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Magazin Mitbestimmung

Interview: „Wir müssen verdammt schnell handeln“

Ausgabe 04/2013

Raymond Torres, Direktor des Genfer ILO-Instituts für Arbeitsmarktforschung, erklärt, warum die Beschäftigungskrise in Europa auch die Schuld der Regierungen ist und warum Jugendliche eine Jobgarantie und Alleinerziehende mehr Schutz brauchen. Das Gespräch führten Margarete Hasel und Michaela Namuth

2009 hat die ILO einen Global Jobs Pact vorgeschlagen, um die weltweite Beschäftigungskrise zu bekämpfen. 2012 berichtete ILO-Generaldirektor Guy Ryder, dass seit Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008 insgesamt 30 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen sind. Allein in der Eurozone sind es 3,5 Millionen. Das ist keine gute Bilanz. Was ist schiefgelaufen?
Das Problem ist vor allem die Politik der europäischen Regierungen seit 2010. Das Gebot der Stunde in der Eurozone heißt seither Austerität. Doch die europäischen Wirtschaftssysteme hätten, im Gegenteil, staatliche Unterstützung benötigt. Die Krise begann in ein paar Ländern und breitete sich weiter aus, von Griechenland und Irland bis Italien, Spanien und Frankreich, und bedroht heute ganz Europa.

Die Krise wurde von der Politik gemacht?
Die Politik hat zumindest keine Maßnahmen getroffen, um die Hauptursachen der Krise zu bekämpfen. Und eine der Hauptursachen ist die Instabilität und Ineffizienz der Finanzsysteme, deren Folge eine immer ungleichere Verteilung ist. Die meisten Regierungen haben sich darauf konzentriert, Ausgaben zu kürzen und den Banken zu helfen. Es wurde aber wenig getan, um das Finanzsystem zu reformieren. Das Ergebnis ist, dass dieses System in vielen Ländern nicht in der Lage ist, Kredite für die Wirtschaft zu vergeben, die notwendig wären, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Gleichzeitigkeit von globaler Finanzkrise und staatlicher Sparpolitik ist für die reale Wirtschaft ein Desaster.

Warum haben die Regierungen so gehandelt?
Vielleicht schrecken sie vor Interventionen in ein so komplexes System zurück, vielleicht blocken die Lobbys der Finanzwelt staatliche Eingriffe ab. Dabei gibt es auch Länder wie Schweden, von denen man hätte lernen können. Hier wurde das Bankensystem in der Krise der 90er Jahren vorübergehend verstaatlicht und die Kontrolle des Managements verschärft. Sowohl der Staat wie die Banken konnten weiter in die Wirtschaft und in neue Jobs investieren. Die Investitionen der Eurozonenländer in Produktionsmaschinen und Arbeitsgerät hingegen lagen 2012 bei 6,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, das ist fast ein Prozentpunkt weniger als vor 2007.

Diesen Zustand beschreiben Sie im jüngsten „World of Work Report“ der ILO als „Austeritätsfalle“, in die viele europäische Regierungen hineingestolpert sind. Worin besteht die Falle?
Die politischen Akteure haben die Wucht der Krise unterschätzt und keine Langzeitstrategie entwickelt. Sie glaubten, durch strenge Sparpolitik Vertrauen schaffen zu können, sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den Unternehmen. Und dass dies – zusammen mit Arbeitsmarktreformen – zu Wachstum und Beschäftigung führen würde. Das ist nicht geschehen. Austeritätspolitik führt weder zu mehr Vertrauen noch zu mehr Wachstum, und auch die Staatsschulden wurden kaum verringert.

Trotzdem stehen manche Länder besser da als andere. Was haben die besser gemacht?
Die Situation ist natürlich nicht überall gleich. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Der erste ist das unterschiedliche Ausmaß des Missmanagements im Finanzsystem. Es war am ausgeprägtesten in Großbritannien, Irland, Spanien, Portugal und natürlich in Griechenland. Der zweite Grund für das unterschiedliche Abschneiden ist die Wettbewerbsfähigkeit der Länder. Deutschland und die Niederlande stehen unter beiden Gesichtspunkten besser da. Allerdings haben auch diese Länder immer mehr Probleme. Heute steigt die Arbeitslosigkeit in nahezu allen EU-Ländern.

