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Magazin Mitbestimmung

: Wenn Kliniken krank machen

Ausgabe 01+02/2012

BÖCKLER-STUDIE Die seit 2010 wirksamen Fallpauschalen sollten die Behandlungsabläufe in den Krankenhäusern verbessern und die Effizienz erhöhen. Sie bewirkten jedoch vor allem Einsparungen auf Kosten von Patienten, Ärzten und Pflegepersonal. Von Ingo Zander

INGO ZANDER ist Journalist in Kerpen bei Köln/Foto: Rainer Weisflog

Noch vor einem Jahrzehnt vergüteten die Krankenkassen nach der Anzahl der Bettentage, die ein Patient im Krankenhaus verbrachte – zumindest bei der Mehrzahl der Erkrankungen. Von 2004 bis 2010 wurde diese Honorierungsform in einem mehrstufigen Prozess für fast alle Erkrankungen durch Fallpauschalen abgelöst. Seitdem werden Krankenhausleistungen nicht nach Einzelleistungen oder Bettentagen bezahlt, sondern pauschal pro Behandlungsfall vergütet, unabhängig vom Zeitaufwand. Dadurch soll es wirtschaftlich unattraktiv werden, Patienten länger als nötig im Krankenhaus zu halten. Das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus, ein vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen, dem Verband der privaten Krankenversicherung und der Deutschen Krankenhausgesellschaft gegründetes Institut, legte bis 2010 die Höhe von mittlerweile gut 1500 Fallpauschalen (kurz DRG für „Diagnosis Related Groups“) fest – und damit, wie aufwendig die Patienten im Krankenhaus behandelt werden dürfen. Die Fallpauschalen verändern damit die Betriebsökonomie der Krankenhäuser.

Wissenschaftler des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) und des Zentrums für Sozialpolitik (ZeS) der Universität Bremen haben im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung untersucht, welche Folgen die neue Vergütungsform für die Patientenversorgung und die Arbeitsbedingungen von Ärzten und Pflegekräften im Krankenhaus hat. „Pauschalpatienten, Kurzlieger und Draufzahler“ heißt die Studie, die kürzlich erschienen ist. Nachdrücklich zeigen die Wissenschaftler auf, wie im neuen Krankenhausalltag das berufsethische Selbstverständnis unter Druck gerät. „Nur 14 Prozent der befragten Ärzte sind der Meinung, dass sie ihren Patienten genügend soziale und emotionale Zuwendung zukommen lassen“, heißt es in der Studie.

Bislang nahmen die Krankenhausleitungen zwar noch wenig direkten Einfluss auf ärztliches und pflegerisches Handeln. Doch das Thema Kostensenkung wirkt verunsichernd und ist auch ohne expliziten Druck in der Kommunikation mit Ärzten und Pflegepersonal mittlerweile das beherrschende Thema. Auch Patienten spüren dies. „Nur ein Drittel der Patienten hatte den Eindruck, ihre Behandlung werde gar nicht von Kostenerwägungen beeinflusst. Bedenkt man, dass Patienten nur bedingt in der Lage sind, zu überblicken, auf Basis welcher Erwägungen Versorgungsentscheidungen getroffen werden, ist dies ein alarmierendes Signal“, schreiben die Wissenschaftler.

Von den Ärzten, die angaben, ihr Arbeitspensum nicht mehr den eigenen Ansprüchen entsprechend zu schaffen, klagte die Hälfte über starke Konflikte zwischen Berufsethos und Kostendruck. Dorothea Peschke (Name von der Redaktion geändert) arbeitet seit viereinhalb Jahren als Gynäkologin in einem großen kommunalen Krankenhaus. Sie wird demnächst ihren Facharzt machen. „Ich habe immer das Gefühl, dass ich die Patienten nicht ausreichend gut versorgen kann. Das hat sich in den letzten fünf Jahren merklich verschlechtert. Das betrifft nicht nur uns, sondern auch das Pflegepersonal.“

