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Festakt Hans Böckler Stiftung mit Scholz und Fahimi Magazin Mitbestimmung

Events: Starke Mitbestimmung für eine starke Demokratie

Ausgabe 06/2022

Die Mitbestimmung in Form des Betriebsverfassungsgesetzes feierte in diesem Jahr nicht nur ­Geburtstag, sie wird auch mehr denn je gebraucht. Das zeigte sich in den Diskussionen und Vorträgen ­verschiedener Veranstaltungen der Hans-Böckler-Stiftung. Von Jeannette Goddar und Fabienne Melzer

Manchmal hilft ein Blick von außen, die eigene Lage deutlicher zu sehen. Einen solchen Blick warf Oliver Nachtwey, Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel, von der Schweiz auf Deutschland und fragte zu Beginn seines Vortrags beim Herbstforum des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung in Berlin: „Warum ist Deutschland im Verhältnis zu Großbritannien und den USA stabiler – trotz gewachsener Ungleichheiten?“ Seine Hypothese: „Weil es in Deutschland eine erweiterte Form der Demokratie gibt, die Mitbestimmung.“

Claudia Bogedan, Geschäftsführerin der Hans-Böckler-Stiftung, verwies auf die Forschungsergebnisse des WSI: „Es gibt einen Zusammenhang zwischen der demokratischen Verfasstheit einerseits und den Löhnen und Arbeitsbedingungen andererseits.“ Darüber hinaus verdeutlichte WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch die Wirkung der Mitbestimmung auf die Demokratie insgesamt: „Wer an seinem Arbeitsplatz mitreden kann, neigt seltener zu antidemokratischen Ansichten und fürchtet sich auch weniger vor dem technischen und digitalen Wandel.“ Auch aus diesem Grund sollten Gesellschaft und Regierende ein Interesse daran haben, die drei Säulen von Demokratie in Arbeit zu stärken: betriebliche Mitbestimmung, Unternehmensmitbestimmung und Tarifautonomie.

In der historischen Herleitung zeigte Oliver Nachtwey eine Besonderheit von Demokratie in Arbeit: Die industriellen Staatsbürgerrechte berühren alle Ebenen, die zivilen Staatsbürgerrechte wie die Meinungsfreiheit oder die politischen, etwa das Recht, eine Vertretung wählen zu können.

Die Digitalisierung sowie die zunehmende Zersplitterung von Belegschaften in Stamm-, Leih- und Werkvertragsbeschäftigte fordere die Erneuerung der industriellen Staatsbürgerrechte heraus. „Früher waren in einem IG-Metall-Betrieb alle Beschäftigten Teil des Unternehmens. Heute sind Catering und Security outgescourct, Ingenieure arbeiten über Werkverträge“, sagte Nachtwey. In vielen Dienstleistungsbereichen löse sich die Belegschaft völlig auf. „Ein Essenskurier hat keinen Vorgesetzten mehr. Er bekommt seine Aufträge vom Algorithmus.“

Wie Mitbestimmung hier gelingen kann, war Thema eines der Foren. Der Soziologe Heiner Heiland von der Georg-August-Universität in Göttingen attestiert der Branche eine „lebendige und aufregende“ Organisierung von Beschäftigten, etwa bei den Protesten der Kuriere des Lieferdienstes Gorillas oder in der Facebook-Gruppe „Liefern am Limit“. Die gute Nachricht: Der Trend gehe klar zur Festanstellung – und zur Gründung von Betriebsräten.

Johanna Wenckebach, die Direktorin des Hugo Sinzheimer Instituts der Hans-Böckler-Stiftung, zog eine gemischte Bilanz: Die Lücken im 70 Jahre alten Betriebsverfassungsgesetz seien groß. Neben digitalen Zugangsrechten für Gewerkschaften brauche es mehr Mitbestimmung bei der künstlichen Intelligenz, etwa im Datenschutz.

Claudia Bogedan eröffnete das Abschlusspodium mit klaren Worten. In Zeiten, in denen viel Erreichtes brüchig werde, sei klar: Der Kapitalismus wird Lücken, die man ihm lässt, immer nutzen. Und die Lücken seien zurzeit groß: „Klima, Ökologie, Geschlechtergerechtigkeit, Vielfalt – keins der großen Themen unserer Zeit ist seiner Bedeutung entsprechend im Betriebsverfassungsgesetz verankert.“

Einige Wünsche blieben offen

Wer zu einer Geburtstagsfeier eingeladen wird, bringt Geschenke mit. Zu einem runden Geburtstag fallen die Geschenke schon mal etwas größer aus. Mit dieser Erwartung begrüßte Stiftungs-Geschäftsführerin Claudia Bogedan die Gäste, die zum 70. Geburtstag des Betriebsverfassungsgesetzes Anfang November nach Berlin gekommen waren. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz war der Einladung von DGB und Hans-Böckler-Stiftung gefolgt. Auf sein Geburtstagsgeschenk waren wohl alle am meisten gespannt.