Dennoch ist die Situation in Spanien eine andere als in Deutschland. Viele Ökonomen sehen in den Hartz-Reformen einen wichtigen Grund für die günstige Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt.
In Deutschland wurden Arbeitsmarktreformen eingeleitet und Lohnanpassungen ausgehandelt, bevor die Krise da war – also vor 2007. Das war eine günstige Voraussetzung. Fast noch wichtiger aber ist, dass nicht nur Deutschland, sondern auch seine Nachbarn Österreich, Frankreich und auch Italien bis vor Kurzem Wirtschaftswachstum verzeichneten. So konnte Deutschland, wo die Produktionskosten durch eine moderate Lohnpolitik gedrosselt wurden, in diese Länder exportieren und mehr als andere von der Eurozone profitieren. Das war eine einzigartige Situation, die nun ein Ende hat. Sie macht aber deutlich, wie stark die europäischen Länder voneinander abhängig sind und wie notwendig vor allem eine gemeinsame Beschäftigungspolitik ist.

Früher galt Bildung als Jobgarantie. Das genügt offensichtlich nicht mehr. Frankreich gehört zu den Ländern mit den höchsten formalen Schulabschlüssen – und rasant steigender Jugendarbeitslosigkeit. Diese ist am niedrigsten in Deutschland und Österreich – Ländern mit einem dualen Ausbildungssystem. Kann dies ein Modell sein?
Die Kombination aus Schule, Studium und Praxis ist sehr wichtig. Es dauert allerdings sehr lange, bis solche Ausbildungssysteme aufgebaut sind und funktionieren. Langfristig ist dies auf jeden Fall anzustreben. Im Moment haben wir aber eine echte Notsituation, und wir müssen alle Instrumente nutzen: Training on the Job, mehr Schulbildung, Austauschprogramme und Investitionen im öffentlichen Dienst. Und wir müssen verdammt schnell handeln.

Die skandinavischen Länder haben schon vor Jahren Institutionen zur Beschäftigungspolitik geschaffen. Was kann Europa von ihnen lernen?
Das schwedische System, das in den 90er Jahren geschaffen wurde, ist sehr interessant. Jeder Arbeitslose hat verschiedene Möglichkeiten: Er kann sich mithilfe von Vermittlungsbehörden intensiv auf die Jobsuche konzentrieren oder wieder die Schulbank drücken. Dieses System der kontinuierlichen Investition in die Bildung ist eines der erfolgreichsten Modelle in Europa. Daran sollte man sich orientieren oder zumindest davon inspirieren lassen – wie im Fall der Jobgarantie für Jugendliche, die es in Schweden und auch in Finnland schon länger gibt.

Diese soeben vom EU-Ministerrat verabschiedete Jobgarantie sieht vor, dass alle arbeitslosen Jugendlichen innerhalb von vier Monaten ein Jobangebot bekommen sollen. Die ILO mahnt diese Maßnahme seit Langem an. Bislang scheiterte dies an den Kosten. Wurde dies jetzt gelöst?
Diese Initiative ist extrem wichtig. Die Jugendarbeitlosigkeit liegt in der EU inzwischen bei einer Quote von über 22 Prozent, und die Tendenz ist steigend. Das größte Kostenproblem bekommen wir langfristig, wenn wir jetzt nichts tun. Die Jobgarantie für Jugendliche kostet nach unseren Berechnungen rund 21 Milliarden Euro, bewilligt sind allerdings erst sechs Milliarden. Das wird nicht reichen. Entscheidend ist aber auch, dass sich alle Länder beteiligen und nicht nur die Griechen, Spanier und Italiener.

Das sehen einige Regierungen anders. Vor allem konservative Politiker kritisieren die Jobgarantie. Man könne nicht jedem Land ein Standardprogramm überstülpen, behaupten sie.
Darum geht es ja auch gar nicht, sondern vielmehr um eine Koordinierung der nationalen Beschäftigungsmaßnahmen. Der Vorhalt der undifferenzierten Einheitslösungen trifft eher auf die ökonomischen Vorgaben der Troika für die EU-Krisenländer zu.

Warum?
Diese Vorgaben sind nicht auf die spezifische Lage der einzelnen Länder zugeschnitten und haben oft schlecht ausgearbeitete und ineffiziente Reformen zur Folge. Das Resultat sind oft Deregulierung und drastische Einschnitte im Sozialsystem, die neue Probleme schaffen. Eines dieser Probleme ist die ansteigende Kinderarmut. Derzeit sind 25 Prozent aller Kinder in der EU dem Risiko ausgesetzt, in Armut zu leben. Darüber spricht kaum jemand. Eine gut gemachte Sozialreform kann solche Negativeffekte verhindern.

