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Magazin Mitbestimmung

: Tarifpolitische Schachzüge

Ausgabe 01+02/2008

TARIFVERHANDLUNGEN In einem Rollenspiel lernen Stipendiaten der Hans-Böckler-Stiftung und der Stiftung der Deutschen Wirtschaft, wie hart Tarifauseinandersetzungen sein können.

Von DENNIS KREMER. Der Autor arbeitet als freier Journalist in Köln.

Hannes Beushausen macht nicht den Eindruck, als sei er der geborene Gewerkschaftsführer - einer, der Stärke zeigen, die Basis mitreißen und die Arbeitgeberseite im Zaum halten muss. Überzeugen kann Hannes Beushausen an diesem Morgen niemanden. Immer wieder kommt er ins Stocken, als er von einem Zettel die Tarif-Forderungen der Gewerkschaftsgruppe abliest: "Neun Prozent mehr Lohn." Pause, ein kurzes Nesteln an der orangefarbenen Krawatte, ein Blick auf den Zettel. "Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 37 Stunden." Wieder eine Pause, wieder der Blick auf den Zettel. Dann schiebt er nach: "Ah ja, außerdem drei zusätzliche Urlaubstage."

Jeden echten Gewerkschaftschef hätte ein solcher Auftritt den Job gekostet: Doch von Hannes Beushausen erwartet keiner, dass er sich wie ein ausgebuffter Tarifprofi präsentiert. Schließlich ist es erst ein paar Minuten her, dass seine vier Mitstreiter den 24-Jährigen, der im wirklichen Leben Physikstudent und Stipendiat der Stiftung der Deutschen Wirtschaft ist, zum Verhandlungsführer ihrer Gewerkschaft ernannt haben. Nicht nur Beushausen findet sich an diesem grauen Novembermorgen in einer ungewohnten Rolle wieder - außer ihm sind 29 weitere Studenten und Doktoranden nach Berlin gekommen, um für einen Tag Arbeitgebervertreter oder Gewerkschafter zu spielen und in simulierten Tarifverhandlungen über Löhne und Wochenarbeitszeiten zu streiten.

Ihre Aufgabe: Am Ende des Tages sollen sie einen Haustarifvertrag unter Dach und Fach gebracht haben. Es geht aber um mehr, als nur das Tarifgeschäft kennenzulernen. Mitorganisator und Böckler-Stipendiat Torsten Kordon sagt: "Die Leute sollen während der Veranstaltung den Schulterschluss üben. Vielleicht führt das auch dazu, Vorurteile abzubauen." Dass die zwischen den Teilnehmern bestehen könnten, ist nicht völlig auszuschließen: Denn 15 Studenten sind Stipendiaten der Hans-Böckler-Stiftung, die übrigen 15 werden von der arbeitgebernahen Stiftung der Deutschen Wirtschaft (sdw) gefördert.

KEIN KLASSENKAMPF IM BAHN-TOWER_ Doch die Spielregeln der Tarifsimulation verhindern, dass die Stipendiaten untereinander den Klassenkampf praktizieren. Jedem Verhandlungsteam müssen sowohl Böckler- als auch sdw-Leute angehören - während des Rollenspiels sind die Studenten der verschiedenen Stiftungen also zur Zusammenarbeit gezwungen. Tarifpolitisch vermint ist der Ort, an dem sie zum Vertragsabschluss kommen sollen: In der 21. Etage des Bahn-Towers am Potsdamer Platz haben auch Deutsche-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn und Widersacher Manfred Schell von der Lokführergewerkschaft GDL schon einige Runden ihres Tarifgefechtes ausgetragen.

