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Magazin Mitbestimmung

: Solidarität als Ausnahmetatbestand

Ausgabe 06/2008

EU-GESUNDHEITSPOLITIK Die Europäische Union und der EuGH wirken auf die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten ein. Das hat Folgen: Eine Gesundheitspolitik, die nicht marktförmig agiert, muss sich rechtfertigen.

Von Rolf Schmucker, Medizinsoziologe an der Universität Frankfurt/Main und Altstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, forscht derzeit über europäisch beeinflusste Gesundheitspolitik.

Unlängst jährte sich ein einschneidendes Ereignis, das vor zehn Jahren außer Sozialrechtlern und Gesundheitspolitikern vermutlich nur wenige Menschen wahrgenommen haben: Der Europäische Gerichtshof in Brüssel (EuGH) entschied im Jahr 1998, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei der Gestaltung ihrer Gesundheitssysteme das Recht des europäischen Binnenmarktes zu beachten haben.

Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist klar, dass der europäische Integrationsprozess die Gesundheitspolitik zunehmend beeinflusst. Dabei war in der ursprünglichen Konstruktion der Europäischen Gemeinschaft eine aktive gesundheitspolitische Rolle der europäischen Akteure nicht vorgesehen. Wie die Sozialpolitik insgesamt sollte auch die Gesundheitspolitik in der alleinigen Gestaltungshoheit der Mitgliedstaaten liegen.

Doch hier wirkt sich die spezielle rechtliche Konstruktion der EU aus, in der das Gemeinschaftsrecht Vorrang vor dem nationalen Recht genießt: Sie führt dazu, dass gesundheitspolitische Regelungen der Mitgliedstaaten vor dem EuGH auf ihre Vereinbarkeit mit dem Recht des Binnenmarktes überprüft werden können. Sind sie nach Auffassung der Richter mit dem EU-Recht unvereinbar, muss der Mitgliedstaat die betreffende Regelung ändern. Der Gerichtshof und die Europäische Kommission werden auf diese Weise zu wichtigen Akteuren der Gesundheitspolitik.

PFLICHT ZUR KASSENERSTATTUNG_ Betrachtet man zunächst einmal die EuGH-Entscheidungen von 1998 - die Rechtssachen "Kohll" und "Decker" -, so begünstigt die Anwendung des europäischen Rechts die grenzüberschreitende Patientenmobilität. Die Geltung des freien Verkehrs von Waren und Dienstleistungen im Binnenmarkt bedeutet, dass Versicherte Leistungen der ambulanten medizinischen Versorgung in anderen EU-Mitgliedstaaten in Anspruch nehmen können, während ihre Krankenkasse verpflichtet ist, die Kosten der Behandlung zu erstatten.

Für eine solche ambulante Auslandsbehandlung bedarf es keiner vorherigen Genehmigung durch die Versicherung, und es ist auch nicht notwendig, sich vorab einen Auslandskrankenschein zu besorgen. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen im Ausland Teil des freien Dienstleistungsverkehrs, der - gemäß Artikel 49ff. des EG-Vertrages - durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht ohne Weiteres beschränkt werden darf. In diesem Sinne verstößt eine Genehmigungspflicht der Krankenversicherung gegen das Gemeinschaftsrecht und ist daher unwirksam.

Dies gilt auch für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in Deutschland, deren Versicherte durch die EuGH-Urteile einen genehmigungsfreien Anspruch auf Kostenerstattung für ambulante Auslandsbehandlungen erhielten. Gegen eine Erleichterung der grenzüberschreitenden medizinischen Versorgung von Versicherten ist wenig einzuwenden.

Bedenklicher wird es, wenn man die Konsequenzen der Europäisierung für die weitere Entwicklung der Gesundheitssysteme betrachtet. Der EuGH trifft gesundheitspolitische Entscheidungen auf der Basis des EG-Vertrags, der im Kern auf die Verwirklichung des Binnenmarktes ausgerichtet ist. Die Anwendung des europäischen Rechts auf die Gesundheitssysteme bedeutet einen grundlegenden Schritt:

Damit wird der Vorrang des Marktes in einen Bereich übertragen, der in der historischen Entwicklung moderner Wohlfahrtsstaaten dem Zugriff der Marktregulierung weitgehend entzogen worden war. Die Anerkennung der Versorgung im Krankheitsfall als ein soziales Bürgerrecht hatte dazu geführt, dass Sicherungssysteme in staatlicher beziehungsweise öffentlicher Verantwortung entstanden, die sich an den Prinzipien des allgemeinen Zugangs und der solidarischen Finanzierung orientierten.

Die Gesundheitsversorgung als öffentliche Daseinsvorsorge entstand vor dem Hintergrund, dass angesichts von sozialen Ungleichheiten ein umfassender Zugang aller Menschen zu medizinischen Leistungen in einer Markt- und Wettbewerbsordnung nicht gewährleistet werden kann. Nationale Gesundheitsdienste wie in Großbritannien und Sozialversicherungssysteme wie in Deutschland haben daher den Leistungsanspruch des Einzelnen im Krankheitsfall weitgehend von seiner finanziellen Leistungsfähigkeit entkoppelt.

GRENZEN STAATLICHER STEUERUNG_ Nun fordert der EuGH nicht die Abschaffung öffentlicher Versorgungseinrichtungen oder solidarischer Finanzierungsprinzipien. Er begreift sie quasi als Ausnahmen vom Binnenmarkt- und Wettbewerbsrecht: Weil es sich um Dienstleistungen von allgemeinem Interesse handelt, ist die nicht marktförmige Steuerung des Gesundheitswesens europarechtlich legitimiert. Gleichzeitig legt der Gerichtshof jedoch Grenzen der staatlichen Steuerung fest, die im Interesse des Binnenmarktes nicht verletzt werden dürfen.

