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Damit mehr Beschäftigte Freistellungen für Weiterbildung nutzen, muss die Finanzierung besser gesichert werden. Magazin Mitbestimmung

Von JOACHIM F. TORNAU: Weiterbildung oder Weltreise: Wie nimmt man eine Auszeit vom Job?

Ausgabe 09/2018

Wissen Es gibt viele gute Gründe, warum Arbeitnehmer ihrem Job eine Zeit lang den Rücken kehren möchten. Doch Regeln, die das ermöglichen, sind rar gesät. Langzeitkonten gibt es nur in 2 von 100 Unternehmen.

Von JOACHIM F. TORNAU

Ein Tarifvertrag als Werbebroschüre – das dürfte noch nicht allzu oft vorgekommen sein. „Wir geben Freiräume, damit sich unsere Mitarbeiter sozial engagieren können“, steht da.Die Direktbank ING-DiBa möchte mit dem „Zukunftstarifvertrag 2.0“ ihr Image als unkonventionelles Geldinstitut pflegen.

Birgit Braitsch hat dagegen nichts einzuwenden: „Wenn diese Werbung den Beschäftigten nutzt, ist das prima“, sagt die Leiterin des Fachbereichs Finanzdienstleistungen bei ver.di in Hessen. Der Haustarifvertrag für die rund 3600 ING-DiBa-Beschäftigten in Deutschland, den Braitsch mit ausgehandelt hat, enthält Regelungen zur besseren Vereinbarkeit von Arbeit und Leben – dem ganzen Leben.

Eine vom Arbeitgeber geförderte Auszeit von der Bank kann sich nicht nur nehmen, wer nahe Angehörige pflegt oder Kinder betreut. Auch wer sich einschlägig weiterbilden oder an einem gemeinnützigen Projekt teilnehmen will, kann sie bis zu drei Monate lang nutzen – mit Rückkehrrecht an den Arbeitsplatz. Diese „Flexi-Time“ ist nach dem Prinzip der Altersteilzeit organisiert: Während einer Ansparphase, in der man weiter Vollzeit arbeitet, bekommt man dasselbe Teilzeitgehalt wie in der anschließenden Freistellungsphase. Das Unternehmen legt bis zu 20 Prozent obendrauf.

Auch Auszeiten ohne Begründung sind möglich. Nur auf den Zuschuss des Arbeitgebers muss man dann verzichten. Bei der Belegschaft, berichtet Braitsch, komme das System gut an: „Alle Varianten werden nachgefragt.“

Umfassende Regeln sind selten

Umfassende Freistellungsregelungen wie bei der ING-DiBa sind selten in Deutschland. Meist geht es, wenn aus Arbeitnehmersicht über Arbeitszeitflexibilität diskutiert wird, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Aber: Auch für das lebenslange Lernen, für die berufliche und persönliche Weiterbildung, gerade vor dem Hintergrund der Digitalisierung, braucht es Zeit. Und auch eine begründungsfreie Auszeit dient dem Erhalt der Arbeitsfähigkeit.

Flächendeckend stehen solche Sabbaticals bislang nur den Beschäftigten des öffentlichen Diensts offen. Einzelne Unternehmen aber haben sie per Betriebsvereinbarung ermöglicht – und damit gute Erfahrungen gemacht. Zum Beispiel die Schmiermittelsparte von BP. „Es sind nicht Dutzende, die das Sabbatical nutzen, aber allein bei uns in Hamburg immerhin zwei bis drei pro Jahr“, sagt Kai-Uwe Brand, Betriebsratsvorsitzender bei BP in der Hansestadt.

Nicht nur Höherverdienende seien darunter, auch tariflich Beschäftigte. Das Lohnniveau in der Chemieindustrie macht es möglich. Denn das ist der Knackpunkt bei jedem Ausstieg auf Zeit: Man muss sich den Gehaltsverzicht, der dafür nötig ist, leisten können. Nicht nur für Ansparblockmodelle wie bei ING-DiBa oder BP gilt das, sondern auch für betriebliche Langzeitkonten, auf denen über einen längeren Zeitraum Mehrarbeit und Sonderzulagen wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld angesammelt werden können.

