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Menschenmenge mit Fahnen und Luftballons bei Demonstration Magazin Mitbestimmung

Gesellschaft: WIR SIND DER SOUVERÄN

Ausgabe 01/2024

Die Mitbestimmung in der Wirtschaft ist ein Bestandteil der Demokratie. Doch um sie zu festigen, braucht es mehr denn je ein erweitertes Mandat der Gewerkschaften. Politische Bildung ist ein Teil davon. Von Kay Meiners

Ein falsches Wort, eine Irritation – schnell kann man die beste Absicht in den Sand setzen. Keiner weiß das so gut wie die Leute, die an der Front der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit stehen und das betreiben, was man heute „aufsuchende Bildungsarbeit“ nennt. Sie besuchen, oft eingeladen vom Betriebsrat, wenn es schon brennt, die Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz, in der Pause oder in der Kneipe um die Ecke, um über die Themen zu reden, die gerade die Gesellschaft polarisieren: Migration und Identität, Unzufriedenheit mit den Regierenden, Verschwörungstheorien und Geopolitik, Rassismus oder totalitäres Gedankengut. Die frisch studierte Referentin, die die Zuhörer belehrt, dass man nicht mehr „Farbige“ sagt, sondern „People of Color“ sagen soll, wird möglicherweise ebenso wenig ernst genommen wie der Bildungsexperte, der auf der Baustelle ohne Helm und Sicherheitsschuhe auftaucht. Oft brauche man im Vorfeld ein halbes Jahr, um Vertrauen aufzubauen, damit man in die Betriebe reinkommt, ist aus den Gewerkschaftszentralen zu hören. Und dass es wichtig sei, nicht mit fertigen Themenpaketen anzukommen, sondern zu fragen, wo es brennt. Vielleicht sagten die Leute dann: „Wir kriegen keine bezahlbare Wohnung. Die Ausländer sind schuld.“ Und vielleicht wird dann in einem Gespräch oder Seminar herausgearbeitet, wie der Wohnungsmarkt organisiert ist und warum er so schlecht funktioniert. So etwas könnte Ziel einer aufsuchenden Bildungsarbeit sein, die die Leute zum kritischen Denken ermächtigt. Das ist etwas vollkommen anderes als Frontalunterricht. So etwas aber fordert viel soziale Kompetenz und darf die Belegschaft nicht auseinanderreißen.

Neue und akzeptierte Formen der Ansprache sind dringend nötig. „Die tradierten Arbeiterbildungstraditionen sind nicht mehr intakt. Und die mediale Gesellschaft deckt eher zu, was eigentlich an Unbehagen und Empörung in dieser Gesellschaft ist“, schrieb der Soziologe Oskar Negt vor über einem Jahrzehnt in diesem Magazin: „Für einen gebildeten Arbeiter war es vor 100 Jahren selbstverständlich, bestimmte Bücher zu lesen wie August Bebels ‚Die Frau und der Sozialismus‘, ein vorzügliches Buch. Diese Bildungsbestände gibt es nicht mehr, aber sie sind notwendig für die Gewerkschaften, es sei denn, sie werden allmählich reduziert auf einen Abklatsch des ADAC.“

Negt warnte genau davor. Er schrieb, aus existenziellen Gründen könnten die Gewerkschaften nie normale Verbände werden, denn „dann hat man sie nicht mehr nötig“. Er machte Vorschläge, die an Aktualität nichts verloren haben. Er rief dazu auf, die Gewerkschaften müssten ihr Mandat erweitern, um ihre Rolle in der Demokratie voll ausspielen zu können. Er forderte, das gewerkschaftliche Mandat in vier Dimensionen zu erweitern: die Kultur, die unmittelbare Interessenvertretung, die allgemeine Politik – und die Vision einer humanen Gesellschaft.

Der Soziologe warnte vor einer Spaltung, deren Bruchlinien durch Teilhabe an Arbeit und Einkommen bestimmt sind: Einem Drittel in dieser Gesellschaft geht es gut, die haben gesicherte Arbeitsplätze und können so etwas wie Lebensplanung vornehmen. Das zweite, wachsende Drittel sind die prekären Lebensverhältnisse mit einer Fragmentierung von Arbeitsplätzen, was eine Lebensplanung unmöglich macht. Und das letzte Drittel ist die wachsende Armee der dauerhaft Überflüssigen – in einer kapitalistisch definierten Arbeitsgesellschaft. Das treibt die Gesellschaft auseinander.“

Spielerisch lernen

Lust auf einen kleinen Selbsttest, mit dem sich die Anfälligkeit für die Botschaften von Verschwörungstheoretikern testen lässt? Bereit für eine kleine Lektion über Verschwörungsideologien im Rap? Oder für ein kleines Memory-Spiel, bei dem man prominenten Verschwörungsschwurblern ihre wirren Zitate zuordnen soll?

