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Magazin Mitbestimmung

Industriepolitik: Schicksal einer Fabrik am Rande Europas

Ausgabe 12/2013

Oltchim, das größte Chemieunternehmen Rumäniens, steht vor der Insolvenz. Wie bei vielen Staatsunternehmen Osteuropas ruiniert eine unfähige Privatisierungs- und Wirtschaftspolitik die industrielle Substanz. Viele Rumänen geben nun der EU die Schuld. Von Silviu Mihai

Es ist ein sonniger Herbstmittag am Fuß der Karpaten, ein kalter Wind weht über das alte Industriegelände. Die erste Schicht verlässt die Fabrik. „Wieder haben wir acht Stunden lang die Maschinen poliert und den Staub gewischt“, lacht Andrei, einer der Mitarbeiter, der seinen Nachnamen nicht preisgeben will. Vor dem Tor marschiert ein Straßenhund langsam vorbei. Ein paar Meter weiter warten einige Busse, große und kleine. Sie fahren ins Stadtzentrum und in die benachbarten Dörfer, wo ein Teil der Belegschaft wohnt. Ein Plakat in der Haltestelle informiert, dass die gleiche Firma auch regelmäßige Fahrten nach Italien anbietet. Dort arbeiten seit Jahren fast eine Million Rumänen.

Oltchim, das größte Chemieunternehmen in Rumänien, ist seit einem Jahr insolvent. „Bald werden wir mit diesen Bussen nicht mehr ins Werk, sondern direkt nach Rom oder Berlin fahren“, fügt Andrei im gleichen sarkastischen Ton hinzu. Der gelernte Chemiefacharbeiter trägt eine dünne, blaue Jacke, er ist 47 und wurde hier in Ramnicu Valcea geboren. „Die Stadt bot damals, kurz vor der Wende, gute Ausbildungschancen. Die Berufsschulen arbeiteten mit dem Unternehmen zusammen. Man konnte nicht viel falsch machen, eine Einstellung bei Oltchim galt als sicher“, erinnert sich der Mann.

Heute gilt für die rund 100 000 Einwohner der Stadt nichts mehr als sicher. Über 3300 von ihnen sind direkt betroffen, sie arbeiteten bis vor Kurzem oder arbeiten noch bei der Chemiefabrik. Bereits seit 2012 steckt das staatliche Unternehmen in Zahlungsschwierigkeiten. Wegen der unbeglichenen Rechnungen drohten dann die Stadtwerke, Oltchim den Strom abzudrehen. Insgesamt 800 Millionen Euro betragen die angehäuften Schulden der Fabrik. Hinzu kommen 200 weitere Millionen, die laut EU-Vorschriften bereits in Umweltschutzanlagen hätten investiert werden müssen.

Oltchim ist ein Reizthema in Rumänien. Das 1966 gegründete Unternehmen gehörte jahrelang zu den besten und bekanntesten Arbeitgebern im Lande. Seine Produkte waren bis vor Kurzem zu 80 Prozent für den Export bestimmt. Vor allem auf dem europäischen Markt galten etwa das rohe PVC-Pulver, die Natronlauge oder das Propylenglykol von Oltchim als sehr begehrt. Westeuropäische Unternehmen fanden für diese Stoffe zahlreiche Anwendungen im industriellen oder im Alltagsbereich. Und nicht zuletzt: Das Frauenteam Oltchim Ramnicu Valcea landete in den letzten 30 Jahren stets auf dem ersten Platz bei der rumänischen Handballmeisterschaft. Es vertrat das Land, oft mit Erfolg, bei internationalen Wettbewerben. Doch seit Längerem ging es für das Unternehmen bergab. Der Staat konnte die fälligen Investitionen und Modernisierungen nicht mehr finanzieren. „Unsere Produkte waren nach wie vor kompetitiv und verkauften sich gut, doch die Schulden wurden immer größer“, erinnert sich Oltchim-Gewerkschaftschef Corneliu Cernev. „Der Staat tolerierte jahrelang die schlechte Zahlungsmoral seiner Staatsunternehmen“, erklärt auch der Bukarester Wirtschaftsexperte Cristian Orgonas. „Meistens handelte es sich bei den angehäuften Schulden um Fälligkeiten gegenüber anderen staatlichen Unternehmen oder den Steuer- und Sozialversicherungskassen. So blutete die Wirtschaftssubstanz langsam aus.“

