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Magazin Mitbestimmung

: Wir setzen uns zusammen

Ausgabe 07/0

Wenn das Wort "Mittelstand" noch irgendwo Sinn macht, dann bei Firmen wie dem Ulmer Jagd- und Sportwaffenhersteller Anschütz. Mit dem Betriebsrat war es früher schwierig, doch in den letzen Jahrzehnten hat sich eine gute Zusammenarbeit entwickelt.

Von Ingo Zander.
Der Autor arbeitet  als freier Journalist in Kerpen.

"Ich repräsentiere jetzt die fünfte Generation der Familie in der Geschäftsführung", erzählt Jochen Anschütz stolz. Er ist nun 40 Jahre alt - aber schon mit 14 wusste er, dass er dieses Unternehmen gern einmal führen würde. "Ich habe selbst schon als Kind erlebt, wie die Kunden bei uns zu Hause ein- und ausgingen. Leidtragende war wohl meine Mutter. Oft kam der Anruf meines Vaters: ‚Ich bringe noch mal drei, vier Leute mit zum Mittagessen.‘" Großabnehmer kamen, Kleinabnehmer, Nationalschützen und Olympiateilnehmer aus der ganzen Welt. "Die persönliche Kundenbetreuung war meinem Vater, der selber auch gerne schießt, immer sehr wichtig." Die sechste Anschütz-Generation steht schon bereit: zwei Söhne, zehn und dreizehn Jahre alt, und eine Tochter, acht Jahre.

Kurz nach dem Krieg durfte man wieder schießen

Als Anfang der 50er Jahre in der Bundesrepublik das Sportschießen wieder erlaubt war, gründeten Max und Rudolf Anschütz, die dritte Generation der Familie, das Traditionsunternehmen, das vorher in Zella-Mehlis im Thüringer Wald zu Hause war, in Ulm neu. Ab 1953 durften private Jäger wieder Waffen besitzen, was dem Betrieb einen Boom bescherte: "Unsere Firma wurde von plötzlich wieder auftauchenden Jagdgewehren überschwemmt, die Rost angesetzt hatten und überholt werden sollten", weiß Jochen Anschütz aus den Erzählungen seines Vaters. Seine Eltern fuhren 1960 auf ihrer Hochzeitsreise zur Olympiade nach Rom, wo sie mit Werkzeug und Kleinkaliber-Sportgewehren direkt bei den Wettkampfschützen vorsprachen." Offenbar mit Erfolg: 1964, 1968 und 1972 wurden alle olympischen Goldmedaillen in den Kleinkaliber-Disziplinen mit Anschütz-Gewehren gewonnen. Die Erfolgsserie ist bis heute nicht abgebrochen. Das brachte dem Unternehmen international einen enormen Imagegewinn - "Anschütz, die Meistermacher" heißt seitdem der Werbeslogan.

Jochen Anschütz lernt sein Handwerk von der Pieke auf - nach den Stationen Realschule und Wirtschaftsgymnasium absolviert er die Berufsakademie und erwirbt das Diplom als Betriebswirt. Die baden-württembergischen Berufsakademien bieten die Qualifizierung einer Fachhochschule und schließen - das ist die Besonderheit - die Ausbildung als Kaufmann in einem Lehrbetrieb mit ein. Nach seinem Dienst bei der Bundeswehr arbeitet Jochen Anschütz 1 1/4 Jahre bei einem Munitionshersteller in den USA. Im Jahre 1992 übernimmt er im Alter von 28 Jahren zusammen mit seinem Vater Dieter die Geschäftsführung der J.G. Anschütz GmbH & Co. KG. "Leider erst nach Streitigkeiten unter den Inhabern, die aus zwei Familienzweigen kommen", erklärt er. Das sei in mittelständischen Familienunternehmen durchaus typisch. Schon in der dritten Generation seien sich die Familien Max und Rudolf Anschütz nicht mehr "grün" gewesen. "Das setzte sich zwischen meinem Vater und seinem Vetter fort."

Eine Aussperrung stärkte die Gewerkschaften

Einen Betriebsrat als ernst zu nehmenden Faktor gibt es erst, seitdem die Belegschaft 1982 im Kontext einer tariflichen Auseinandersetzung mit der IG Metall ausgesperrt worden war. "Auf Druck des Arbeitgeberverbandes", erklärt Jochen Anschütz mit leisem Bedauern. "Mein Vater hat sich damals dagegen gewehrt, aber wir mussten es tun." Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in dem Unternehmen stieg anschließend sprunghaft an. Vor der Aussperrung waren rund 15 bis 20 Prozent der Belegschaft in der IG Metall organisiert, heute sind es knapp 60 Prozent.

