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Piroska Gallo, die Vorsitzende der Gewerkschaft der Padagogen, ist eine hoch respektierte Figur in der ungarischen Arbeitnehmerbewegung und zugleich eine scharfe Kritikerin der rechtspopulistischen Regierung von Viktor Orban. Was kann sie uberhaupt bewirken? Magazin Mitbestimmung

Von SILVIU MIHAI: Ungarn: Ein Gesicht der Arbeitnehmerbewegung

Ausgabe 11/2017

Thema Piroska Galló, die Vorsitzende der Gewerkschaft der Pädagogen, ist eine hoch respektierte Figur in der ungarischen Arbeitnehmerbewegung und zugleich eine scharfe Kritikerin der rechtspopulistischen Regierung von Viktor Orbán. Was kann sie überhaupt bewirken?

Von SILVIU MIHAI

Budapest: Es ist ein frischer, bedeckter Herbstmorgen, und vor der prächtigen Kulisse von Jugendstil-Gebäuden scheinen die Passanten, wie so oft in der ungarischen Hauptstadt, etwas traurig und besorgt zu sein. Fast niemand lächelt. Selbst die Kinder mit ihren schweren Schulranzen bewegen sich still und schnellen Schrittes durch die Gassen. Unweit vom berühmten Heldenplatz, wo die Bronzefiguren die Touristen beeindrucken, sitzt Piroska Galló in ihrem vergleichsweise bescheidenen Büro. Seit fast zehn Jahren ist sie die Vorsitzende der Gewerkschaft der Pädagogen (PSZ), also der größten und traditionsreichsten Arbeitnehmerorganisation im ungarischen Bildungssektor.

Galló hat eine ruhige Stimme, spricht langsames, sehr gehobenes Ungarisch und erklärt sorgfältig jeden Zusammenhang. In ihr erkennt man sofort eine erfahrene Lehrerin mit Leidenschaft am Unterrichten. Tatsächlich war die heute 64-Jährige Galló, nach ihrem Studium der Pädagogik und Psychologie, viele Jahre als Grundschullehrerin in der Budapester Innenstadt tätig. Schon 1972 wird sie auch Mitglied einer Gewerkschaft, die damals, vor der Wende, allerdings nur einen sehr begrenzten Spielraum hat.

Doch anders als viele ihrer Kollegen verliert sie in den Umbruchjahren nach 1989 nicht den Glauben an die Arbeitnehmerbewegung, sondern widmet sich im neuen, freien Kontext erst recht der Gewerkschaftsarbeit. Als Sekretärin einer Basis-, später einer Bezirksorganisation kümmert sich Piroska Galló geduldig um die Belange der Pädagoginnen und Pädagogen – zu einer schwierigen Zeit, als Ungarn mit Strukturreformen, massivem Kaufkraftverlust, Armut und Unsicherheit zu kämpfen hatte. Davon erzählt sie.

Ende der 1990er-Jahre verbesserte sich einigermaßen die Lage, die Kassen der Kommunen und der Zentralregierung waren nicht mehr so klamm, und Geld konnte endlich in die Bildungsinfrastruktur investiert werden. Längst überfällige Reparaturen und Modernisierungsarbeiten wurden unternommen, die EU-Beitrittsperspektive und später die Strukturfonds aus Brüssel machten es möglich.

Doch die Lehrergehälter hinkten hinterher, auch die Arbeitsbedingungen blieben im Vergleich zu westeuropäischen Standards und ungarischen Hoffnungen eher prekär. Für Galló war das ein Grund weiterzumachen.