EU-KOMMISSION SAGT NEIN ZU STAATSHILFEN

Das Paradoxe daran: Alle Beteiligten wissen, dass Oltchim durchaus rentabel sein könnte, wenn jemand die entsprechenden Investitionssummen in die Hand nehmen würde. Für die linksliberale Regierung von Premier Victor Ponta ist deshalb der Fall Oltchim mehr als brisant. Kurz vor den Parlamentswahlen im Dezember 2012 galt es, eine Insolvenz um jeden Preis zu vermeiden. Das linke Lager hatte die Sparmaßnahmen und Stellenkürzungen, die früher von seinen wirtschaftsliberalen Gegnern durchgesetzt wurden, heftig kritisiert. Kurz vor der Wahl konnten sich die Sozialdemokraten auf keinen Fall Entlassungen leisten. Ein Antrag auf die Genehmigung von Staatshilfen scheiterte an dem Nein der EU-Kommission, die darin eine Verletzung der europäischen Wettbewerbsregeln sah. Das aber forciert die Deindustrialisierung. Mehr noch: Der Internationale Währungsfonds erhöhte anschließend den Druck auf die rumänische Regierung. Es folgt eine lange Privatisierungsstory. Interessiert zeigte sich vor allem der deutsche Chemiekonzern PCC SE, der seit 1993 von seinem Hauptstandort in Duisburg aus in Fabriken in Osteuropa und auf dem Balkan investiert. Er betreibt ähnliche Werke in Polen und hat bereits vor ein paar Jahren ein Minderheitspaket der Aktiengesellschaft Oltchim erworben. Doch dann kam eine überraschende Wende: Der bekannte rumänische Fernsehmoderator Dan Diaconescu brachte sich selbst medienwirksam als Käufer ins Spiel, und mit 45 Millionen Euro bot er viermal so viel wie die Offerte von PCC. Der 44-jährige Journalist mit den grauen Haaren und auffälligen Designerschuhen ist Inhaber des Trash-Senders OTV, dessen Sendelizenz aufgrund gravierender Verstöße gegen die Regeln der Berichterstattung mittlerweile entzogen wurde. Als Meistbieter musste Dan Diaconescu eingeladen werden, den Kaufvertrag zu unterschreiben, was dann allerdings nie geschah.

Der rumänische Ministerpräsident Ponta, der auf eine schnelle Privatisierung gehofft hatte, kritisierte das Verfahren als „Fortsetzung einer schlechten Telenovela“. Er und sein Wirtschaftsminister Daniel Chitoiu bezweifelten öffentlich, dass Diaconescu die Summe aufbringen könnte. Sie erklärten den ersten Privatisierungsanlauf für gescheitert und riefen die Staatsanwaltschaft auf, ein Verfahren wegen Betrugs einzuleiten. Doch die Justiz blieb tatenlos, während Diaconescu vor laufender Kamera seine angebliche Zahlungsfähigkeit unter Beweis stellte: Er schleppte Säcke, die angeblich voller Geld waren, zum Wirtschaftsministerium. Was tatsächlich in den Säcken war, ist unklar. Die öffentlichkeitswirksame Aktion fand abends nach Dienstschluss statt, beim Wirtschaftsministerium war nur noch der Pförtner da. Heute steht die Regierung, aber vor allem die Belegschaft vor einem Scherbenhaufen. Die Insolvenz konnte nach der Wahl und der gescheiterten Privatisierung nicht mehr vermieden werden. Beinahe die Hälfte der Beschäftigten verlor seitdem den Arbeitsplatz – eine Änderung des Arbeitsgesetzbuchs durch die frühere wirtschaftsliberale Regierung erlaubt jetzt, während des Insolvenzverfahrens Stellen abzubauen, um Unternehmen „gesundzuschrumpfen“.