Es kommt zu einer Neujustierung des Verhältnisses von Staat und Markt im Gesundheitswesen; diese geschieht nicht auf der Grundlage eines politischen Meinungs- und Willensbildungsprozesses, sondern aufgrund der richterlichen Auslegung des Europarechts.
Ein Beispiel, das diesen Mechanismus deutlich macht, ist die Auseinandersetzung um den Status der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): Bei den deutschen Krankenkassen handelt es sich um Körperschaften des öffentlichen Rechts, die unter Aufsicht des Bundes beziehungsweise der Länder für die Absicherung des Erkrankungsrisikos von rund 90 Prozent der Bevölkerung zuständig sind.

Pflichtmitglieder und freiwillig Versicherte leisten Beiträge anhand eines solidarischen Finanzierungsmechanismus - und erwerben damit einen Rechtsanspruch auf diejenigen Leistungen, die für ihre medizinische Versorgung notwendig sind. Gleichzeitig schließen die Krankenkassen Verträge mit öffentlichen und privaten Leistungsanbietern ab - niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser, Arzneimittelhersteller -, mit denen die Versorgung der Versicherten gewährleistet werden soll.

Europarechtlich wurde nun die Frage aufgeworfen, ob es sich bei den deutschen Krankenkassen nicht um Unternehmen handele, die den Regelungen des europäischen Wettbewerbsrechts unterliegen. Danach ist es Unternehmen verboten, Preisabsprachen zu treffen und eine marktbeherrschende Stellung missbräuchlich auszunutzen. Mehrere Arzneimittelhersteller hatten vor dem EuGH gegen die Festsetzung von Höchstbeträgen für die Erstattung von Arzneimitteln durch die Spitzenverbände der GKV geklagt. Sie vertraten die Auffassung, die Festbeträge stellten eine nach europäischem Wettbewerbsrecht verbotene Preisabsprache dar.

Der EuGH entschied im Jahr 2004 nach kontroverser Erörterung, dass es sich bei der GKV nicht um ein Unternehmen handele. Er begründete diese Auffassung damit, dass die Kassen eine soziale Aufgabe wahrnehmen, die auf dem Grundsatz der Solidarität beruhe und ohne Gewinnerzielungsabsicht ausgeführt werde. Den solidarischen Gehalt einer Sozialversicherung machte der Gerichtshof bereits in einem früheren Urteil daran fest; er entschied, dass der Leistungsumfang sich nicht nach der Höhe der geleisteten Beiträge richtet, sondern nach dem medizinischen Bedarf - und dass im Finanzierungssystem eine Einkommensumverteilung stattfindet.

PRÜFVORBEHALT DURCH DEN EUGH_ Der solidarische Charakter wird in der Rechtsprechung des EuGH somit zu einer Art Ausnahmetatbestand, mit dem die Nicht-Geltung des Wettbewerbsrechts für die Krankenkassen legitimiert wird: Weil es sich um solidarische Einrichtungen handelt, die einem sozialen Zweck dienen, ist die politische Steuerung der Arzneimittelversorgung über Festbeträge rechtlich zulässig. Diese rechtliche Konstruktion macht allerdings darauf aufmerksam, dass die nationale Gesundheitspolitik mittlerweile einem weit reichenden Prüfvorbehalt durch das europäische Recht unterliegt.

Das Verhältnis von gesundheitspolitischer Steuerung und Binnenmarkt ist nicht abschließend, sondern nur für den Einzelfall geklärt. Weitere Entscheidungen des EuGH stehen an. So hat die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland angestrengt, weil der Abschluss von Rabattverträgen zwischen Krankenkassen und Arzneimittelherstellern nicht mit dem europäischen Vergaberecht vereinbar sei. Und der private Klinikbetreiber Asklepios klagt gegen die Übernahme von Defiziten kommunaler Krankenhäuser durch die öffentliche Hand, die als unzulässige Wettbewerbsverzerrung nach dem europäischen Beihilferecht angesehen werden.

Die Regierungen der EU-Mitgliedsländer müssen folglich bei der Konzipierung und Verabschiedung gesundheitspolitischer Maßnahmen immer auch das europäische Binnenmarktrecht und seine Auslegung durch den EuGH berücksichtigen. Damit ergeben sich Konsequenzen für die zukünftige Gestaltung des Gesundheitssystems. Gesundheitspolitik bewegt sich aufgrund der Wirksamkeit europäischen Rechts in einem verengten politischen Handlungskorridor, der dem Wettbewerb grundsätzlich Vorrang einräumt. Eine davon abweichende gesundheitspolitische Steuerung ist europarechtlich begründungsbedürftig.

Solange diese rechtliche Konstruktion existiert, kann das europäische Recht als Hebel genutzt werden, um einen Markt im Gesundheitswesen zu schaffen. Allerdings spielt der nationale Gesetzgeber nach wie vor eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, das Verhältnis von Markt und Staat im Gesundheitswesen neu zu justieren. Die in den jüngsten Gesundheitsreformen eingeführten Wettbewerbselemente auf Seiten der Krankenkassen und Leistungserbringer, wie Selektivverträge oder Wahltarife, werfen die Frage nach dem solidarischen Charakter des Systems erneut auf.

Je stärker die Krankenkassen im Wettbewerb agieren und je mehr der Unterschied zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung verschwimmt, desto eher wird die GKV europarechtlich als Unternehmen eingestuft und dem Markt- und Wettbewerbsrecht unterworfen. Die Lehre aus diesen Entwicklungen ist relativ einfach: Möchte man auch in einer europäisierten Gesundheitspolitik an einer solidarischen Steuerung festhalten, muss man dem Solidaritätsprinzip in der nationalen Gesundheitspolitik Priorität einräumen.

 

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