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Magazin Mitbestimmung

: Reformieren - aber wie?

Ausgabe 10/2009

AUSBILDUNG Seit Jahren wird über eine Modularisierung des Ausbildungssystems gestritten. Es ist vor allem die Lage der Niedrigqualifizierten, die den ideologischen Wettstreit befeuert.

Kaum mehr als 25 Prozent der Hauptschulabsolventen finden heute direkt nach dem Abschluss einen Ausbildungsplatz in einem Betrieb. Weitere 40 Prozent werden in Bildungsgängen außerschulischer Träger regelrecht zwischengelagert. Die Forscher sprechen vom "Übergangssystem", weil der Zwischenschritt der nachträglichen Qualifizierung den Wechsel von der Schule in den Beruf doch noch ermöglichen soll. Eigentlich ist es ein Wartesaal. Viele Geringqualifizierte hängen auch 18 Monate nach Schulende noch darin fest. Zugleich sind die Abbrecherquoten unter denen, die einen Ausbildungsplatz erhalten haben, hoch. Tausende, die sich der Ausbildung nicht gewachsen fühlen oder von Beratern in Berufe gedrängt werden, die ihnen gar nicht liegen, brechen jedes Jahr ab. Die Zahlen schwanken je nach Branche und Region. Im Durchschnitt aber wird jeder fünfte Vertrag vorzeitig aufgelöst. Reformen am Ausbildungssystem sind also dringend notwendig.

Seit Jahren suchen Fachleute nach den Fehlern im System - auch die Hans-Böckler-Stiftung hat mehrere Studien angeschoben. Als problematisch gelten unter anderem die begrenzte Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen, teure, aber ineffektive Übergangssysteme und eine fehlende Flexibilität im dualen Ausbildungssystem. Ausbildungsmotor ist der Mittelstand, der mehr als 80 Prozent aller Plätze stellt. Doch laut dem jüngsten Berufsbildungsbericht bildeten 2007 nur 493 000 der knapp 1,2 Millionen ausbildungsberechtigten Betriebe aus. Angesichts der immer noch mauen Auftragslage wollen die Unternehmen nun noch weniger ausbilden. Eine Umfrage der arbeitgebernahen IW Consult GmbH, eines Tochterunternehmens des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, hat im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie zwischen Mai und Juni rund 1700 Unternehmen befragt. Danach sinkt die Zahl der Ausbildungsplätze um 5,9 Prozent. Das Bundeswirtschaftsministerium rechnet mit einem Ausbildungsangebot von rund 580 000 Plätzen - 46 000 weniger als vor zwei Jahren. Parallel kommt es zu einer verstärkten Konkurrenz von Niedrig- und Gutqualifizierten - denn die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen ist im vergangenen Jahrzehnt kontinuierlich gestiegen.

Die Niedrigqualifizierten haben unter einer Ausbildungslücke in der Regel am meisten zu leiden. Zwar fließen Jahr für Jahr mindestens vier Milliarden Euro in die Übergangsprogramme der Berufsfachschulen und der Bundesagentur für Arbeit. Doch offenkundig macht das Erlernte die Absolventen nicht fit für den Ausbildungsmarkt. Zweieinhalb Jahre nach Beendigung der Schullaufbahn haben drei von fünf Teilnehmern solcher Maßnahmen keinen Ausbildungsplatz gefunden. So manchen beschleicht der Verdacht, es könnte nach dem Schulabschluss schon zu spät sein. "Das Geld ließe sich wesentlich sinnvoller bereits in der Schule einsetzen, zum Beispiel durch gezielte Bildungsangebote für benachteiligte Gruppen wie Migranten oder Jugendliche aus bildungsfernen Familien", sagt Heike Solga, Direktorin der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). "Defizite in der schulischen Bildung sind eine wesentliche Ursache dafür, dass es diese Übergangssysteme gibt, erhöhte Anforderungen seitens der Betriebe eine andere." Sie weist darauf hin, dass Jugendliche mehr Basiskompetenzen und eine bessere Allgemeinbildung als früher benötigen, um den Übergang in die Ausbildung zu schaffen.