Aber selbst in dieser, etwas „normalisierten“ Situation erkannte nicht jeder einen kollektiven Handlungsbedarf. „In den Jahren nach der Wende haben wir wie alle anderen Gewerkschaften massiv Mitglieder verloren, die nach dem EU-Beitritt nicht mehr zurückgekommen sind“, stellt sie fest. „Es mag in Westeuropa befremdlich klingen, aber in Ungarn ist es nicht einfach, den Menschen zu erklären, wozu eine Gewerkschaft überhaupt gut ist.“

Die bedeutendste Arbeitnehmerorganisation

Mit mehr als 30.000 Mitgliedern gilt die Gewerkschaft der Pädagogen heute noch als die bedeutendste Arbeitnehmerorganisation im Lande. Angesichts einer Bevölkerung von rund neun Millionen und der ausgeprägten Auswanderung, müssten die gewerkschaftlichen Mitgliederverluste der 1990er-Jahre nicht zwangsläufig als Zeichen der Schwäche interpretiert werden, gibt die Gewerkschafterin zu bedenken. Sie könnten als „Normalisierung“ im Zuge einer mehr oder weniger erfolgreichen demokratischen und sozioökonomischen Transformation interpretiert werden. Schließlich galt Ungarn zumindest bis 2008 als gutes Beispiel einer liberalen Anpassung an marktwirtschaftliche Verhältnisse, wobei auch die berechtigten Interessen der sozial Schwächeren mitgedacht wurden – anders als etwa im weit neoliberaler geprägten Rumänien oder in den baltischen Staaten – wo der Sozialstaat sofort zu einem schlechten Witz degradiert wurde.

Doch das änderte sich mit der Wirtschaftskrise. Die Wahlsiege des rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán 2010 und 2014 zeigten, dass viele Menschen in Ungarn den international weit verbreiteten Eindruck, das Land sei auf einem insgesamt positiven Kurs, gar nicht teilten.

Sie gaben ihre Stimme einem euroskeptischen Nationalisten und nicht den proeuropäischen Parteien – als Reaktion auf Korruptions- und Lügenskandale, sowie die Austeritätsmaßnahmen, die die damalige sozialdemokratische Regierung 2009 ergriff; aber auch aus dem Gefühl, dass sich die Lebensstandards doch nicht so schnell an die westeuropäischen annähern, wie ursprünglich erwartet und versprochen. „Als Gewerkschaftler stehen wir auch heute eher den linken Parteien nahe, selbst wenn dies in Ungarn weniger offensichtlich ist als etwa in Deutschland“, kommentiert Galló. „Dennoch fühlten sich viele unserer Mitglieder von der Bilanz der ungarischen Linken enttäuscht. Ich selbst sehe darin viele Schattenseiten und verpasste Chancen.“

Die Menschen teilten die positive Einschätzung der EU nicht

Die politischen und sozialen Folgen des Erdrutschsiegs der ungarischen Rechtspopulisten bei den Parlamentswahlen 2010 sind verheerend und weitgehend bekannt: Orbán schränkte die Pressefreiheit ein, ließ die Verfassung neu schreiben; er fing an, kritische Stimmen aus der Zivilgesellschaft zu schikanieren, kriminalisierte die Obdachlosigkeit, lockerte den Kündigungsschutz und schuf die Tarifverhandlungen praktisch ab.

Gleichzeitig erklärte er allen möglichen Akteuren einen permanenten Scheinkrieg – den Brüsseler Bürokraten, den multinationalen Konzernen, den Banken und Finanzspekulanten, den „heimatlosen Linksliberalen“, den Kommunisten, den kulturfremden Migranten und neuerdings auch dem ungarischstämmigen US-Milliardär George Soros. Dies erlaubt ihm, sich als Vertreter des „wahren und ehrlichen ungarischen Volks“, als Verteidiger der „fleißig Arbeitenden“ zu präsentieren, eine Wahl nach der anderen zu gewinnen, während die Kassen seiner Unternehmerfreunde und sogar Familienangehörigen in atemberaubendem Tempo klingeln, wenn die EU-Gelder ganz zufällig dort landen.