Dann könnte eine Runde PuzzleGate genau das Richtige sein. Die von Arbeit und Leben Niedersachsen mit finanzieller Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung entwickelte Plattform besteht aus sechs Mini-Games zur Demaskierung von Verschwörungsideologien und ist auf allen digitalen Endgeräten abrufbar. „Wir wollten mit PuzzleGate ein möglichst niedrigschwelliges Angebot zur Auseinandersetzung mit Verschwörungsideologien schaffen“, erklärt Björn Allmendinger, stellvertretender Geschäftsführer von Arbeit und Leben Niedersachsen. „Der Einstieg ist einfach, man kann sofort starten.“

Zielgruppe: Jugendliche und junge Erwachsene, die mit dem klassischen Seminarangebot oftmals eher nicht zu erreichen sind. Das bewusst kurzweilig gehaltene digitale Bildungsangebot kommt an: Seit dem Launch wurde PuzzleGate schon mehr als 200 000 mal aufgerufen.

www.puzzlegate.de

Aktuelle Forschung aus dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass das Vertrauen in demokratische und staatliche Institutionen stark mit dem Einkommen zusammenhängt. Mehr als die Hälfte der Armen hat nur wenig Vertrauen in Parteien und Politiker. Rund ein Drittel vertraut dem Rechtssystem allenfalls in geringem Maße. Grundlegende Veränderungen wie die Digitalisierung der Arbeitswelt, Künstliche Intelligenz
und der sozialökologische Wandel haben ein großes Bedrohungspotenzial für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung.

Damit verknüpfte gesellschaftliche und arbeitsrelevante Abwertungsprozesse können in der Bevölkerung zu Anerkennungsverlusten, Entfremdungsgefühlen und einer institutionellen Verdrossenheit führen. Rechtspopulistische, antidemokratische und autoritäre politische Angebote, wie die AfD sie bietet, stellen für einige Menschen offenbar eine attraktive Alternative dar, was sich nicht zuletzt in der gestiegenen Wählergunst der Partei in den letzten Jahren zeigt.

Mitbestimmung kann dagegen die Erfahrung der Selbstwirksamkeit setzen. Bettina Kohlrausch, die Wissenschaftliche Direktorin des WSI, schrieb dazu, es ginge „vor allem darum, welche Rechte erwerbstätige Menschen brauchen, damit sie in materieller und demokratischer Hinsicht an der Gesellschaft teilhaben können“. Diese wirtschaftlichen Staatsbürgerrechte, so Kohlrausch, würden „durch direkte Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten, die Tarifautonomie, die Betriebsräte sowie die Unternehmensmitbestimmung verkörpert“, aber auch durch Regelungen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, Schutz vor unternehmerischer Willkür, Arbeitszeitregelungen sowie sozialer Absicherung im Alter und im Falle von Krankheit oder Erwerbsunfähigkeit. Sie schreibt: „Diese Rechte haben die Besonderheit, dass sie sich vom Status der Erwerbstätigkeit ableiten und somit vor allem für diejenigen gelten, die abhängig beschäftigt sind. Es sind die spezifischen Rechte des arbeitenden Souveräns.“ Hilfreich für die Stärkung der betrieblichen Möglichkeiten wäre neben einer Modernisierung der Betriebsverfassung mit stärkeren Mitbestimmungsrechten und der Forderung nach einer Stunde Demokratiezeit“ pro Woche, die zum Beispiel für Diskussionen genutzt werden könnte.

Ein offenes Ohr haben

Wir würden mit unserem Projekt „Politik zum Nachtisch“ gern auch über die Betriebsräte an die Belegschaften herankommen, aber hier in Sachsen, gerade in den kleinen und mittleren Firmen, gibt es vielfach gar keine Beschäftigtenvertretungen. Also bleibt uns meist nur der Weg über die Geschäftsführungen – und die erwarten einen wirtschaftlichen Mehrwert. Themen wie Diskriminierung, bei denen sie befürchten müssen, dass plötzlich Konflikte offen zutage treten und die Zusammenarbeit stören, werden vermieden. Besser ansprechbar sind sie auf praktische Themen aus dem Firmenalltag, die auch auf den Unternehmenserfolg einzahlen. Der Fachkräftemangel ist derzeit ein beliebtes Thema. Je mehr wir ein offenes Ohr haben, desto erfolgreicher unsere Akquise.

„Politik zum Nachtisch“ ist bewusst niedrigschwellig konzipiert. Am liebsten suchen wir das Gespräch mit den Beschäftigten bei einer verlängerten Mittagspause oder beim Sommerfest. Und dann muss man schauen, wie weit man kommt. Uns geht es ja darum, Dialogfähigkeit, Konfliktfähigkeit und Toleranz zu fördern. Das ist manchmal eine Gratwanderung. Es ist schwieriger geworden, weil immer mehr Leute ein geschlossenes Weltbild haben und den Dialog zunächst ablehnen. Vor ein paar Jahren traf man in einer Runde vielleicht auf zwei, drei Leute, die sich als harte AfD-Anhänger outeten. Heute ist es eher so, dass ich erst mal schauen muss, ob denn überhaupt jemand dabei ist, der den Themen offen gegenüber steht. Ziel ist es häufig, dass man überhaupt miteinander ins Gespräch kommt.