FÜR DEN PATIENTEN FEHLT ZEIT_ Die Fallpauschalen haben zu mehr Stress bei Ärzten und Pflegekräften geführt. Obwohl vor allem das Pflegepersonal mehr leisten muss, weil mehr Patienten in kürzerer Zeit versorgt werden müssen, haben viele Kliniken seit Jahren kontinuierlich Personal abgebaut. „Aufgrund der Arbeitsverdichtung sind insbesondere im Pflegebereich viele Kollegen bei der inneren Kündigung angelangt“, befürchtet Giovanni Ammirabile, Betriebsratsvorsitzender der Berliner „Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH“. „Wer eine der Vivantes-Rettungsstellen besucht, gewinnt den Eindruck, dass in Berlin gerade eine Katastrophe passiert sein muss. Wer in die Gesichter meiner Kollegen schaut, wird feststellen, dass sie fertig sind.“

Als Stressbeschleuniger wirkt insbesondere der mit den Fallpauschalen schlagartig gestiegene Dokumentationsaufwand über die Behandlungsabläufe der Patienten. Hannah Richter (Name von der Redaktion geändert) arbeitet seit 15 Jahren als Krankenschwester in einem privaten Krankenhaus. „Früher hatten wir nur die Patientenakte. So habe ich zum Beispiel in einem Formular zur Wunddokumentation kurz notiert, wann der Verbandwechsel mit welchen Pflegemitteln vorgenommen worden ist.“ Heute muss sich die Krankenschwester die Patientenakte besorgen, um dann am PC zunächst sämtliche Diagnosen zur Kenntnis zu nehmen: „Welche Grunderkrankungen liegen vor, wo ist die Wunde entstanden, gibt es Fotos über die Wunde, hat der Patient der Ablichtung zugestimmt, welche Schmerzen hat er, welche Schmerzmittel werden verabreicht und so weiter.“ Dann erst kann Hannah Richter ihren Arbeitsschritt – etwa den Verbandwechsel – digital dokumentieren. Anschließend muss die neue Dokumentation ausgedruckt und in der Patientenakte abgeheftet werden. Wenn Richter dann vorab noch die Akten suchen muss, die sie für die Dokumentation am PC benötigt, liegen die Nerven schon einmal blank. „Dieser Arbeitsaufwand kostet Zeit, die mir für die Patienten fehlt. Sie werden unruhig und ungehalten. Und ich komme mir vor wie ein Akkordarbeiter.“

Trotz dieser bürokratischen Vorschriften ist der Anteil der Pflegekräfte, die Informationen über Patienten nur zufällig erhalten, unter DRG-Bedingungen sogar gestiegen. Dabei machen die durch die Fallpauschalen beschleunigten Behandlungsabläufe eine vermehrte Kooperation dringend erforderlich, um beispielsweise Behandlungsfehler zu vermeiden. „Zusammenfassend gesagt haben sich die – formalen – Kommunikationsstrukturen unter DRG-Bedingungen eher verschlechtert als verbessert“, heißt es in der WZB/ZeS-Studie. „Vor allem die gemeinsame Visite findet immer seltener statt“, konstatieren die Wissenschaftler. „Weil Pflegekräfte aufgrund der Personalknappheit weniger Zeit haben und die Ärzte keine festen Visitezeiten einhalten, auf die sich die Pflegekräfte einstellen können.“ Das bestätigt auch Susanne Becker (Name von der Redaktion geändert), die als Fachärztin für Anästhesie in einem privatwirtschaftlich geführten Klinikum arbeitet. Seit ein paar Jahren beobachtet sie einen deutlichen Verlust an sozialer Kommunikation unter ihren Kolleginnen und Kollegen: „Es findet kaum noch Kontakt untereinander statt. Klar, man grüßt sich, spricht auch kurz miteinander, lernt sich aber im Grunde gar nicht mehr kennen, so wie ich das früher erlebt habe. Jeder rennt morgens los und zieht sein Programm durch.“

