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Magazin Mitbestimmung

: Vor dem Kraftakt

Ausgabe 03/2006

Um die Wirtschaft zu demokratisieren, vertrauten die Gewerkschaften auf den Gesetzgeber. Doch die politischen Mehrheitsverhältnisse der 70er Jahre ließen nur einen Kompromiss zu, der sie zwangsläufig enttäuschen musste.


Von Gerhard Leminsky
Dr. Leminsky war von 1980 bis 1993 Geschäftsführer der Hans-Böckler-Stiftung.

Seit ihrer Gründung hatten die deutschen Gewerkschaften für eine parlamentarische Demokratie gekämpft, und als 1918 die politische Demokratie durchgesetzt werden konnte, da haben sie die Weimarer Republik als ihren Staat akzeptiert und verteidigt. Der Staat stand für sie über den Parteien und war der Garant des allgemeinen Wohls wie der öffentlichen Interessen.

Wenn man nun Freiheit und Gerechtigkeit für alle Arbeitnehmer auch im wirtschaftlichen Bereich verankern wollte, dann konnte dies nach gewerkschaftlicher Auffassung am besten durch gesetzliche Regelungen gelöst werden. Das setzte allerdings starke sozialdemokratisch-sozialistische Parteien und entsprechende parlamentarische Mehrheiten voraus.

Diese Sichtweise hatte weit reichende Konsequenzen, und man kann sie geradezu lehrbuchhaft am Beispiel der Mitbestimmungsgesetze verfolgen. Denn bei einer Demokratisierung über staatliche Reformpolitik können die Gewerkschaften ihre ureigenste Kraftquelle - die Tarifautonomie und die Tarifpolitik inklusive Streikrecht - nicht für die Realisierung ihrer Ziele einsetzen. Das Durchsetzungsproblem wird auf die Parteien verlagert. Dementsprechend haben die deutschen Gewerkschaften auch keine eigene Strategie zur Durchsetzung der Mitbestimmung entwickelt.

Tückischer Zeitgeist

Zunächst konnten die Gewerkschaften mit ihren Forderungen zur Mitbestimmung in Unternehmen und Betrieb von der Aufbruchstimmung Ende der 60er Jahre - "Mehr Demokratie wagen" - profitieren, die dann 1972 zu einer durchaus fortschrittlichen Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes führte. Aber mit der Verschärfung wirtschaftlicher Probleme gewannen konservative Kräfte wieder die Oberhand. Hinzu kam, dass sich die großen Parteien zu Volksparteien entwickelt hatten.

Die SPD fühlte sich nicht nur den Gewerkschaften verpflichtet, und sie regierte in Koalition mit der FDP, die seit jeher gegen die paritätische Mitbestimmung eingestellt war. Der nach langer Suche gefundene Kompromiss war deshalb vom Ergebnis her vorhersehbar.

Ein weiterer Punkt wurde den Gewerkschaften schmerzhaft deutlich. Jede Reformpolitik über gesetzliche Regelungen muss ihre Vereinbarkeit mit den Normen der Verfassung beweisen. Deshalb sind wohl noch nie so viele Gutachten geschrieben worden zur Vereinbarkeit von Mitbestimmung und Grundgesetz wie im Vorfeld der Verabschiedung des 76er Mitbestimmungsgesetzes.

Die Gewerkschaften hatten schon lange ihre Forderungen in Gesetzesform veröffentlicht, so wie sie das mit allen großen Vorhaben in der Nachkriegszeit gehalten hatten. Aber das bedeutete auch, dass politische Eckpunkte durch rechtstechnische Formulierungen verdeckt wurden, dass sich die Diskussion in Expertenzirkeln vollzog. Der "normale" Arbeitnehmer konnte all das kaum nachvollziehen und war dafür auch nicht mobilisierbar.

Mit der Debatte um die Humanisierung der Arbeit (HdA) und dem damit verbundenen, von Hans Matthöfer 1974 angestoßenen Regierungsprogramm, hätte eine Möglichkeit bestanden, diese Defizite teilweise zu überwinden. Doch die Gewerkschaften waren inhaltlich, programmatisch, tarifpolitisch und organisatorisch auf ein betrieblich angelegtes, mobilisierungsfähiges Konzept nicht vorbereitet. Und die Arbeitgeber wollten ohnehin keine durchgreifenden Veränderungen in der Arbeit und setzten auf traditionelle Rationalisierung. So versandeten die guten Ansätze.

Fundierte Zuarbeit

Ich selbst habe diese bewegten Jahre von Anfang der 60er bis Ende der 70er Jahre als wissenschaftlicher Referent mit der Zuständigkeit für Grundsatzfragen der Mitbestimmung im Wirtschaftswissenschaftlichen Institut (WWI) erlebt, das 1971 in Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) umbenannt wurde.

