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Magazin Mitbestimmung

: Von Rio in den Ruhrpott

Ausgabe 05/2008

GLOBALISIERUNG ThyssenKrupp baut ein neues Stahlwerk in Brasilien - und qualifiziert das leitende Personal in Duisburg. Dabei lernen die Brasilianer nicht nur, wie ein deutsches Stahlwerk funktioniert.

Von CHRISTOPH MULITZE, Journalist in Düsseldorf

Heber Gomes und Anderson Lazaroni stehen unter Zeitdruck. Wie fast jeden Tag jagt ein Termin den nächsten. Schon in einer Stunde müssen sie zu Aristides Corbellini, dem Vorstandschef der ThyssenKrupp-Tochter CSA Siderúrgica do Atlântico im brasilianischen Santa Cruz. Corbellini hat gerade in Deutschland zu tun und nutzt die Gelegenheit, sich mit den Männern zu treffen, die bald zu seinen wichtigsten Mitarbeitern gehören - sie und weitere 120 Brasilianer, die seit Juli 2007 bei der ThyssenKrupp Steel AG in Duisburg fit gemacht werden für ihren künftigen Job.

Anfang Mai folgten weitere 45, später noch einmal 20. Wenn dann im Frühjahr 2009 die Hochöfen im neuen Stahlwerk, rund 60 Kilometer südlich von Rio de Janeiro, erstmals angestochen werden, sollen die Fach- und Führungskräfte, die schon jetzt bei CSA angestellt sind, leitende Aufgaben übernehmen. Nachdem ThyssenKrupp Steel angekündigt hatte, eine Unternehmenstochter gründen und ein Stahlwerk für 3000 Mitarbeiter in Brasilien bauen zu wollen, herrschte bei der IG Metall große Aufregung. Ruhrpott und Stahl - das gehört unzertrennlich zusammen.

Obwohl er über einen anderen Kontinent redet, erklärt Jürgen Dzudzek, erster Bevollmächtigter der IG Metall Verwaltungsstelle Duisburg: "Für uns war das eine Art Outsourcing, deshalb haben wir darauf bestanden, dass die Spielregeln der Montanmitbestimmung angewendet werden." Das Gesamtpaket, dem die Gewerkschaft schließlich zustimmte, umfasste Investitionen für Modernisierungen und Kapazitätserweiterungen im Ruhrgebiet von mehr als 400 Millionen Euro, rechnet der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende der ThyssenKrupp Steel, Holger Hollnack, zusammen.

"Außerdem wollten wir Einfluss auf die Weiterbildung der brasilianischen Kollegen nehmen", sagt Dzudzek. Das Ziel der IG Metall: Die Südamerikaner sollen die Kultur der Montanmitbestimmung aufsaugen, damit die Arbeitnehmerinteressen bei CSA gewahrt werden. Dzudzek: "Wir pflegen deshalb intensive Kontakte zur brasilianischen Gewerkschaft CUT. Uns ist wichtig, dass die Strukturen im Werk in Brasilien sichergestellt sind." Natürlich aus internationaler Solidarität, aber nicht nur: "Wir sind keine Altruisten. Denn wenn gewisse Standards bei CSA berücksichtigt werden, sind auch die Arbeitsplätze in Deutschland sicherer", gibt der IG-Metall-Bevollmächtigte zu.

GEMEINSAME INTERESSEN_ "Um diese Personalentwicklungsmaßnahme mussten wir nicht kämpfen, da gab es keinen Dissens zwischen uns und dem Management", betont Betriebsrat Hollnack. In der Belegschaft, so räumt er ein, habe es anfangs jedoch einige Vorbehalte gegeben. "Da kamen Fragen wie: Werden die hier von uns ausgebildet, um anschließend unsere Jobs billiger in Brasilien zu machen, und wir stehen dann auf der Straße?‘ Diese Befürchtung konnten wir aber ausräumen." Das Werk in Brasilien werde die Arbeitsplätze in Deutschland sogar sicherer machen, vermutet Hollnack.

50 Prozent der Produktion aus den brasilianischen Hochöfen kämen mit dem Schiff zur Weiterverarbeitung nach Deutschland. "Unsere Auftragslage ist so gut, dass wir hier gar nicht genug Brammen gießen können. Deshalb beliefert uns künftig CSA", erklärt er. Die andere Hälfte der jährlich geplanten fünf Millionen Tonnen Stahl wird ins neue ThyssenKrupp-Weiterverarbeitungswerk nach Alabama (USA) transportiert. Damit, so die Hoffnung, wird sich der Konzern einen neuen, großen Stahlmarkt in Nordamerika erschließen.