Philip Wotschack, Soziologe am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), hat dieses vor 20 Jahren erstmals gesetzlich geregelte Instrument in einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie untersucht. Trotz einzelner Positivbeispiele fällt sein Fazit insgesamt ernüchternd aus: „Die Verbreitung und Nutzung des Langzeitkontos für Optionszeiten im Lebensverlauf bleibt weit hinter den politischen Erwartungen zurück und ist zudem ungleich verteilt.“

Lediglich rund zwei Prozent der Betriebe würden ein solches Konto anbieten. Und auch dort mache nur eine Minderheit der Beschäftigten, meist Besserverdienende und Höherqualifizierte, davon Gebrauch. Hinzu kommt: Es gibt kein Recht auf eine Auszeit. Der Arbeitgeber kann jederzeit Nein sagen aus betrieblichen Gründen, die sich in Zeiten von Arbeitsverdichtung und dünnen Personaldecken fast immer finden. Zumal in der Arbeitswelt nach wie vor die „Norm des in allen Phasen des Lebensverlaufs hundertprozentig verfügbaren Vollzeitmitarbeiters“ regiert, wie Wotschack erklärt.

Doch ein Kulturwandel ist möglich. Das belegen die Kommissionen, die ING-DiBa und BP für Streitfälle eigens eingerichtet haben: Sie wurden noch nie gebraucht.

Der Staat muss helfen

Langzeitkonten, das war die politische Hoffnung, sollten in großem Stil Weiterbildungen ermöglichen. Auch wenn sich das bisher nicht erfüllt hat: Wo es solche Konten gibt, so Wotschack, nehmen zumindest von den männlichen Beschäftigten mehr an Weiterbildungsmaßnahmen teil als anderswo. Es kann also durchaus funktionieren, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Doch wie können diese Bedingungen so gestaltet werden, dass sie für alle Beschäftigtengruppen attraktiv sind?

Für Petra Reinbold-Knape, Mitglied im Vorstand der IG BCE, steht fest: „Weiterbildung zu betreiben wird zur gemeinsamen Grundeinstellung, nicht nur von erfolgreichen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sondern unserer Gesellschaft.“ Ausschließlich auf betrieblicher Ebene werde sich das künftig nicht mehr regeln lassen. „Damit wird die Gestaltung der Rahmenbedingungen von Weiterbildung teilweise aus der Verantwortung der Sozialpartner herausgelöst und in einen gesellschaftspolitischen Kontext gestellt“, erklärt Reinbold-Knape. Dazu bedürfe es flächendeckender Beratungsangebote. „Das verstehen wir unter lebensbegleitendem Lernen.“

Der DGB plädiert für eine staatliche Förderung von Weiterbildungsteilzeit: „Das Recht auf Freistellung zur Weiterbildung mit Entgeltfortzahlung kann helfen, Freiräume für Qualifizierungszeiten zu ermöglichen und diese Ansprüche durchzusetzen.“ Die Debatte steht noch am Anfang.

Aufmachterfoto: pa/Mike Wolff

 

WEITERE INFORMATIONEN

Philip Wotschack: Optionszeiten auf Basis von Langzeitkonten – eine kritische Bilanz. Working Paper Forschungsförderung, Nr. 57. Düsseldorf, Hans-Böckler-Stiftung 2018

Die Expertenkommission „Arbeit der Zukunft“ hat empfohlen, allen Erwerbstätigen einen Anspruch auf begründungsfreie Auszeiten einzuräumen – bei Aufrechterhaltung des Beschäftigungsverhältnisses und der Sozialversicherungsansprüche. Geringverdiener könnten dabei unterstützt werden.

Einen Anspruch auf Bildungsteilzeit gibt es seit 2015 in tarifgebundenen Betrieben der Metall- und Elektroindustrie: IG-Metall-Mitglieder können für eine persönliche Weiterbildung bis zu sieben Jahre lang ganz oder teilweise aus der Arbeit aussteigen – mit Wiedereinstellungsgarantie. Der Lohn während der Bildungsteilzeit wird vom Arbeitgeber aber nur in Ausnahmefällen aufgestockt.

Beispiele für Betriebsvereinbarungen über Arbeitszeitmodelle oder Weiterbildung im Archiv gibt es auf der Website der Hans-Böckler-Stiftung.

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