Solga hat mit ihren Kollegen Martin Baethge und Markus Wieck vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) mit der Studie "Berufsbildung im Umbruch - Signale eines überfälligen Aufbruchs" eine Bestandsaufnahme der Berufsbildung in Deutschland vorgenommen - und zieht erschreckende Schlussfolgerungen: "Das Übergangssystem ist häufig der Start einer Maßnahmekarriere", sagt sie. Die beruflichen Perspektiven dieser Jugendlichen seien schlecht, vielen drohe der dauerhafte gesellschaftliche Ausschluss. "Die derzeitige Praxis baut Bildungsarmut nicht mehr ab, sondern verstärkt sie." Vor allem junge Männer mit niedrigem Schulabschluss drohen im Übergangssystem unterzugehen. Sie haben im Durchschnitt schlechtere Abschlüsse als Mädchen und sind vom Niedergang traditioneller Industrieberufe besonders betroffen, wohingegen Frauen vom Boom in den Dienstleistungsbranchen profitieren.

GEGENSEITIGE SCHULDZUWEISUNGEN _ Je schlechter Angebot und Nachfrage zusammenpassen, desto lauter werden die Schuldzuweisungen. Die Gewerkschaften beklagen, dass in den Unternehmen zunehmend Controller an Einfluss gewinnen und Aufwendungen für Aus- und Weiterbildung nur als Kosten sehen. Sie schlagen eine Ausbildungsplatzabgabe vor: "Auch die, die nicht ausbilden, profitieren von guten Fachkräften", sagt Uta Kupfer, Leiterin des Bereichs Berufsbildungspolitik bei ver.di. Die Arbeitgeber hingegen zeigen lieber auf das Schulsystem und klagen über ungeeignete Schulabgänger, die nicht ausbildungsreif seien. "Da ist teilweise sicherlich was dran", stimmt Uta Kupfer zu. "Aber die Unternehmen haben auch sehr hohe Eingangsbedingungen." Sie glaubt, dass sich das Problem zum Teil demografisch lösen wird: "Wenn weniger Jugendliche die Schulen verlassen, werden die Erwartungen der Arbeitgeber automatisch sinken, und man wird die Ausbildungsplätze auch an Real- und Hauptschüler vergeben müssen." Dorothea Voss-Dahm, Wissenschaftlerin am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg- Essen, stellt die konjunkturell verursachten Schwankungen des Ausbildungsplatzangebots ins Zentrum ihrer Überlegungen. Sie seien, so sagt sie, "ein Grundproblem des deutschen Ausbildungssystems". Ihr Einwand: Gerade wenn man die Ausbildung als eigenständige Bildungsphase verstehe, müsse man überprüfen, ob "die Organisation und Finanzierung des Ausbildungssystems noch zeitgemäß" sei.

Damit nicht genug. Auch der Übergang von der Ausbildung in den Job gestaltet sich zunehmend schwierig. Im Jahr 2007 wurden gerade mal 59 Prozent aller Auszubildenden von ihrem Ausbildungsbetrieb übernommen. Ein Grund für die sinkende Übernahmequote nach der Ausbildung: Fähigkeiten, die in der Lehre erworben werden, reichen an vielen Arbeitsplätzen nicht mehr aus. Auch in der Produktion wird zunehmend systemisches Wissen verlangt. Wer ausbildet, gerät schnell in Versuchung, sich trotzdem an Fachhochschulen und Universitäten umzusehen. Deshalb plädiert Heike Solga für einen verstärkten theoretischen Teil der Ausbildung. "Es spricht einiges dafür, dass Auszubildende die ersten beiden Jahre in der Schule mit längeren Praktikumsphasen verbringen sollten, um die Grundlagen zu lernen, und erst im dritten Jahr in den Betrieb wechseln." Doch über den Charakter der Reformen ist ein heftiger Streit im Gange. Während die einen sich die Ausbildung der Zukunft wie ein buntes Seminarangebot vorstellen, aus dem sich jeder das herausholen kann, was er gerade braucht, versuchen die anderen, die alte Beruflichkeit, die Idee einer umfassenden, gründlichen Ausbildung, in die neue Zeit zu retten.