"Die Brasilianer arbeiten nicht bei uns, sie haben alle den Status von Trainees", betont Marcus Mogk, Leiter Bildung - Prozessbegleitung und zuständig für Personal- und Sozialpolitik bei ThyssenKrupp Steel. Im Mittelpunkt stehen dabei die Prozessabläufe. Die Trainees sollen die Anlagen im laufenden Betrieb kennen lernen, Probleme sehen und lösen können und die Unternehmenskultur verstehen. Dazu zählen beispielsweise Brandschutz, Arbeitsschutz, die Pflege der Kunden-Lieferanten-Beziehung, Pünktlichkeit, Ordentlichkeit und Teamarbeit.

Jeder Trainee bekommt einen Paten zur Seite gestellt, der hier in Deutschland die gleiche Position bekleidet wie die, die er selbst einmal ausfüllen soll. Der Trainee begleitet diesen Paten täglich bei der normalen Arbeit - bei allen Gesprächen, auf alle Termine, auch auf Messen. Im Idealfall, so hofft Mogk, könnten sich aus der gemeinsamen Wegstrecke dauerhafte Freundschaften ergeben: "Der Kontakt sollte möglichst bestehen bleiben, ein regelmäßiger Erfahrungsaustausch wäre wichtig, um weiterhin voneinander zu lernen."

EIN KALTES, ORDENTLICHES LAND_ Wenn er an seine Ankunft in Deutschland denkt, muss Lazaroni lachen: "Ich wusste gar nicht, wie schwer sich Kälte anfühlt. Das werde ich nie vergessen." Doch nicht nur das Klima hat ihn beeindruckt. "Hier ist im täglichen Leben alles so geordnet", schüttelt er, offenbar immer noch leicht verwirrt, den Kopf. Und er zählt auf: "Organisation, Polizei, Sicherheit - das hat meine hohen Erwartungen noch weit übertroffen." Das Hüttenwerk selbst ist so, wie er es aus Brasilien kennt. "Es gibt hier größere Anlagen.

Aber ansonsten ist es doch überall sehr ähnlich." Eine Sache aber habe ihn schon in den ersten Tagen verwundert: In Deutschland, so glaubt er, gehe man mit der Arbeitssicherheit etwas entspannter um als in Brasilien: "Bei uns sind bei Verstößen die Konsequenzen für die direkt Verantwortlichen strikter. Wenn in deinem Arbeitsbereich etwas passiert, haftest du als Vorgesetzter persönlich. Hier in Deutschland wird alles über das Unternehmen und die Versicherungen geregelt." Das, so meint er, spiegele sich im Verhalten wider.

Er und Gomes, sein brasilianischer Kollege, können sich gut vorstellen, dass der Kontakt nach Deutschland dauerhaft sein wird: "Eine der positivsten Erfahrungen ist für mich, dass ich mit offenen Armen empfangen wurde", sagt Lazaroni. "Ich hatte gehört, die Deutschen seien verschlossen. Davon habe ich nichts gemerkt." Der 35-Jährige gehört zu den Trainees, die bereits eine sehr lange Berufserfahrung vorweisen können: Seit 16 Jahren arbeitet er in der Stahlbranche - anfangs als einfacher Arbeiter.

Doch nebenbei hatte er in Abendkursen an einer staatlichen Universität fünf Jahre Ingenieurwesen studiert, so dass er nach seinem erfolgreichen Abschluss zuletzt acht Jahre als Ingenieur bei einer großen Stahlfirma in Volta Redonda im Bundesstaat Rio de Janeiro tätig war. Auch Heber Gomes, ein 29 Jahre alter Ingenieur, hat bereits fünf Jahre in einem Stahlwerk in Santos gearbeitet.

Beide hatten aus den brasilianischen Medien von den ThyssenKrupp-Steel-Plänen erfahren und sich auf eine Stellenausschreibung beworben. "Den Aufbau eines großen Stahlwerks mitzugestalten finde ich reizvoll", meint Gomes. "Deutschland genießt in Südamerika ein sehr hohes Ansehen. Es ist eine Top-Industrienation, die viel Geld in die Technologie investiert." Nicht nur beruflich sei die Zeit in Duisburg daher ein großer Schritt nach vorn: "Auch kulturell und persönlich habe ich mich weiterentwickelt."