Meine Tätigkeit hatte als Mitarbeiter in einem von der Stiftung Mitbestimmung - neben der Hans-Böckler-Gesellschaft eine der Vorläuferorganisationen der heutigen Hans-Böckler-Stiftung - finanzierten Forschungsprojekt begonnen, in dem die wirtschaftliche Mitbestimmung aus der Sicht verschiedener Denkschulen untersucht wurde: Neoliberalismus, katholische Soziallehre, evangelische Sozialethik, freiheitlicher Sozialismus, Neomarxismus.

Parallel und in Kooperation damit gab es eine mehr rechtspolitisch ausgerichtete Gruppe, die eine interessenpluralistische Unternehmensverfassung für große Unternehmen erarbeitet hat. Mir ist erst nachträglich klar geworden, dass diese Arbeiten ideale Voraussetzungen für die späteren beratenden und publizistischen Tätigkeiten vor allem für den DGB gewesen sind.

Denn hier haben wir einerseits die Spannweite zwischen normativen Begründungen über ordnungspolitische Strukturen bis hin zu unternehmens- und betriebspolitischen Einzelfragen systematisch behandelt. Andererseits wurden die rechtspolitischen Möglichkeiten der wirtschaftlichen Mitbestimmung in einer auf Eigentum und Gewinn ausgerichteten Kapitalgesellschaft bis hin zu einer pluralistischen Unternehmensverfassung erörtert.

Mit diesem Fundus ausgerüstet, konnten wir Mitte der 60er Jahre, als der DGB mit seinen Gewerkschaften die paritätische Mitbestimmung wieder auf die politische Tagesordnung setzte, relativ schnell und fundiert im Rahmen einer vom DGB geleiteten Arbeitsgruppe zu dem gewerkschaftlichen Konzept beitragen, das dann unter dem Titel "Mitbestimmung - eine Forderung unserer Zeit" erstmals 1966 veröffentlicht wurde und für viele Jahre die argumentative Grundlage der gewerkschaftlichen Mitbestimmungsforderung gewesen ist.

In seinem Vorwort zur zweiten Auflage 1971 schreibt der damalige DGB-Vorsitzende Heinz-Oskar Vetter zu Recht, dass "damit erstmals die Vorstellungen der Gewerkschaften zur Mitbestimmung auf Unternehmensebene geschlossen dargestellt und begründet" worden seien. So wurden die historischen Bezüge der Mitbestimmungsforderung herausgearbeitet und aus ihrer Isolierung auf den Aufsichtsrat mit seiner symbolhaften Parität von Kapital und Arbeit gelöst.

Die Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Mitbestimmung im Unternehmen wurden als programmatisch formulierte wie als empirisch überprüfbare Sachverhalte dargestellt, als Balance von Rechten und Pflichten gegenüber Staat und Gesellschaft.

Auf die Darstellung der Vereinbarkeit von Mitbestimmung und Tarifautonomie wurde besonderer Wert gelegt, weil dies von der Arbeitgeberseite vehement bestritten wurde. Die Begründung der Mitbestimmung von gesellschaftspolitischen Grundnormen her, die Konkretisierung in der von Wettbewerb bestimmten Wirtschaftsordnung, die Anwendung auf die verschiedenen Ebenen von Unternehmen und Betrieb wurden im Einzelnen behandelt.

Besonderes Gewicht hatte natürlich die Mitbestimmung im Unternehmen und in einzelnen Unternehmensorganen, wobei das Unternehmen als wirtschaftliche und soziale Einheit bestimmt wurde: nicht nur, wie nach neoliberaler und neoklassischer Auffassung, als Instrument der Eigentümer zur Erzielung von Gewinn, auf das die Mitbestimmung als "Fremdkörper" aufgepfropft würde, sondern als Zusammenarbeit von Menschen an sachlichen Produktionsmitteln unter einheitlicher Leitung - ohne diese Kernthese ist wirkliche Mitbestimmung nicht zu begründen.

In den vielen Kontakten mit DGB und Gewerkschaften wurde jedoch rasch deutlich, dass sich die Gewerkschaften, wie auch früher schon, bei Forderungen an den Gesetzgeber weitgehend auf ihre Dachorganisation verließen. Die Möglichkeiten der Mobilisierung liegen jedoch bei den Gewerkschaften, nur sie hätten die positiven Erfahrungen mit der Montanmitbestimmung in die Öffentlichkeit tragen können. Die Praxis bei Kohle und Stahl wurde jedoch nicht öffentlichkeitswirksam vertreten, die programmatische Forderung lief damit gewissermaßen ins Leere.

Kultureller Schub

Trotz der Vorhersehbarkeit der Resultate war das Mitbestimmungsgesetz 76 für die Gewerkschaften eine große Enttäuschung, die nicht zuletzt und nicht sehr gerecht der SPD angelastet wurde. Man einigte sich darauf, das Gesetz "illusionslos auszuschöpfen". Die beiden Montangewerkschaften IG Bergbau und IG Metall hoben besonders die Mängel gegenüber dem gewünschten Modell hervor.