Was Mehdorn und Schell über Monate hinweg nicht gelungen ist, sollen die Studenten nun innerhalb eines Tages schaffen - eine Einigung im Tarifkonflikt bei der Bahn. Allerdings ist die Ausgangssituation in der Simulation nicht so verfahren wie in der wirklichen Auseinandersetzung zwischen Bahn und GDL: Im Jahr 2015, in dem die Tarifverhandlungen spielen sollen, hat die Deutsche Bahn zwar zusätzliche Konkurrenten bekommen, doch auf Gewerkschaftsseite hat sie es nur noch mit einem Verhandlungspartner zu tun - der Bahngewerkschaft, zu der sich Transnet, GDBA und GDL mittlerweile zusammengeschlossen haben.

MEHR KOHLE, MEHR FREIZEIT_ Spitzenmann dieser fiktiven Gewerkschaft ist seit einigen Minuten Hannes Beushausen, der sich in seiner neuen Rolle noch nicht wirklich zurechtfindet. Die Art und Weise, wie er die Lohn- und Arbeitsansprüche der Bahngewerkschaft formuliert hat, war eher ein Reinfall, das spürt auch der sdw-Stipendiat. Zusätzlich irritiert ist er aber durch die Reaktion auf seinen Vortrag: Die Frau und die fünf Männer, die ihm gegenübersitzen, schlagen sich vergnügt auf die Schenkel, schmunzeln, lachen. Sie bilden die Tarifkommission der Gewerkschaft, mit der Verhandlungsführer Beushausen und seine vier Mitstreiter ihre Verhandlungsstrategie abstimmen müssen, bevor es in die Tarifschlacht geht.

Um den Wirklichkeitsgrad des Rollenspiels zu erhöhen, ist die Kommission mit Profis besetzt, die schon so manchen echten Tarifstreit ausgefochten haben. Einer von ihnen ist Heinz Fuhrmann, stellvertretender Bundesvorsitzender der Verkehrsgewerkschaft GDBA, ein kräftiger Mann mit grauem Kinnbart. Abrupt hört er auf zu lachen, dann sagt er: "Neun Prozent mehr Lohn hört sich prima an, aber überlegt euch gut, wie viel am Ende durchsetzbar ist." Transnet-Kollege Norbert Köppl, der seine grauen Haare zu einem beeindruckenden Pferdeschwanz zusammengebunden hat, beendet die erste Lektion in Sachen Tarifpolitik mit den Worten: "Letztlich wollen unsere Leute vor allem zwei Dinge: mehr Kohle und eine kürzere Arbeitszeit. Darauf müsst ihr achten."
 
Mehr Geld, mehr Freizeit. Eigentlich eine klare Sache - wenn da nicht eine andere Fünfergruppe etwas dagegen hätte. Die Gegner der Bahngewerkschaft bei diesem Tarifspiel geben sich bei einer kurzen internen Besprechung auf dem Gang kompromisslos: Ein Angebot wollen sie in der ersten Verhandlungsrunde nicht machen, das hat ihnen die Arbeitgeber-Tarifkommission eingeschärft. Arbeitgeber-Verhandlungsführer Dirk Marquardt klingt schon wie ein in vielen Tarifschlachten gestählter Veteran, als er sagt: "Uns geht es darum, die Wettbewerbsfähigkeit der Bahn langfristig zu sichern." Dass Marquardt solche Sätze derart professionell über die Lippen kommen, ist nicht selbstverständlich: Denn er ist Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung. Viele werden am Ende des Tages sagen, dass sie darüber erschrocken waren, wie schnell sie ihre neuen Rollen angenommen haben.

DEN GEGNER WEICHKLOPFEN_ Beim ersten direkten Aufeinandertreffen der Kontrahenten kommt es, wie es kommen muss: Schon nach wenigen Minuten herrscht dicke Luft. Die Gewerkschafter wollen ein Angebot, etwas Handfestes, zumindest eine ungefähre Größenordnung. Doch Dirk Marquardt von der Arbeitgeberseite wiegelt alle Forderungen ab: "Jetzt schon Zahlen auf den Tisch legen? Vielleicht denken Sie mal lieber darüber nach, was Ihr Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit unseres Unternehmens sein könnte."