Schließlich kann nur die Bundesregierung der Mitbestimmung den zurzeit größten Wunsch erfüllen: ein Betriebsverfassungsgesetz auf der Höhe der Zeit. Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi sieht die Gesellschaft in einer Phase, in der Mut und Einsatz gefragt sind. „Transformation, zumal in Krisenzeiten, kann aber nur gelingen, wenn sie auf dem Auge sozialer Nachhaltigkeit nicht blind bleibt“, sagte Fahimi beim Festakt in Berlin. Nur fehlten hierfür der Mitbestimmung nach 70 Jahren die passenden gesetzlichen Werkzeuge. Das fange schon bei der grundlegenden Frage an, ob Beschäftigte ihr Vertretungsrecht wahrnehmen können. So wird jede sechste Betriebsratsneugründung mit illegalen Mitteln be- oder verhindert.

Aus eigener Erfahrung konnte dazu Serdal Sardas, erster und einziger Betriebsratsvorsitzender bei Amazon in Deutschland, berichten. Der Weg zum Betriebsrat am Amazon-Standort Wunstorf war lang und steinig. Ohne die ständige Unterstützung der Gewerkschaft Verdi hätten sie es kaum geschafft. Für viele Beschäftigte in Wunstorf war es nicht nur die erste Betriebsratswahl: Viele sind Geflüchtete und konnten zum ersten Mal überhaupt demokratisch wählen. Deshalb geht es für WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch bei der Erneuerung des Betriebsverfassungsgesetzes um mehr als Paragrafen: „Es geht um die Frage, ob wir Menschen das Recht zugestehen, demokratische Teilhabe am Arbeitsplatz zu erleben. Damit steht und fällt auch die Glaubwürdigkeit der Demokratie.“

Auch Bundeskanzler Olaf Scholz betonte die Wichtigkeit der Mitbestimmung für das Gelingen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels. Die Transformation könne nur mit Betriebsräten gelingen. Sie wissen, was die Beschäftigten brauchen, vermitteln zwischen Unternehmensleitung und Belegschaft. „Damit Betriebsräte das alles leisten können, wollen wir sie stärken und das Betriebsverfassungsgesetz weiterentwickeln“, sagte Scholz und zählte die im Koalitionsvertrag genannten Reformen auf: das Recht auf digitalen Zugang zum Betrieb und die Einstufung der Betriebsratsbehinderung als Offizialdelikt.

Da blieben noch einige Wünsche offen. So sprach Yasmin Fahimi neben diesen beiden Reformen weitere notwendige Änderungen an wie das Mitspracherecht beim Umwelt- und Klimaschutz, bei der Digitalisierung, der Vielfalt im Betrieb sowie eine Demokratiezeit für alle Beschäftigten.

Soziale Rechte wurden und werden erkämpft

Fast alle sozialen Rechte wurden zunächst von Gewerkschaften erkämpft und dann verallgemeinert. Darauf wies der Soziologe Oliver Nachtwey beim WSI-Herbstforum hin und nannte als Beispiel den Kampf der IG Metall um Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.

Das gilt bis heute. So schloss die IG BCE im August eine Vereinbarung mit dem Arbeitgeberverband Chemie über ein digitales Zugangsrecht der Gewerkschaften zum Betrieb ab. Viele Menschen arbeiten heute mobil und sind über ihren Betrieb nur selten erreichbar. IG-BCE-Vorstandsmitglied Karin Erhard nannte die Vereinbarung einen wichtigen Türöffner. „Nur mit zeitgemäßer, digitaler Kommunikation können wir Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung zukunftsfähig machen“, sagte sie. Was die IG BCE vorgemacht hat, will die Bundesregierung nun in ein Gesetz für alle gießen.

Mehr Rechte für eine bessere Transformation

Bereits auf der Engineering- und IT-Tagung im September machte die Zweite Vorsit-zende der IG Metall, Christiane Benner, deutlich, wie wichtig angesichts der Transformation eine Erneuerung des Betriebsverfassungsgesetzes sei. Sie zitierte eine Umfrage ihrer Gewerkschaft, wonach rund die Hälfte der Befragten angab, dass ihr Betrieb keine Strategie für die Transformation habe. Deshalb forderte Benner: „Viele Betriebsräte haben ­Alternativkonzepte entwickelt. Die werden von Arbeitgebern oft einfach abgelehnt. Wir brauchen als Kernstück einen erzwingbaren Interessenausgleich nach Paragraf 112 Betriebsverfassungsgesetz.“

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