Doch die Pflegekräfte klagen nicht nur über zu viel Stress. Sie fühlen sich auch in steigendem Maße nicht mehr ausreichend für ihre Arbeit ausgebildet. „Waren 2003 noch fast 80 Prozent der Meinung, sie seien gut ausgebildet, sagen dies 2006 nur noch gut 60 Prozent“, fanden die Forscher heraus. Die Zahl derer, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben, weil sie sich den Anforderungen nicht mehr gewachsen fühlen, sei im gleichen Zeitraum um knapp zwei auf acht Prozent gestiegen.

VEREINBARUNG GEGEN ARBEITSÜBERLASTUNGEN_ „Aufgrund des zunehmenden Stresses ist es eine Herausforderung, Polarisierungen zwischen Ärzten und Pflegekräften zu vermeiden“, betont Michael Drott. Der gelernte Fachkrankenpfleger für Anästhesie und Intensivmedizin ist seit 2004 bei den Wiesbadener Dr.-Horst-Schmidt-Kliniken (HSK) Vorsitzender der konzernweiten Arbeitnehmer-Vertretung. Bis zur Teilprivatisierung Ende Januar – 49 Prozent wurden an die Rhön-Klinikum AG verkauft – gehörte die HSK-Gruppe der Stadt Wiesbaden. Sie umfasst drei Kliniken und fünf Tochterfirmen. „Wo vernetztes Denken stattfindet, läuft es hervorragend. Aber es gibt auch polarisierendes Verhalten vonseiten der Ärzte, das zu einer betrieblichen Kultur der Unzufriedenheit führt.“

Als Reaktion auf den gewachsenen Stress wurde in Wiesbaden im Mai 2009 eine Konzernvereinbarung zum Umgang mit Arbeitsüberlastungen erarbeitet. Trocken und technisch heißt es darin: „Eine Arbeitsüberlastung ist eine durch betriebliche Umstände eingetretene Situation für den Arbeitsbereich, die dazu führt, dass eine regelhafte Ausführung der Arbeit nicht gewährleistet werden kann.“ Solche Situationen können eintreten durch neue Aufgaben oder durch den überraschenden Ausfall von Personal. Arbeitnehmer sollen dann mit einer „Arbeitsüberlastungsanzeige“ ihre Vorgesetzten mit in die Pflicht nehmen, um Maßnahmen einzuleiten, die dieser Überlastung entgegenwirken. Die Vereinbarung legt außerdem fest, dass in Abteilungen, aus denen vermehrt Arbeitsüberlastungsanzeigen gemeldet werden, kurzfristig ein Maßnahmenkatalog zu erstellen ist, um Abhilfe zu leisten. Der Betriebsrat legte Wert darauf, dass die Beschäftigten selbst – und nicht die Vorgesetzten – festlegen, welche Arbeiten in solchen Situationen Priorität haben und welche verschoben werden können. Wenn Arbeitsüberlastungen durch die zuständigen Bereichsleiter und Oberärzte nicht beendet werden können, muss die zuständige Geschäftsführung eingeschaltet werden.

In Wiesbaden wurden außerdem 22 neue Stellen für sogenannte Case Manager – deutsch: Fallmanager – eingerichtet. Sie sollen für eine durchgängige Behandlung der Patienten im Krankenhaus sorgen – von der Aufnahme bis zur Entlassung. „Weil sie eine Koordination der Behandlung über Abteilungen hinweg durchsetzen müssen und sich dabei viele Reibungsflächen ergeben, haben wir ihnen anfangs eine Art Durchsetzungsprämie gezahlt“, berichtet Betriebsrat Drott. Der Konzernbetriebsrat setzte außerdem durch, dass diese neuen Stellen nur mit Personal aus den eigenen Häusern besetzt werden durften, die allerdings Erfahrungen in der Pflege vorweisen mussten – und für die neuen Aufgaben zusätzlich qualifiziert wurden.