Bald musste sich die Geschäftsführung mit einem immer selbstbewussteren Betriebsrat auseinander setzen. "Wir hatten in den 80er Jahren einen Geschäftsführer, der - was die Arbeitnehmerrechte anging - jedes Komma dreimal herumdrehte, in der Hoffnung, den Betriebsrat noch ein bisschen in die Pfanne hauen zu können", meint Jochen Anschütz. "Und da kam er bei unserem alten Betriebsratsvorsitzenden gerade an den Richtigen. Der hat nämlich die Paragrafen des Arbeitsrechts auch bestens gekannt. Und dann haben sich die beiden Kampfhähne gegenseitig aufgestachelt."

Jochen Anschütz wollte in einem solchen Klima des Misstrauens nicht arbeiten. "Als der junge Anschütz dann zwei Jahre im Haus war, hat sich das Verhältnis zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung entkrampft", erinnert sich Reimund Deuschle, der damals noch einfaches Mitglied im Betriebsrat war. Mittlerweile ist er der stellvertretende Vorsitzende.

Fast zwei Jahrzehnte lang hatten sich Unternehmensführung und Arbeitnehmervertretung das Leben gegenseitig schwer gemacht. "Die haben sich gestritten, ob die Betriebsvereinbarung auf dem Papier der Geschäftsleitung geschrieben werden muss oder auf dem des Betriebsrates." Beide Seiten kannten nur die Logik des Nullsummenspiels. "Wenn eine Seite eine Idee hatte, ,Mensch, das ist gut für die Belegschaft!‘ hat die andere Seite überlegt: ,Wie will der mich damit reinlegen?‘" so Deuschle. Jahrelang blockierte die Geschäftsführung die Einführung der Gleitzeit - nur, weil der Vorschlag vom Betriebsrat kam.

Deuschle wollte in einem solchen Klima nicht mehr als Betriebsrat wirken. Er war es satt, Monate um eine Betriebsvereinbarung mit der Geschäftsführung kämpfen zu müssen: "Ich habe darum gekämpft, dass der Betriebsrat die Konfrontationshaltung gegenüber der Geschäftsleitung aufgibt." Dafür bekam er die Quittung: Mitte der 90er Jahre wurde er nicht mehr in den Betriebsrat gewählt.

Heute legt der Chef die Bilanzen offen

Jochen Anschütz signalisierte dem Betriebsrat schon bald, dass er an einer vertrauensvollen Zusammenarbeit interessiert war. Ab sofort sollte der Betriebsrat Einblick in alle geschäftlichen Daten erhalten. "Ich habe mir dafür damals in der Geschäftsleitung und bei den leitenden Angestellten sehr viel Schelte eingehandelt."
Man dürfe dem Betriebsrat nicht nicht so tief in den Betrieb hineinschauen lassen, hieß es. "Erstens geht die das grundsätzlich nichts an, und zweitens besteht die Gefahr, dass Betriebsgeheimnisse den Weg in die Öffentlichkeit finden." Auch der damalige Betriebsrat verharrte in einer skeptischen Abwartehaltung. "Der junge Anschütz mag das ja ernst meinen, aber sein Vater kann ihm doch jederzeit wieder einen Strich durch die Rechnung machen", erinnert sich Jochen Anschütz.

Die grundlegende Verbesserung des Verhältnisses zwischen Geschäftsführung und Betriebsrat gelang erst, als der frühere Betriebsratsvorsitzende Ende der 90er Jahre in den vorzeitigen Ruhestand ging.

"Wir haben uns gesagt, wir müssen unsere Strategie ändern - aufeinander zugehen und kooperieren", erklärt Jürgen Nold, der damals den Vorsitz des Betriebsrates übernahm. Nold wusste: Der neue Geschäftsführer sieht den Betriebsrat als Faktor, der bei Unternehmensentscheidungen ernst genommen wird, weil er die Rechte des Betriebsrates grundsätzlich anerkennt, nicht nur aus taktischen Gründen. "Ich habe schon selbst erlebt, wie hilflos Arbeitnehmer im Konfliktfall dastehen können, wenn im Unternehmen kein Betriebsrat existiert", meint Anschütz sogar. "Ich bin kein Paragrafenhengst - wir setzen uns zusammen, diskutieren die unterschiedlichen Standpunkte und kommen dann zu einer Einigung. Das gesprochene Wort zählt genauso wie eine schriftliche Betriebsvereinbarung", so beschreibt Nold das neue Arbeitsverständnis von Betriebsrat und Geschäftsführung.