In der ersten Runde müsse man den Gegner weichklopfen, seine Schmerzgrenzen ausloten, hatte Transnet-Mann Köppl der Gewerkschaftsgruppe vorher mit auf den Weg gegeben. Doch so sehr Hannes Beushausen und seine Leute auch bitten, gestikulieren und schimpfen: Weichklopfen lässt sich vorerst gar nichts - die Arbeitgeber setzen auf Totalblockade. Selbst die wunderschöne Aussicht vom Bahn-Tower auf den Potsdamer Platz kann die Stimmung im Verhandlungsraum nicht heben. Außerordentlich gut ist die Stimmung dagegen bei den Arbeitgebern, als Bahn-Verhandlungsführer Marquardt seine Tarifkommission über den Verlauf der ersten Runde unterrichtet.

"Ein großes Lob, Sie haben sich exakt an unsere Vorgaben gehalten", sagt Lars Hünninghausen, auch er ein erfahrener Tariffuchs: Bei der Deutschen Bahn ist er unter anderem für Vergütungs- und Arbeitszeitpolitik zuständig. Doch Hünninghausen vertut seine Zeit nicht mit Lobeshymnen. Während seine fünf Kollegen ihrem Verhandlungsteam noch anerkennend zunicken, fährt er sich durch die akkurat zurückgekämmten Haare und blickt dann ernst auf die Tabellen aus roten, grünen und blauen Zahlen, die er auf einer Tafel aufgemalt hat.
Sie beruhen auf einem Rechenmodell, mit dem die Simulationsteilnehmer die Mindestbedingungen bestimmen können, zu denen sie einen Tarifvertrag unterschreiben dürfen.

Hünninghausens blaue Ziffern stehen für einen sehr guten Tarifabschluss, rote Ziffern für einen inakzeptablen. Eindringlich sieht er die Stipendiaten an, bevor er die Arbeitgebervertreter wieder in den Kampf schickt: "Sie verhandeln nur über Lohn und Arbeitszeit, nicht aber über konkrete Zahlen. Sagen Sie nur: Höhere Löhne bedeuten höhere Wochenarbeitszeit." Sein Gesichtsausdruck lässt keinen Zweifel zu. Am Ende des Tages wird Hünninghausen nur eine blaue Ziffer akzeptieren.

DER ERSTE STREIK_ Hünninghausens rigide Vorgaben bleiben nicht ohne Wirkung. Die Arbeitgeber-Parole "Mehr Gehalt, weniger Freizeit" steht nun gegen die Gewerkschaftsforderung "Mehr Gehalt, mehr Freizeit" - kein Wunder, dass sich die Atmosphäre zwischen den Verhandlungsteams von Minute zu Minute verschlechtert. Alle haben mittlerweile die wichtigsten tarifpolitischen Floskeln verinnerlicht: Die eine Seite redet von den "marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die uns keine Wahl lassen", die andere von den "Kollegen da draußen, die die Jahre der Bescheidenheit einfach satt haben".

Die Böckler-Stipendiatin Johanna Wenckebach vom Verhandlungsteam der Arbeitgeber bringt ein Gefühl vieler Teilnehmer auf den Punkt, als sie in der Nachbesprechung sagt: "Ich konnte selbst nicht glauben, was für Phrasen ich manchmal von mir gegeben habe."
Wenckebach und ihre Kollegen zeigen im Verlauf der Verhandlungen sogar beachtliches schauspielerisches Talent. Als die Bahngewerkschaft nach dem Mittagessen immer wieder mit dem Abbruch der Gespräche droht, versuchen die Arbeitgeber mit einem Trick ein letztes Mal, Zeit zu gewinnen.

