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Magazin Mitbestimmung

: Schlaflose Nächte

Ausgabe 12/2005

In vielen Firmen ist der Betriebsrat die einzige Instanz, die das Unternehmen in allen wirtschaftlichen und menschlichen Aspekten im Blick hat. Doch nicht immer wird diese Rolle anerkannt. Viele Betriebsräte müssen um Anerkennung kämpfen.


Von Erhard Tietel
Dr. Tietel ist Betriebswirt und Psychologe an der Akademie
für Arbeit und Politik der Universität Bremen.

"Es gab eine Zeit, in der es für mich persönlich immer nur nach oben ging", erzählt ein Arbeitnehmervertreter. Erst ist einer von denen, die wir für unser Forschungsprojekt ausgewählt haben und der uns über seine Rolle und seine Erfahrungen als Arbeitnehmervertreter berichten soll. Wir haben ihm wie allen Beteiligten Anonymität zugesichert. "Es ging immer bergauf", sagt er, "auch unternehmenspolitisch: jedes Jahr Hunderte von neuen Mitarbeitern.

Die große Zäsur war dann die Fusion und der Personalabbau. Seitdem habe ich das Gefühl, dass es mit dem Unternehmen bergab geht, mit der Gewerkschaft, mit dem Betriebsrat und mit mir persönlich auch." Sätze wie diese machen deutlich, wie eng die subjektiven Erfahrungen von Betriebsräten an Wohl und Wehe des Unternehmens gekoppelt sind.

Wer sich für die Kollegen engagiert, lässt sich, ähnlich wie in der Politik oder im Management, auf eine Achterbahn der Gefühle ein: Das Amt kann einen ausfüllen, es kann zufrieden machen, wenn es gelingt, die Dinge zum Positiven zu verändern, aber es kann auch deprimieren, belasten, wenn - etwa bei Unternehmenskrisen - die eigene Machtlosigkeit durchschimmert. Entsprechend unterschiedlich fallen die Statements der Befragten aus.

"Das ist der beste Job, den du als gewerblicher Mitarbeiter in einem Industriebetrieb bekommen kannst", begeistert sich ein freigestellter Betriebsrat, "weil du für die Kollegen was bewegen kannst. Und du bist dein eigener Herr." "Meine ganze Persönlichkeit hat sich durch die Betriebsratsarbeit verändert", berichtet eine Betriebsratsvorsitzende.

Das ist die Sonnenseite. Doch solch positiven Erfahrungen steht eine Menge an bedrückenden und belastenden Erlebnissen gegenüber. Da wird von schlaflosen Nächten berichtet, von persönlichen Krisen, sogar von Beinaheunfällen, wenn man spät abends nach einer Krisensitzung in der Firma eine rote Ampel überfährt. Die Befragten erzählen auch von körperlichen Erkrankungen, Klinikaufenthalten und Psychotherapien, die sie in mit dem Stress der Betriebsratsarbeit in Verbindung bringen.

Entlassungen sind für viele die schlimmste Erfahrung

Immer wieder nennen die Befragten Entlassungen im Unternehmen als Tiefpunkt der Betriebsratskarriere. Das gilt besonders dann, wenn die Arbeitnehmervertreter auch noch die Überbringer der schlechten Nachricht sind und die heftigen Gefühlsreaktionen und Zukunftsängste der Kollegen aushalten müssen: "Das kostet viel Kraft", sagt einer, "das sind diese Geschichten, wo man nachts nicht schlafen kann, mitten in der Nacht aufwacht und dann noch am Telefon beschimpft wird."

Zur eigenen Machtlosigkeit, den Personalabbau nicht verhindern, sondern nur sozial abfedern zu können, gesellt sich oft noch die Frage, ob man wirklich alles getan hat, was möglich war. Zum emotionalen Stress kommen Schuldgefühle hinzu oder Vorwürfe, den Anforderungen nicht zu genügen. Ursache dafür ist oft der überhöhte Anspruch der Arbeitnehmervertreter, die eigene Belegschaft umfassend schützen zu können.

Oft ist der Betriebsrat die einzige Instanz im Betrieb, die das Unternehmen als Ganzes ins Auge fasst - nicht nur in seinen ökonomischen, sondern auch in seinen sozialen, gesundheitlichen, kulturellen und persönlichen Dimensionen, und die einzige Instanz, die diese Einheit gegen Partikularinteressen zu vertreten sucht. Zur Sorge um den Betrieb gehört nicht nur, dass der Betriebsrat tätig wird, wo es um die Arbeitsbedingungen sowie um Beschäftigungs- und Standortsicherung geht, sondern dass er sich auch um die Arbeits- und Führungskultur sorgt oder darauf achtet, die schwache Stellung einer lokalen Geschäftsleitung im Konzern nicht noch zusätzlich zu untergraben.
 