Acht Stunden unbezahlte Mehrarbeit im Monat

Ein Klimawechsel, ohne den im September 2003 der Standortsicherungsvertrag bei Anschütz wohl nicht nach nur acht Wochen Verhandlungen hätte abgeschlossen werden können. "Wir mussten unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken, weil wir auf die Dollarabwertung gegenüber dem Euro zu reagieren hatten", betont Anton Wahler. Er ist bei Anschütz zuständig für das Finanzwesen und die Personalwirtschaft. "Es gibt Unternehmen, die lagern nach Osteuropa aus und können darüber billiger am Markt auftreten. Wir wollten das nicht."

Der Preis: Die Belegschaft sollte umsonst acht Stunden im Monat länger arbeiten. Die Geschäftsleitung sollte erst einmal der IG Metall die Bilanzen offen legen, obwohl sie in früheren Zeiten der Gewerkschaft gegenüber eher ablehnend eingestellt war. Jürgen Nold: "Alle Belegschaftsmitglieder durften abstimmen - und zu unserer eigenen Überraschung stimmten 100 Prozent der unbezahlten Arbeitsverlängerung zu." Normalerweise dürfen nur Gewerkschaftsmitglieder über einen Standortsicherungsvertrag abstimmen. "Aber wir haben uns bewusst dafür entschieden, alle abstimmen zu lassen", unterstreicht Jürgen Nold. Der Vertrag hat eine Laufzeit von drei Jahren. 

Wie geht man mit einem Diebstahl um?

Im Frühjahr 2004 überraschte Personalchef Anton Wahler einen langjährigen Mitarbeiter bei dem Diebstahl von Kartonagen. Wahler fackelte nicht lange und sprach nach interner Beratung die fristlose Kündigung aus. Die Belegschaft und der Betriebsrat waren ob dieser Härte konsterniert. "Das war doch nur Müll, was der mitgenommen hat", echauffiert sich Jürgen Nold noch heute. "Ich habe probiert, den Diebstahl ins Lächerliche zu ziehen", sagt er, "das war meine einzige Hoffnung. Und wir drohten der Geschäftsführung damit, die friedvolle Zusammenarbeit aufzukündigen." Nold war empört über die Härte der Geschäftsführung - Jochen Anschütz irritierte es, "wie plötzlich von Seiten der Betriebsräte hier die Wand aufgefahren worden ist - das ist man nicht mehr gewohnt gewesen."

Wahler hebt den Aspekt Sicherheit hervor. "Es waren zwar nur Kartonagen. Die Frage war aber eine andere: Was für ein Signal gebe ich an die Belegschaft, wenn ich auf die Entlassung verzichte?" Der Diebstahl war bereits öffentlich geworden. "Damit war klar, wir mussten zeigen, dass selbst der kleinste Diebstahl in einem Unternehmen, das Waffen herstellt, geahndet wird." Die Belegschaft reagierte "total verstört", erinnert sich Nold.

In der Montageabteilung legten rund dreißig Kollegen des Entlassenen unisono die Arbeit für einige Stunden nieder - allerdings im Schutze der Gleitzeitregelung. Wochenlang war das Betriebsklima gestört. Zum Schluss erreichte der Betriebsrat immerhin, dass die Geschäftsführung auf einen Strafantrag gegen den Familienvater verzichtete. Doch der Schrecken, so scheint es, steckt beiden Seiten noch in den Gliedern. "Diese Konfrontation ist an uns allen nicht spurlos vorbeigegangen", resümiert Jochen Anschütz.

 

Das Unternehmen

Im Jahre 1856 gründet Julius Gottfried Anschütz, Sohn eines Büchsenmachers, mit 1000 Talern Startkapital die Firma J.G. Anschütz in Zella-Mehlis im Thüringer Wald. Das Unternehmen produziert verschiedene Pistolen und Schrotflinten und beschäftigt 1896 bereits 76 Mitarbeiter. Im Zweiten Weltkrieg erreicht der Mitarbeiterstamm mit rund 600 Beschäftigten durch Rüstungsaufträge für die Wehrmacht einen Höhepunkt. Nach der vollständigen Demontage und Enteignung des Unternehmens findet 1950 in Ulm ein Neubeginn statt. Die Firma J.G. Anschütz GmbH & Co. KG erwirtschaftet heute mit rund 160 Mitarbeitern einen Umsatz von ca. 14 Millionen Euro - jeweils zur Hälfte durch Jagd- und Sportwaffen.

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