Um kein Angebot auf den Tisch legen zu müssen, inszenieren sie kurzerhand vor den Augen der anderen Seite einen minutenlangen internen Streit, an dessen Ende Wenckebach zur neuen Verhandlungsführerin bestimmt wird. Auch sie nicht unbedingt die typische Arbeitgebervertreterin: Die neue Frontfrau des Bahnkonzerns hat Rasta-Locken und trägt einen Nasenring. Doch selbst dieser Schachzug kann das Unausweichliche nicht mehr verhindern. Um 15:03 Uhr rufen die Bahngewerkschafter den ersten Streik des Tages aus - das bedeutet nach den Regeln der Simulation vor allem für die Arbeitgeberseite viele Punktabzüge.

DAS SPITZENGESPRÄCH_ Rund drei Stunden später stehen die Verhandlungen endgültig vor dem Aus. Nach einem weiteren Streik haben die Arbeitgeber zwar endlich ein Angebot vorgelegt, aber ein inakzeptables, wie Hannes Beushausen meint. "Das reicht einfach nicht", sagt der Verhandlungsführer der Bahngewerkschaft und klingt beinahe verzweifelt. Denn der Zeitdruck sitzt jetzt allen im Nacken: Wenn die Teams sich bis Punkt 18:25 Uhr nicht einigen können, gelten die Gespräche als gescheitert - das haben die Organisatoren der Simulation vorher so festgelegt.

Nun, um kurz nach sechs, schlägt die Stunde der Profis: GDBA-Vertreter Fuhrmann auf der einen und Deutsche-Bahn-Mann Hünninghausen auf der anderen Seite greifen direkt in die Verhandlungen ein. In einem Spitzengespräch, an dem ansonsten nur noch die Verhandlungsführer Beushausen für die Gewerkschaft und Wenckebach für die Bahn teilnehmen, sollen sie retten, was noch zu retten ist. Es ist der Moment, auf den sich Fuhrmann seit Beginn des Tages gefreut hat: "Der Zeitdruck, das Kribbeln im Bauch - ich liebe das." Hünninghausen und Fuhrmann schauen jetzt beide so grimmig drein, als wollten sie gleich aufeinander losgehen.

Beide wissen: Es geht um die blaue Zahl. Beushausen ist angespannt, immer wieder fährt er sich mit der Hand über die Stirn. Wenckebach presst die Lippen zusammen. Dann verhandeln fast nur noch die Experten: Plötzlich gibt es doch noch Spielräume. Wie auf dem Basar fliegen Zahlen hin und her, mal wird Fuhrmann etwas lauter, dann wieder Hünninghausen. Auf einmal sagt der Arbeitgebervertreter: "Passen Sie auf, ich nenne jetzt fünf Zahlen, und dann machen wir Schluss: 4,5 Prozent mehr Lohn, 20 Monate Vertragslaufzeit, 39 Stunden Wochenarbeitszeit, drei Jahre Beschäftigungsgarantie, 28 Urlaubstage."

Während die Verhandlungsteams im Hintergrund noch angestrengt rechnen, hat Fuhrmann bereits zugestimmt - so schmiedet man wohl einen Tarifabschluss. "Besonders am Ende des Tages habe ich mich immer mehr als Spielball der Experten gefühlt", sagt Johanna Wenckebach in der Rückschau. Ein anderer Teilnehmer drückt es drastischer aus: "Manchmal waren wir wie Pferdchen, die der Möhre nachrennen mussten." Um 18:24 Uhr jedenfalls ist der Tarifkonflikt des Jahres 2015 für die Deutsche Bahn beendet. Schnell kritzeln die beiden Verhandlungsführer ihre Unterschrift auf ein Stück Papier.

Als die anderen Teilnehmer ihnen applaudieren, umarmen sie sich fast. Das wichtigste Kennzeichen eines gelungenen Tarifabschlusses sei es, dass sich die Kontrahenten am Ende des Tages noch in die Augen sehen könnten, hatte Experte Fuhrmann den Studenten am Morgen gesagt. Daran gemessen haben sdw-Stipendiat Beushausen und Böckler-Stipendiatin Wenckebach einen wirklich guten Tarifvertrag zustande bekommen.

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