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Magazin Mitbestimmung

: Testfall Bahn

Ausgabe 10+11/2007

TARIFPOLITIK Die Auseinandersetzungen zwischen den Gewerkschaften Transnet, GDBA und der GDL zeigen, dass gute Politik ganz unterschiedlichen Beschäftigtengruppen gerecht werden muss.

Von JÜRGEN HOFFMANN. Der Autor ist Professor für Politische Soziologie an der Universität Hamburg. Er ist Experte für industrielle Beziehungen und Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung.

Worum geht es im aktuellen Konflikt bei der deutschen Bahn? Da sind einmal die unbestreitbar schlechte Entlohnung und die oft schlechten Arbeitsbedingungen, unter denen verantwortungsvolle Tätigkeiten wie die der Lokführer ausgeübt werden müssen - was allerdings auch für andere Mitarbeiter des Konzerns zutrifft, wie für die Fahrdienstleiter, die nicht von der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) vertreten werden.

Das lässt allgemein allemal einen Arbeitskampf zur Verbesserung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen gerechtfertigt erscheinen - auch wenn ein Plus von 30 Prozent, wie es die GDL für ihre Klientel gefordert hat, schon utopisch erscheint. Die Frage, die sich hier aber stellt, ist die, warum die DGB-Gewerkschaft transnet nicht schon früher diese Problematik erkannt hat und sich für die Verbesserung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen dieser Gruppe und anderer, ähnlich betroffener Gruppen stark gemacht hat.

Offenbar hat sie es versäumt, die besonderen Probleme einzelner Beschäftigtengruppen wie der Lokführer oder des Zugbegleitpersonals in die eigenen tariflichen Forderungen sinnvoll zu integrieren. Aber ist dies nicht ein Problem aller großen Gewerkschaften? Dies ist die eine Seite. Die andere Seite ist die, dass hier eine in einem Berufsverband organisierte kleine Gruppe von Beschäftigten, die sich schnell überschaubare Problemstellungen und Forderungen einigen kann, mit einem hohen Sanktionspotenzial ausgestattet ist und dieses Potenzial auch gegenüber dem Arbeitgeber und der Gesellschaft ausnützt.

Damit unterläuft sie die auch aus der Sicht der Gewerkschaften sinnvolle Tarifeinheit in einem Unternehmen und das in Deutschland vorherrschende Prinzip "Ein Betrieb - eine Gewerkschaft". Diese Ausgangssituation ist nicht nur von den Fluglotsen, der Vereinigung Cockpit und den Ärzten, sondern auch aus der Organisationssoziologie nur allzu gut bekannt.

Dabei wird nicht - wie der ehemalige Vorsitzende der IG Medien, Detlef Hensche in einem Beitrag in den Blättern für deutsche und internationale Politik schreibt - durch Dumpinglöhne die gewerkschaftliche Macht ausgehebelt. Es ist vielmehr so, dass die Lohnerhöhungen nicht mit den Schwächeren im Betrieb oder in der Branche geteilt werden. Darin drückt sich zugleich das klassische Dilemma von Großorganisationen aus: dass sie, gerade weil sie solidarisch mit unterprivilegierten, nicht sanktionsfähigen Gruppen unter ihren Mitgliedern sind, stärkere Interessengruppen nicht gebührend berücksichtigen können.

Auf ein solches Solidaritätspostulat gegenüber unterschiedlichen Mitgliedergruppen und der Gesellschaft insgesamt können die hier benannten kleinen, sanktionsfähigen Gruppen verzichten - so wie die italienischen Basiskomitees (cobas), die zur Ferienzeit in Civitavecchia die Fähren nach Sardinien bestreiken, wenn der Rest der italienischen Arbeiterklasse samt Auto und Familie bei 40 Grad Celsius in der Warteschlange schmort.

Klar - auch die großen Gewerkschaften streiken und lassen, wenn nötig, die Gesellschaft auf ihren Müllsäcken sitzen. Aber zugleich haben diese Gewerkschaften immer versucht, die gesellschaftlichen Folgen gering zu halten. Doch auch die interne Solidarität der DGB-Gewerkschaften ist letztlich eine ausschließende Solidarität: Solidarität ist immer nur in umgrenzten Räumen - in Unternehmen, Branchen, Sektoren oder im Nationalstaat - möglich.

Sie schließt immer die aus, die nicht dazugehören. Erst diese Handlungsräume machen eine solidarische Politik möglich und begrenzen zugleich ihre Reichweite. Frauen, Migranten, ungelernte Beschäftigte oder "Scheinselbstständige" wissen ein Lied davon zu singen. Die Auseinandersetzungen bei der Bahn sind für die Gewerkschaften ein brisanter Testfall. Denn der Vorstoß der GDL kann zur Nachahmung seitens anderer Gruppen in den DGB-Gewerkschaften verführen.

Die Folgen wären verheerend: Denn da solche Nachahmer jene Gruppen in den Gewerkschaften vertreten, die in einem hohen Maße sanktionsfähig sind, verlören die Gewerkschaften auf einen Schlag ihre "Kampfbattaillone" (so ein Wort von Monika Wulf-Mathies), mit denen sie in der Regel ihre Streiks zum Erfolg führen. Würden etwa die Busfahrer und die Müllwerker bei ver.di - beide Gruppen sind mindestens ebenso wie oder mehr belastet als die Lokführer - eigene Berufsverbände gründen, dann sähe es schlecht aus bei Streiks im öffentlichen Dienst.

Und dass innnerhalb der IG Metall über die Gründung einer eigenständigen Automobil-Arbeitergewerkschaft spekuliert wird, ist ein offenes Geheimnis. Die Aktionen der GDL verweisen auf ein weiteres Problem: Die Dezentralisierung der Produktion, die Entgrenzung und Individualisierung der Arbeit werden in Zukunft zu immer unterschiedlicheren Arbeits- und Lebensbedingungen führen, die immer schwerer in den alten Bahnen der Tarifpolitik einzufangen sind.

Die Gewerkschaften des DGB müssen sich daher auf eine komplexere Umwelt einlassen und selbst - ohne das Solidaritätspostulat aufzugeben - differenziertere Formen der Vertretung und der Forderungsstrukturen im Sinne einer Regulierung der Vielfalt entwickeln, sofern sie es nicht schon tun. Aber auch die Arbeitgeber müssen aus der immer noch schwelenden Auseinandersetzung eine Lehre ziehen: Jene, die wie in letzter Zeit üblich, das Ende des Flächentarifvertrags fordern, sollten erkennen, dass dann ein permanenter und vielfältiger Kleinkrieg droht, der Kostenkalkulationen langfristiger Art, wie sie die deutsche Qualitätsproduktion aber benötigt, obsolet machen wird. Die Auseinandersetzungen zwischen der Deutschen Bahn und der GDL sind hier ein böses Omen.

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