Nicht immer fühlen sich Betriebsräte ausreichend anerkannt

Der Anspruch der Betriebsräte, für das Unternehmen insgesamt zuständig zu sein und Mitverantwortung zu tragen, wird von den Geschäftsführern, die sich oft nur für Kennzahlen interessieren und kaum noch eine emotionale Bindung an den Betrieb haben, nur selten anerkannt: "Es ist frustrierend, wenn das, was wir an Realitätssinn und Mitverantwortung gegenüber der Geschäftsleitung zeigen, von deren Seite gar nicht honoriert wird", erklärt einer der Befragten.

Obwohl die Beziehungen zur Geschäftsleitung heute sachlicher und lösungsorientierter geworden sind, als sie es noch in den 70er und 80er Jahren waren. Obwohl Betriebsräte früher und umfassender in Reorganisationsprozesse einbezogen werden, oft mehr als ihnen lieb ist, fühlen sich fast alle Befragten von ihrer Geschäftsleitung weniger anerkannt, als es ihr eigener Wunsch oder Anspruch ist.

Dieses Anerkennungsdefizit, ein zentrales Ergebnis unserer Befragungen, überrascht angesichts der in Jahrzehnten gewachsenen Beteiligungskultur. Es weist auch darauf hin, dass Betriebsräte im Zuge der stabilisierten institutionellen Anerkennung ein neues Selbstbewusstsein und Selbstverständnis entwickelt haben, aus dem wiederum neue Ansprüche erwachsen sind. Diese zielen auf die Wertschätzung des Betriebsrats als betriebliche Führungskraft - mit dem Selbstverständnis, Repräsentant des Betriebes als Ganzem zu sein: als Co-Manager, als Interessenvertreter und als Hüter der betrieblichen Lebenswelt.

Das Management rivalisiert um die Gunst der Belegschaft

Bereits in den 50er Jahren beschrieb der Soziologe Friedrich Fürstenberg die Rolle des Betriebsrates als Bindeglied zwischen der Belegschaft, der Geschäftsführung und der Gewerkschaft - und die Schwierigkeit, sich im Schnittpunkt oft widerstreitender Interessen zu bewegen und zu behaupten. Daran hat sich im Kern nur wenig verändert.

Zunehmend gewinnt aber auch die direkte Beziehung des Managements zu den Mitarbeitern an Bedeutung, bei der der Betriebsrat über weite Strecken außen vor bleibt. Modelle der indirekten Steuerung über Zielvereinbarungen, flexible Arbeitszeiten, leistungsabhängige Entgelte, Formen direkter Partizipation wie Gruppen- und Teamarbeit - sie alle verändern die Rolle der Beschäftigten gegenüber der Geschäftsleitung und auch dem Betriebsrat.

Die damit verbundenen Veränderungen in der Arbeitsorganisation sind radikaler, als die Geschäftsleitungen dies durch bloße Anweisungen je hinbekommen hätten. Etwa bei der Arbeitszeitflexibilisierung: Bestimmte Beschäftigtengruppen betreiben die Aufweichung tariflicher oder betrieblicher Regelungen oft ebenso wie die Geschäftsleitung. In der Arbeitszeitfrage tritt dem Betriebsrat dann ein Bündnis von Führungskräften und Beschäftigten entgegen. Sich solcher Koalitionen zu erwehren, das kann schwieriger sein, als direkt mit dem Management zu verhandeln.

Mitunter entbrennen zwischen dem Betriebsrat und dem Management regelrechte Rivalitäten um die Gunst der Mitarbeiter: "Die Rolle des Betriebsrates ändert sich alleine schon dadurch, dass du um die Belegschaft kämpfen musst", erklärt einer der Befragten.

Ganz Ähnliches weiß der Betriebsrat eines Softwarehauses zu erzählen: "Der Arbeitgeber hat eines früher nicht gemacht: Er hat nie versucht, die Belegschaft auf seine Seite zu ziehen. Heute tut er es, und er kann es auch ganz gut." Er ergänzt: "Der Machtkampf im Betrieb läuft heute nicht mehr nach dem Muster ‚Geschäftsführung gegen Betriebsrat‘, sondern entlang der Linie: ‚Wer kriegt die Belegschaft hinter sich - die Geschäftsführung oder der Betriebsrat?‘" Dann wird entscheidend, wem es gelingt, bei strittigen Punkten eine Koalition mit der Kernbelegschaft einzugehen.

Nicht nur um die Anerkennung der Geschäftsleitung, sondern auch um die der Beschäftigten ringen zu müssen ist für viele Betriebsräte eine schmerzliche Erfahrung. Wenn Rückhalt aus der Belegschaft fehlt, so erzählt einer der Befragten freimütig, "trifft einen das als Betriebsrat doppelt."

Auf Betriebsversammlungen kann man miterleben, wie schwer Betriebsräte es im Dreiecksverhältnis zwischen Belegschaft und Geschäftsführung haben. Das Management nutzt dieses traditionelle Forum des Betriebsrates, um die Belegschaft auf die Visionen der Firma einzuschwören. Wenn es - zumindest in den prosperierenden Firmen - die Ergebnisse und die Zukunftsaussichten in den hellsten Farben zeichnet und der Belegschaft für ihren Einsatz dankt, appelliert es damit auch an die Begeisterungsfähigkeit der Mitarbeiter und ihren Produzentenstolz.