Die übrig gebliebenen Mitarbeiter haben Angst vor einer endgültigen Schließung, die sie ihre Arbeitsplätze kosten würde. Doch auch eine Übernahme des Unternehmens durch ausländische Investoren wie PCC ist nicht unbedingt gerne gesehen. „Viel zu oft haben nach der Privatisierung die neuen Eigentümer nur Bruchteile der Fabriken behalten und alles andere als Altmetall verkauft“, sagt Gewerkschaftschef Corneliu Cernev. „Ein möglicher Investor braucht nicht nur Geld, sondern auch einen nachhaltigen Plan, und es muss darauf geachtet werden, dass der auch umgesetzt wird. Wir hoffen, dass der Staat bald eine Lösung findet und wir die Arbeit wieder aufnehmen können“, sagt der Gewerkschafter.

DRUCK VOM IWF

Mittlerweile wächst wieder der Druck vom IWF. Erst kürzlich kündigte der neue Wirtschaftsminister Andrei Gerea an, dass sein Haus an einem neuen Restrukturierungsplan arbeitet. Cernev befürchtet, dass noch mehr Arbeiter entlassen werden könnten. In Ramnicu Valcea liegen die Nerven blank, die Möglichkeit einer Entlassungswelle sorgt für große Aufregung. Manche Oltchim-Mitarbeiter sind vor einigen Monaten nach Bukarest gefahren, um vor dem Wirtschaftsministerium zu protestieren.

„Wir werden nicht mehr von Bukarest regiert, sondern von der EU, vom IWF und von dieser Angela Merkel. Die wollen nicht, dass wir unsere eigene Industrie haben, sondern nur alles möglichst billig kaufen“, empört sich beispielsweise Ion Burcea, der 24 Jahre als Arbeiter bei der Chemiefabrik Oltchim beschäftigt war. Inzwischen fährt er in Ramnicu Valcea Taxi. Der deutschen Kanzlerin nimmt Burcea, wie auch viele andere Rumänen, die Einmischung in die Bukarester Politik und die Unterstützung für die drastischen Sparprogramme übel. Politische Analysten warnen seit einem Jahr vor einer Eskalation und vor der Gefahr populistischer Diskurse. In der Tat: Taxifahrer Burcea hat letztes Jahr die Volkspartei PPDD von Fernsehmoderator Dan Diaconescu gewählt – wie knapp 15 Prozent seiner Landsleute. Die Partei wurde damit zur drittstärksten Kraft im Parlament. Diaconescu ist für viele Rumänen der ersehnte Gegenspieler zu den beiden großen politischen Lagern. Vor wenigen Wochen erklärte der Moderator, dass er sich an allen geplanten Privatisierungen beteiligen will. Zwei Gasunternehmen, ein Atomkraftwerk und die Frachtsparte der rumänischen Bahn stehen auf der Liste des IWF. „Wir wollen alles kaufen, um die Unternehmen vor gierigen ausländischen Investoren zu retten. Die haben sich schon zu oft eine goldene Nase verdient, während der Staat und die Belegschaft nichts davon hatten“, befeuert der Fernsehmoderator die Ressentiments seiner Landsleute.

Demnächst ist Diaconescu wieder zu Besuch bei Oltchim, um mit den Mitarbeitern vor laufenden Kameras zu sprechen. In Ramnicu Valcea ist vielen klar, dass es ihm um politisches Kapital geht. Vor dem Eingangstor der Chemiefabrik stehen vier Geldautomaten. Die Arbeiter prüfen hier jeden Tag nach ihrer Schicht, ob ihr Gehalt inzwischen eingetroffen ist. Ende Oktober waren die Juli­löhne endlich auf den Konten. „Die spinnen doch alle“, schimpft ein älterer Arbeiter.

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