibt Sohn Peter. „Sie kämpften für eine bessere Welt.“ So ganz ist seine Schwester mit der These nicht einverstanden: „Es ging ihnen vor allem darum, vor dem Krieg zu warnen“, betont sie. Sie legt eine Kassette in den Rekorder ihrer Stereoanlage. Eine warme, kraftvolle Stimme erfüllt den Raum – es ist die Stimme ihrer Mutter bei einem öffentlichen Auftritt. Die Geschwister legen die Hände auf die Knie und hören mit geschlossenen Augen zu.

Lie Heijnen wurde nie der Prozess gemacht, die Gestapo entließ sie im Mai 1942 aus der Schutzhaft. Der Spitzenfunktionärin war es gelungen, in den Verhören den Eindruck zu erwecken, sie sei eine Mitläuferin gewesen. Sinja Heijnen erkannte ihre Mutter nach der Entlassung zunächst nicht wieder.

Auch zu dem Prozess gegen Arthur Gießwein ist es nicht gekommen. Kanadische Truppen befreiten das KZ, er musste in einem Lazarett wieder zu Kräften kommen. Dann besorgte sich der Schlosser ein Fahrrad und fuhr von Emden nach Wuppertal zurück. Dort half er, die örtlichen Gewerkschaften wieder aufzubauen.

Fotos: Karsten Schöne

WUPPERTALER GEWERKSCHAFTSPROZESSE

Sommer der Hoffnung

Wie internationale Solidarität die Beschuldigten in den „Wuppertaler Gewerkschaftsprozessen“ unterstützte

„Vorbereitung zum Hochverrat“ – so lautete der Vorwurf gegen 1900 Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus Wuppertal, Velbert, Remscheid und Solingen, die ab Januar 1935 von der Gestapo festgenommen wurden. 17 starben an den Folgen der brutalen Verhöre. Bis 1937 wurden 649 Mitglieder der inzwischen verbotenen Arbeiterorganisationen in Massenprozessen vor dem Volksgerichtshof und dem Oberlandesgericht Hamm verurteilt. Die Ereignisse gingen als „Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse“ in die Geschichte ein und wurden durch die solidarische Arbeit des „Wuppertal-Komitees“ in Amsterdam weltweit bekannt.

Anlass der Verhaftungswelle war, dass sich im Raum Wuppertal nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Zerschlagung der freien Gewerkschaften ab Mitte 1934 innerbetriebliche Widerstandsgruppen gebildet hatten. Als treibende Kraft fungierte die KPD, damals stärkste linke Gruppierung in der Region. Nachdem sie sich zuvor von den Sozialdemokraten extrem abgegrenzt hatten, suchten die Kommunisten jetzt in den Betrieben den Schulterschluss mit allen Linken.

Die Verhaftungen begannen am 17. Januar 1935 mit der Festnahme dreier Anführer des Widerstands. Hunderte folgten. Mit äußerster Brutalität verhörte die Gestapo ihre Gefangenen und zwang sie, Mitstreiter zu verraten: „Fast alle Festgenommenen haben geredet. Man kann das anhand der Protokolle aller 48 Teilprozesse nachvollziehen“, sagt der Historiker Stephan Stracke. Teilweise in Gruppen von bis zu 100 Personen wurden die Angeklagten bis 1937 vor Gericht gestellt. Zu den Hauptverfahren in Wuppertal reiste der Volks­gerichtshof an. Die Verurteilten erhielten hohe Haftstrafen, wurden nach ihrer Haft teilweise in KZs ermordet oder in Strafbataillone gesteckt.

Die Prozesse erlangten durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit der KPD und ihrer Unterstützungsorganisation „Rote Hilfe“ weltweite Berühmtheit. „Die Bezeichnung ‚Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse‘ war wie ein Markenname“, sagt Historiker Stracke. Im Mittelpunkt dieser Kampagne stand das „Wuppertal-Komitee“ in Amsterdam, ein Zusammenschluss von ins Exil geflüchteten deutschen Kommunisten und Gewerkschaftern und einflussreichen holländischen Intellektuellen. Niederländische Mitglieder der Gruppe besuchten regelmäßig die Prozesse und informierten die internationale Öffentlichkeit über deren Fortgang. Die Nazis waren davon überrumpelt. „1936 war für die Menschenrechtsarbeit ein guter Zeitpunkt“, erklärt Historiker Stracke. Die Olympiade in Berlin stand bevor, das internationale Interesse an Deutschland war hoch, und die Nazis versuchten, schlechte Presse zu vermeiden. In diesem Klima fanden die Berichte des Wuppertal-Komitees über Folterungen an Gewerkschaftern und rechtliche Willkür viel Resonanz. „Es war ein gut vorbereiteter Propagandacoup, ein Sommer der Hoffnung“, sagt Stracke. Doch das Interesse der Weltöffentlichkeit erlahmte wieder, und die Aktivisten wurden vor Gericht gestellt: Als die deutsche Armee 1940 die Niederlande besetzte, wurden zwölf Mitglieder des Wuppertal-Komitees getötet, andere kamen ins Gefängnis oder wurden in Konzentrationslager deportiert.

Stephan Stracke: Die Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse. Gewerkschaft­licher Widerstand und internationale Solidarität. Reihe Verfolgung und Widerstand in Wuppertal, Bd. 12. Bremen/Wuppertal, De Noantri 2012. 546 Seiten, 29,80 Euro

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