Ein einziger Arbeitgeber entscheidet über das Schicksal

Vor diesem Hintergrund ergibt sich für die Gewerkschaften eine grundsätzliche Schwierigkeit, die darin besteht, unterschiedliche soziale Themen immer wieder zurückzuerobern und neu besetzen zu müssen, und zwar mit einem anderen Vokabular als das offizielle, völkische und nicht selten latent antisemitische. Die Allgegenwärtigkeit des Regierungsdiskurses, den fast alle Medien anstimmen, mache es schwierig, Mitglieder zu mobilisieren und zu Protestaktionen aufzurufen, glaubt Galló.

Hinzu kommt ein Faktor, der den Bildungssektor besonders betrifft: Orbáns groß angelegte Bildungsreform ließ vor vier Jahren die Autonomie der Schulen und der staatlichen Universitäten praktisch verschwinden. Mit einem Strich waren nicht mehr die Kommunen für das Schulwesen zuständig, sondern eine neue, zentralistische Behörde.

Die kann Menschen einstellen und rauswerfen. „Fast alle Lehrer haben heute einen einzigen Arbeitgeber“, stellt die Gewerkschafterin fest. Dieser bestimmt über Arbeitsverträge, Finanzierung und auch über die konkreten Inhalte des Unterrichts. „Unter diesen Umständen ist es nachvollziehbar, dass die Menschen Angst haben.“ Und diese Angst ist auch berechtigt, denn es kam bereits vor, dass aus der Perspektive der Regierung unliebsame oder zu kritische Schuldirektoren oder Universitätsrektoren kurzerhand gefeuert oder versetzt worden sind.

Auch die Forderungen der PSZ und anderer Bildungsgewerkschaften nach einer Erhöhung der sehr niedrigen Gehälter für Lehrer fanden jahrelang bei der Regierung kein Gehör, obwohl das Durchschnittsniveau von kaum 900 Euro brutto im Monat bei Preisen, die oft ähnlich sind wie in Deutschland, einfach skandalös war.

Noch weniger Verständnis gab es für die Anhebung der Arbeitszeiten im Zuge der Orbán-Reform, die ein völlig unrealistisches Arbeitspensum von rund 30 Unterrichtsstunden in der Woche vorsah, dazu noch Vor- und Nachbereitung, Benotung und Berichterstattung. Erst nach einem mehrtägigen Streik und massiven Protesten bot der zuständige Minister letztes Jahr eine Kompromisslösung, die Galló und ihre Kollegen annahmen, weil klar war, dass es sich im aktuellen politischen Kontext nichts Besseres hätte verhandeln lassen. Das durchschnittliche Bruttogehalt eines  Lehrers liegt aktuell bei rund 1000 Euro im Monat.

Dieser bescheidene Erfolg zeigte, dass das gewerkschaftliche Mobilisierungsproblem kein unlösbares ist, wenn es sich um konkrete, branchenspezifische Themen handelt. Andererseits wurden dadurch auch die Grenzen für klassische gewerkschaftliche Aktionen im heutigen Ungarn deutlich, sagt die Gewerkschafterin Galló. „Wir dürfen uns nichts vormachen: Politik können wir nicht vermeiden, und wir müssen unseren Mitgliedern und auch anderen Arbeitnehmern klarmachen, dass es wohl auf das Ergebnis der nächsten Parlamentswahlen ankommt.“

Diese finden schon bald, im April 2018 statt, und die Chance, dass Orbán die Macht verliert, ist Umfragen zufolge extrem gering. Die hoffnungslose Zerstrittenheit der linken und liberalen Oppositionsparteien, die fast vollständige, wenn auch indirekte Kontrolle der Regierung über die Medien, und ein Wahlsystem, das die Parlamentsmehrheit mehrmals zu ihren eigenen Gunsten geändert hat, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem neuen Erdrutschsieg für Orbáns Partei beitragen. Piroska Galló hat die Hoffnung dennoch nicht verloren. Sie ist eine Kämpferin mit viel Geduld.

Aufmacherfoto: László Mudra

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