Für die anderen Gewerkschaften, für die in den großen Unternehmen ihrer Wirtschaftsbereiche bis dato nur die Drittelbeteiligung in den Aufsichtsräten gegeben war, bedeutete das 76er Gesetz eine Verbreiterung von Beteiligungs- und Einflussmöglichkeiten, denn nun waren auch Gewerkschaftsvertreter in den Kontrollgremien vertreten.

Das war gegenüber den bisherigen Formen der institutionellen Vertretung ein echter Fortschritt. Allerdings hat sich in den Unternehmen, die dem Mitbestimmungsgesetz 76 unterliegen, eine andere Mitbestimmungskultur als in den Montanunternehmen herausgebildet.

Es war von Anfang an klar, dass die faktisch unterparitätische Entscheidungsstruktur in den Aufsichtsräten keine gleichwertige Willensbildung erlauben würde. Und auch der Arbeitsdirektor stellte - mit Ausnahme des öffentlichen Bereichs - keine Vertrauensperson der Beschäftigten dar. Die Betriebsräte und die Betriebspolitik blieben also wie bisher das entscheidende Machtzentrum der Mitbestimmung für Unternehmen und Betrieb.

Die Vertretung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten wurde im Wesentlichen als eine Verbreiterung der Machtbasis der Betriebsräte sowie als Eröffnung zusätzlicher Informationshorizonte für strategische Entscheidungen betrachtet. Der leitende Angestellte auf der Arbeitnehmerbank konnte vielleicht, bei aller Ambivalenz, zur Professionalisierung der Arbeit beitragen.

Die Gewerkschaftsvertreter brachten den systematischen Kontakt zur gewerkschaftlichen Organisation, überbetriebliche Bezüge und zusätzlichen Sachverstand in die Arbeit ein - Sachverhalte übrigens, die in allen empirischen Studien festgestellt und auch von der Biedenkopf-Kommission anerkannt wurden.

Bei zunehmender Globalisierung, Internationalisierung und Konzernverflechtung war dieses Verständnis von Mitbestimmung für die Betriebsräte wie für die Gewerkschaften hilfreich, selbst wenn es vom Betrieb her bestimmt und letztlich auf die dortigen Probleme der Beschäftigten bezogen war. Diese Struktur ist nicht notwendig auf eine numerische Parität in den Aufsichtsräten angewiesen, sondern auf die Kooperation zwischen Gewerkschaft, Unternehmen und Betrieb. Die Beschäftigten haben diese Mitbestimmung offensichtlich akzeptiert, weil die Strategie der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten auf ihre Bedürfnisse bezogen und für sie nachvollziehbar ist, was auch betriebliche Aktivierungsprozesse erleichtert und der Interessenvertretung einen zusätzlichen Schub verleihen kann.

Bei Montanmitbestimmung und Mitbestimmung 76 geht es deshalb nicht um etwas mehr oder etwas weniger Mitbestimmung. Es sind zwei verschiedene Kulturen, die man nicht gegeneinander ausspielen kann. Betrachtet man die gesetzliche und die tatsächliche Entwicklung vom Ausgangspunkt der Montanmitbestimmung her, dann ist die Mitbestimmung im Laufe der Jahre immer mehr in die Betriebe "zurückgewachsen" und hat die betrieblichen Potenziale gestärkt.

Die andere Seite, die ursprünglich ebenfalls in der Montanmitbestimmung angelegt war, nämlich das Arbeitnehmerinteresse nicht nur betriebspolitisch zu betrachten, sondern es sozialstaatlich, branchenübergreifend, interessenpluralistisch, im öffentlichen Interesse zu verfolgen, ist weitgehend aus der Diskussion verschwunden. Umso wichtiger bleibt es, wirtschaftliches Handeln in seinen sozialen und menschlichen Kooperationsformen nicht nur auf eine einzige Lösung zu beziehen, sondern die Vielfalt von Interessenvertretung als Chance zu begreifen, die nicht leichtfertig aufgegeben werden darf.


 

Zum Weiterlesen 

Aufsätze von Gerhard Leminsky

Bewährungsproben für ein Management des Wandels. Gewerkschaftliche Politik zwischen Globalisierungsfalle und Sozialstaatsabbau. Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung, Band 6, Berlin, Edition Sigma 1998

Gewerkschaften und Mitbestimmung in Deutschland: Historischer Rückblick und Handlungsprospekt für die Zukunft. In: Jörg Abel, Peter Ittermann (Hg.): Mitbestimmung an den Grenzen? Arbeitsbeziehungen in Deutschland und Europa. München und Mering, Rainer Hampp Verlag 2001

Entwicklungspotentiale der Mitbestimmung. In: Jörg Abel, Hans Joachim Sperling (Hg.): Umbrüche und Kontinuitäten. Perspektiven nationaler und internationaler Arbeitsbeziehungen. (Walter Müller-Jentsch zum 65. Geburtstag). München und Mering, Rainer Hampp Verlag 2001

 

 

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