Die tolle Firma und der Betriebsrat als Miesmacher

Für Betriebsräte ist diese Art von Firmencharisma ein zweischneidiges Schwert. Natürlich wollen auch sie, dass es ihrer Firma gut geht. Sie kennen aber auch den Preis, den die Beschäftigten dafür zu zahlen haben, sehr genau oder erfahren aus erster Hand von Missständen. So sind die Betriebsräte immer wieder diejenigen, die das Haar in der Suppe finden. Falls sich die Geschäftsleitung dies zu Nutze macht, um den Betriebsrat herabzuwürdigen, kann es zu einer folgenschweren Dynamik kommen: Das Management erhebt den Alleinanspruch auf Zukunftsvisionen, während dem Betriebsrat die Rolle des Miesmachers zugewiesen wird.

Viele Arbeitnehmervertreter leiden unter dieser Stigmatisierung und möchten - wie es ein Betriebsratsvorsitzender formuliert - endlich vom "Negativbild des Betriebsrates" wegkommen: "Nicht mehr der böse Betriebsrat sein, der hier durch die Gänge schleicht und kontrolliert, sondern eher Ansprechpartner, der versucht, hier irgendwas zum Besseren zu verändern."

Häufig müssen die Betriebsräte Beschäftigte vertreten, die mit ihrem Amt oder mit Gewerkschaften nur wenig anfangen können. Manchmal tragen aber auch die Betriebsräte selbst ihren Teil zu dieser Beziehungsstörung bei. Zu der angepassten, karriereorientierten Angestellten- oder Ingenieurkultur haben sich viele bis heute ein gespaltenes, wenn nicht ablehnendes Verhältnis bewahrt.

Ganz offen gestehen einige der Befragten ein, wie gerne sie an die guten alten Zeiten zurückdenken, in denen sie es überwiegend mit gewerblichen Mitarbeitern in der Produktion zu tun hatten: "Wenn man zu den Gewerblichen runter in die Halle gegangen ist, liefen immer gleich die Kollegen zusammen", erklärt einer. "Jetzt haben wir sehr viele Einzelbüros, in denen man sehr intensive Gespräche führen muss."

Viele Betriebsräte tun sich überdies schwer damit, die Beschäftigten als selbstständige dritte Akteursgruppe anzuerkennen. Den Gedanken zuzulassen, dass der Betriebsrat zwar der betriebliche Repräsentant der Belegschaft ist, beide jedoch eigenständige Akteure in der betrieblichen Arena darstellen, scheint keine Selbstverständlichkeit zu sein.

Der eine oder andere betrachtet es als Automatismus, dass er die Interessen der Beschäftigten vertritt, ohne zu realisieren, dass er auch ein "Anderer" gegenüber den Beschäftigten ist. Der Betriebsrat muss heute um seinen eigenen - wirklich dritten - Ort ringen: Er muss den Betrieb als Ganzes im Blick haben, ohne die arbeitnehmerorientierte Perspektive aufzugeben. Er muss mit der Geschäftsleitung sowohl vertrauensvoll zusammenarbeiten als auch Interessengegensätze austragen.

Er muss anerkennen, dass auch die Beziehungen zu den Beschäftigten vielschichtiger und ambivalenter sind, als dies das klassische Stellvertretungsverhältnis unterstellt. Und er muss die Beziehung zu den Gewerkschaften ausbalancieren, wo es darum geht, den Solidaritätsgedanken nicht preiszugeben. Bei diesem Pensum verwundert es nicht, dass die Betriebsräte für sich in Anspruch nehmen, als Führungskräfte anerkannt zu werden.



Kursangebot für Betriebsräte
Die Akademie für Arbeit und Politik der Universität Bremen bietet in Kooperation mit dem Arbeitskreis Arbeit und Leben des DGB einen Ein-Jahres-Kurs für Betriebsräte an, der eine praxisnahe Verbindung von betriebspolitisch-rechtlichen Kompetenzen mit sozialen und persönlichen Aspekten des Betriebsratshandelns anstrebt. Weitere Angebote sind Team-Coaching für Betriebsratsvorsitzende, Supervision für Betriebsräte sowie Teambildungsworkshops für ganze Betriebsratsgremien. Kontakt: Erhard Tietel, Telefon 0421/2187779, E-Mail: etietel@aap.uni-bremen.de; Internet: www.aap.uni-bremen.de

 


In 60 Interviews hat Erhard Tietel erkundet, wie Betriebsräte ihre Rolle und ihre Beziehungen zu Geschäftsleitungen und Belegschaften erleben. Untersucht wurden Unternehmen der Metall- und Chemiebranche, aber auch ein Dienstleister. Die Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung hat das Projekt unterstützt.

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