Lazaroni nickt zustimmend. Bei manchen Fragen warten die beiden gar nicht auf den portugiesischen Dolmetscher, sondern legen gleich los. Denn alle Trainees erhalten zweimal in der Woche Deutschkurse. Nach fast einem Jahr können sie schon einiges verstehen und sich im täglichen Leben ein bisschen zurechtfinden. In der Weiterbildung und während der Schichten steht natürlich immer ein Übersetzer zur Verfügung. Rund 50 Dolmetscher für Portugiesisch sind permanent im Einsatz. Das war anfangs ein Problem: Denn so viele gibt es im Ruhrgebiet nicht.

"Wir haben ganz Nordrhein-Westfalen abgegrast. Wahrscheinlich arbeiten jetzt alle Portugiesisch-Dolmetscher für uns", sagt Betriebsrat Holger Hollnack lachend. In der Duisburger Belegschaft ist das Misstrauen einer Neugier gewichen. Das beobachten die Betriebsräte Seyhan Savas und Peter Trube. Ihnen ist wichtig, dass auch die Brasilianer im Gremium Ansprechpartner haben, denen sie vertrauen können. Daher haben sie diese Aufgabe selbst übernommen. Damit die Verständigung in beide Richtungen klappt, lernen sie seit einigen Monaten Portugiesisch.

Das ist ein Angebot des Arbeitgebers an alle Mitarbeiter, das allerdings nur spärlich angenommen wird. Savas und Trube gehören zu rund 70 Arbeitnehmern, die sich bei ThyssenKrupp zu Kulturmittlern weitergebildet haben. Mediatoren, die zwischen den Kulturen vermitteln müssen, sind bei Thyssen-Krupp Steel nicht erst durch die brasilianischen Trainees notwendig geworden: 16 Prozent der 18?000 Mitarbeiter umfassenden Belegschaft sind ausländischer Abstammung, darüber viele Türken.

Streitigkeiten gibt es da immer einmal, oft allerdings, so ist die Erfahrung, wird der kulturelle Hintergrund dabei nur vorgeschoben. Auch bei den Brasilianern haben es die Kulturmittler mit ganz handfesten Alltagsproblemen zu tun. Mal kümmern sie sich um Empfangsteile fürs brasilianische Fernsehen, mal sucht jemand einen Rechenschieber oder braucht die aktuellen Flohmarkttermine.

KARRIERE IM HEIMATLAND_ Lazaroni und Gomes wissen noch nicht genau, wann sie nach Brasilien zurückkehren werden. Sie hoffen, dass sie in ein paar Wochen von ihren Paten als fit genug eingestuft werden, um am Werksaufbau in ihrem Heimatland mitwirken zu können. Gomes wird in Santa Cruz als Prozessingenieur für Sekundärmetallurgie arbeiten - das heißt für die qualitätssteigernde Nachbehandlung des Stahls, Lazaroni ebenfalls als Prozessingenieur, allerdings in der Primärmetallurgie, worunter man die Stahlgewinnung versteht.

Eine internationale Karriere streben die beiden jedoch nicht an. Sie sind verheiratet, noch ohne Kinder, aber ihre private und berufliche Zukunft sehen sie in Brasilien. Ein größerer Personalaustausch zwischen Brasilien und Deutschland ist ohnehin nicht vorgesehen - weder in die eine noch in die andere Richtung. "In der Startphase werden Fachkräfte aus Deutschland in beschränktem Umfang die Brasilianer unterstützen", sagt der Personaler Marcus Mogk. Allerdings werde das nur für maximal ein paar Monate sein, und die Zahl der Entsendeten liege sicherlich unter 100.

Internationale Jobnomaden werden die Brasilianer also voraussichtlich nicht - sie werden aber neben der Unternehmensphilosophie auch ein gutes Bild von der Mitbestimmung mit nach Hause nehmen. Insofern ist der Plan der IG Metall offenbar aufgegangen. "In Brasilien werden Konflikte zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern von beiden Seiten konfrontativer geführt. Ich finde es beeindruckend, wie hier versucht wird, Probleme im Konsens zu lösen", sagt Gomes, obwohl er in Duisburg miterlebt hat, dass es auch anders geht - bei Warnstreiks während der Tarifverhandlungen.

Gomes und Lazaroni sind keine Gewerkschaftsmitglieder. Ob sich das ändern wird, lässt Gomes erst einmal offen: Gewerkschaftliches Engagement werde in Brasilien von den Unternehmen nicht gern gesehen, sagen sie. Wenn Vorstandschef Aristides Corbellini die Unternehmenskultur von ThyssenKrupp so verinnerlicht hat wie Lazaroni und Gomes, müsste das beim Arbeitgeber CSA eigentlich anders sein.

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