Nicolas Dietz, Projektumsetzung „Politik zum Nachtisch“ bei Arbeit und Leben Sachsen e.V.

Diese Rechte und die Erfahrung der Selbstwirksamkeit werden idealerweise durch Bildung gestützt und verstärkt. Zwar ist auch der Zugang zu Bildung nicht für alle gleich, aber sie ist nicht vom Erwerbsstatus abhängig und steht jedem offen. Zu lange haben wir uns in einer bürokratisch-demokratischen Gemütlichkeit eingerichtet, wohlwissend, dass die bürokratischen Mühen des Alltagsgeschäfts der Mitbestimmung allein nicht die nötige Strahlkraft besitzen, um das Bild einer humanen Gesellschaft zu zeichnen.

Doch diese Gemütlichkeit ist vorbei. Zwar tastet niemand die gesetzlichen Grundlagen der Mitbestimmung an. Doch seit Oskar Negt ein „erweitertes Mandat“ für die Gewerkschaften reklamierte, sind die Herausforderungen – vor allem in den letzten zehn Jahren – erheblich gewachsen. Veränderungen im deutschen Parteiengefüge, Kriege und neue Allianzen totalitärer und autoritärer Herrscher bedrohen die Bemühungen um Freiheit und demokratische Emanzipation heute stärker als zuvor. Die ökologische Transformation der Wirtschaft und die Sicherung der Freiheit werden viel Geld kosten, uns vielleicht sogar materiellen Wohlstand gegen neue Wohlstands- oder Wohlfahrtsmaße abwägen lassen, wie sie beispielsweise der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) umreißt.

Die materielle Ausstattung des arbeitenden Souveräns braucht aber auch eine ideelle Ausstattung, die sie nicht in jedem Fall automatisch hervorbringt. Sie braucht den Blick über den Tellerrand, historisch und geografisch. Ob das über Bücher, über Youtube, über E-Learning oder Onlinespiele geschieht, ist zweitrangig. Als Anfang der 1950er Jahre über die Montanmitbestimmung verhandelt wurde, besuchten Reporter des Nordwestdeutschen Rundfunks auch den DGB-Vorsitzenden Hans Böckler in Köln. Während die Unternehmerverbände tobten und die Einführung des Sozialismus durch
die konservative Regierung Adenauer an die Wand malten, verbanden sich mit diesem Gesetzesvorhaben in der Arbeiterschaft große Hoffnungen auf eine allgemeine Demokratisierung der Wirtschaft. Vor diesem Hintergrund bemühte Hans Böckler im Rundfunk ein Zitat Friedrich Schillers: „Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, vor dem freien Menschen erzittert nicht!“

Wir sind keine Sklaven oder Leibeigenen mehr. Aber wenn man den Blick von der Vergangenheit in die Gegenwart wendet, muss man nicht weit schauen, um auch im Jahr 2024 Entrechtung, Entmenschlichung und Mord zu finden. Man findet Entmenschlichung und Unterdrückung in den Sweatshops von Bangladesch, in den Plantagen Südamerikas, im chinesischen Xinjang, im russisch besetzten Mariupol und angedacht in den Reden extremistischer Politiker, die auch unsere Demokratie in einen Stresszustand versetzt haben. In dem, was man heute in den Betrieben jenseits des Tagesgeschäftes lernen und erfahren kann, spielen idealerweise die eigene Vergangenheit und die Gegenwart der anderen eine zentrale Rolle. Man könnte daraus eine Lehre ziehen: Es geht nicht nur darum, Demokratie zu lernen. Es geht auch darum, sie zu verteidigen.

Nicht mit der großen Keule

Mit unserem Projekt „DRIFT – Hand in Hand im Betrieb“ sprechen wir vor allem Betriebsräte sowie Jugend- und Auszubildendenvertreter an. Wir kommen nicht mit der großen Keule an, mit Rassismus etwa, da würden wir nur auf Ablehnung stoßen. Uns geht es primär darum, ein Gespür für betriebliche Hierarchien und Interessengegensätze zu entwickeln und Sozialkompetenzen zu stärken, die für die Auseinandersetzung im Betrieb wichtig sind.

Viele Betriebsräte im Osten sind im Umgang mit Konflikten völlig unerfahren. Kein Wunder, oft haben sie ja gar keinen Verhandlungspartner auf Arbeitgeberseite, vor allem bei verlängerten Werkbänken von Konzernen, allenfalls vielleicht einen Werksleiter, der alle paar Jahre ausgetauscht wird. Wir stärken die Soft Skills, machen die Leute erst mal konfliktfähig. Das ist die Basis für Arbeitskämpfe. Beim Streik müssen schließlich alle vor dem Tor stehen.

Mathias Grabow, Projektleiter bei Arbeit und Leben Sachsen-Anhalt e.V.

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