Knapp 60 Prozent der Ärzte sagten, dass in ihren Häusern zumindest in Ansätzen koordinierte Abläufe von der Aufnahme bis zur Entlassung existierten, ergab die Befragung von WZB und ZeS. „Dass es die leitenden Ärzte sind, die häufiger die Existenz von Case-Management und Leitlinien bejahen, bestätigt den nicht selten in Interviews geäußerten Verdacht, die vorhandenen Pathways spielten für Assistenzärzte in der Praxis eine weitaus geringere Rolle als auf dem Papier.“

DEFIZITE IN DER VERSORGUNGSQUALITÄT_ Zu den „DRG-Versorgungsverlierern“ gehören laut der WZB/ZeS-Studie vor allem die Patienten mit Mehrfacherkrankungen. „Diesen Patienten geht es bei einer Fülle von Indikatoren der Versorgungsqualität (z.B. Information über Vorerkrankungen, Behandlung mit Aufmerksamkeit, vorbildliche Betreuung, Vertrauen in Krankenhaus und Personal) häufig schlechter als Patienten mit nur einer Erkrankung.“ Besonders ältere Patienten unter ihnen klagten darüber, dass sich ihre Versorgung seit der Einführung der Fallpauschalen 2003 insgesamt verschlechtert habe.

PERSONALABBAU BIRGT GEFAHREN_ Je eher Patienten das Krankenhaus verlassen, desto besser müssten sie eigentlich auf die anschließende Behandlung vorbereitet werden. Doch in der Mehrheit der Krankenhäuser findet aus Sicht von Ärzten und Pflegekräften und teilweise auch aus Patientenerfahrung kein gut funktionierendes Entlassungsmanagement statt. Von den Krankenhausärzten sagen gerade mal 15 Prozent, dass sie mit niedergelassenen Hausärzten gut kooperieren. Immerhin halten die Forscher fest: „Insgesamt gibt es nur wenige, geringfügige oder jedenfalls noch nicht eindeutige Belege für eine starke Zunahme vorzeitiger Entlassungen.“ Eine statistische Langzeitstudie des Medizinökonomen Wilfried von Eiff fand jedoch heraus, dass eine Rückkehr ins Klinikbett aufgrund von Komplikationen oder mangelnder Reha-Fähigkeit 2010 doppelt so häufig vorkam wie vor 2003.

Extreme Auswirkungen auf die Versorgung, wie sie vor Einführung der Fallpauschalen von manchen befürchtet wurden, sind bisher nicht bekannt geworden. „Weder sind negative Veränderungen in der erwarteten Breite und Intensität bisher empirisch nachweisbar“, fassen die Wissenschaftler zusammen, „noch haben sich selbst bei hochplausiblem Eigeninteresse der Krankenhäuser Verbesserungen bei der Strukturierung der Behandlungsabläufe unter besonderer Berücksichtigung der Aufnahme und Entlassung der Patienten flächendeckend durchgesetzt.“

Allerdings könnte die Reduzierung des Personals besonders im Pflegebereich in manchen Krankenhäusern eine kritische Grenze erreichen, befürchtet ZeS-Wissenschaftler Bernard Braun, einer der Autoren der Studie: „Wir wissen aus der Forschung in angelsächsischen Ländern, dass es eine kritische Grenze beim Personalschlüssel von Pflegekräften und Ärzten pro Patient gibt. Wird diese Grenze unterschritten, können enorme gesundheitliche Gefahren für die Patienten eintreten – bis hin zu einem erhöhten Sterberisiko.“

Mehr Informationen

Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) der Universität Bremen: PAUSCHALPATIENTEN, KURZLIEGER UND DRAUFZAHLER. Auswirkungen der DRG auf Versorgungsqualität und Arbeitsbedingungen im Krankenhaus. Bern, Verlag Hans Huber 2010

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