Wie sieht eine gut gemachte Reform heute aus?
Sie muss sicherstellen, dass Arbeitnehmer nicht weniger, sondern dass sie anders als vorher geschützt werden. Sie trägt den wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen Rechnung und bietet mehr Schutz für bestimmte soziale Gruppen wie Kinder und Alleinerziehende. Ein positives Beispiel ist Frankreich, wo Alleinerziehende automatisch eine Beihilfe erhalten. Das Phänomen der Kinderarmut ist natürlich an die Lage der Eltern gekoppelt, die sich um die Kinder kümmern müssen und eine schlechtere Position auf dem Arbeitsmarkt haben.

Sie sprechen vor allem von Süd- und Osteuropa?
Nein, auch von Deutschland. Überdurchschnittlich viele Alleinerziehende haben dort einen der ungenügend geschützten Minijobs oder sind im Niedriglohnsektor beschäftigt. Gerade sie sollten auf dem Arbeitsmarkt aber bessere Chance haben, denn von ihrer Situation hängt die Zukunft der Kinder und langfristig damit auch der Wirtschaft ab.

Die Ausgaben sollten nicht gekürzt, sondern anders verteilt werden?
Das geht, wenn man die Finanz- und Steuersysteme reformiert. Man kann beispielsweise Finanztransaktionen und Umweltbelastung besteuern. Außerdem kann man den Menschen in einer Krisensituation die Notwendigkeit von Umverteilung sehr gut vermitteln, solange der soziale Schutz nicht vermindert, sondern neu geformt wird. Er sollte heute vor allem auf Menschen mit Niedriglohnjobs abzielen und auf die Beschäftigung von jungen Leuten. Wer befristet oder prekär beschäftigt ist, muss genauso geschützt werden wie die Arbeitnehmer mit unbefristeten Jobs. Dadurch werden die Sozialsysteme komplexer, aber es ist der einzige Weg.

Der Umbau der Sozialsysteme kann nur im Konsens mit den Sozialpartnern gelingen. Ist das in den südeuropäischen Ländern nicht unrealistisch?
Nein, das entspricht der gängigen Praxis. Auch in Italien und Portugal sitzen Gewerkschaften und Arbeitgeber mit am Tisch, wenn die Regierungen eine Rentenreform durchsetzen wollen. In den meisten europäischen Ländern funktionieren tripartite Konsultationen und Institutionen. Der Sozialdialog hat eine Schlüsselrolle, wenn es um Innovation und Investitionen geht. Das Problem ist, dass die Sozialparteien bei der Umsetzung der von der EU vorgegebenen Austeritätspolitik in den jeweiligen Ländern ausgeschlossen wurden. Das schafft Dissens und Konflikte.

Möglicherweise führen die Proteste gegen die EU-Politik am Ende zu einer solidarischeren Vision von Europa?
Politiker wissen, dass sie nicht wiedergewählt werden, wenn sie in der Beschäftigungspolitik versagen. Aber es muss den Menschen auch klargemacht werden, dass dies heute nicht mehr nur von ihren nationalen Regierungen, sondern auch von der Politik abhängt, die in Europa gemacht wird. Dazu brauchen wir eine europäische Vision und eine gemeinsame Strategie. Die wirkliche Gefahr geht derzeit von der tendenziellen Auflösung des Gesellschaftsvertrags aus. Diese Tendenzen gibt es in Deutschland und Österreich, ganz zu schweigen von Italien und Griechenland.

Wie meinen Sie das?
Die Basis des Gesellschaftsvertrags ist, dass Politiker und andere Akteure zum Wohl der Gemeinschaft handeln. Dies wird heute durch die Macht von Interessengruppen und Finanzspekulanten infrage gestellt. Dazu kommt häufig Korruption. All das schadet dem Vertrauen der Bürger in die Politik. Die zweite Voraussetzung für den Gesellschaftsvertrag ist das Vertrauen in die Zukunft. Die schwindet mit der Arbeitslosigkeit. Wenn die Arbeitslosigkeit weiter steigt, ist das für die Menschen ein sehr klares Zeichen, dass der Gesellschaftsvertrag nicht funktioniert.

Zur Person

Raymond Torres, geboren 1960 in Madrid, ist seit 2007 Direktor des ILO-Instituts für Arbeitsmarktforschung (International Institute for Labour Studies) in Genf. Er gibt unter anderem den jährlichen „World of Work Report“ heraus, die wichtigste Publikation des Instituts. Davor war er bei der OECD in Paris Chef der Abteilung Beschäftigung und Herausgeber des „OECD Employment Outlook“. Er lehrte an der Pariser Universität, wo er sich auf mathematische Wirtschaft und Ökonometrie spezialisiert hat. Torres ist der Meinung, dass die globale Krise nur bewältigt werden kann, wenn statt einem instabilen Finanzkonstrukt wieder die Menschen, die Arbeit und die Unternehmen zum Zentrum des Wirtschaftssystems werden.

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