STREIT UM DIE MODULARISIERUNG _ Die Wissenschaftler Georg Spöttl, Rainer Bremer, Philipp Grollmann und Frank Musekamp, Autoren der Böckler- Studie "Gestaltungsoptionen für die duale Organisation der Berufsausbildung", sehen aufgrund der niedrigen Übernahmequote an dieser zweiten Schnittstelle auf dem Weg in die Arbeitswelt ebenfalls "die dringende Notwendigkeit von Reformen, um die Balance zwischen Berufsbildung, der allgemeinen Bildung und dem Arbeits- und Beschäftigungssystem zu erreichen". Sie wehren sich dagegen, die Diskussion auf die Modularisierung zu verengen und fordern, "Fragen nach dem Erwerbslebenslauf von qualifizierten Berufstätigen und nach der Rolle berufsbiografischer Gestaltungskompetenz ins Zentrum zu stellen". Aus ihrer Sicht geht es um die Selbstbehauptung am Arbeitsmarkt und die Sicherung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit.
Arbeitsprozesse, nicht Kurse oder Seminare machen für sie den Kern der beruflichen Bildung aus. Dabei könne "Modularisierung eine Rolle spielen, muss es aber nicht."

Dagegen wird eingewendet, dass die Welt im Betrieb so heil nicht ist und nie war. Was etwa, wenn Azubis nur für Hilfsdienste eingesetzt werden und den Hof fegen, ohne dabei etwas zu lernen? Laut Ausbildungsreport 2009 der DGB-Jugend geben rund 13 Prozent der Azubis an, "häufig oder immer" ausbildungsfremde Tätigkeiten erledigen zu müssen. Hier müsste man wirksam Riegel vorschieben - zum Beispiel durch Qualitätssicherungssysteme. Dorothea Voss-Dahm vom IAQ setzt auf eine in Bausteine gegliederte Systematik der Berufsbildung, in der der Betrieb eine Rolle spielen kann, aber nicht muss - ähnlich wie im Studium. Am Anfang würden Grundberufe mit Grundkompetenzen erlernt, auf die weitere Module aufgesetzt werden können. Davon, so die Hoffnung, könnten auch Geringqualifizierte und Unentschlossene profitieren, weil Nachschulungen sich einfacher integrieren ließen. "Die Lebensarbeitszeit steigt - warum halten wir da strikt an der höchstens dreijährigen Ausbildung fest? Warum verwehren wir Jugendlichen, die etwas langsamer lernen, eine Ausbildungsdauer von vier Jahren?", fragt Solga.

Auch die Übergangssysteme würden ihrem Namen besser gerecht, weil dort erworbene Bausteine gleich auf die Ausbildung angerechnet werden könnten. Zwischen Ausbildungen könnte einfacher gewechselt werden, weil die Auszubildenden bestimmte Module mitnehmen und nicht wieder bei null beginnen. "Noch heute suggeriert das System, dass die Erstausbildung in den Beruf fürs ganze Leben mündet. Die Zeit ist aber vorbei. Job- und auch Berufswechsel werden zunehmen. Deshalb ist es wichtig, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass die Erstausbildung nur der Beginn eines lebenslangen Lernens ist, das einen ein ganzes Berufsleben begleitet", sagt Heike Solga vom WZB. Sie fordert im Zuge einer Reform auch die Gleichstellung von schulischer und betrieblicher Ausbildung. Das Berufsbildungsgesetz von 2005 hat die Nachrangigkeit der schulischen Ausbildung zunächst bis 2011 ausgesetzt. Solga: "Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wichtig wäre aber, das zu entfristen."

WIDERSTAND DER TARIF PARTEIEN _ Die Pläne für eine Modularisierung der Berufsausbildung stoßen aber bei den Gewerkschaften auf Widerstand. "Das machen wir auf keinen Fall mit", kündigt ver.di-Ausbildungsexpertin Uta Kupfer an. Sie befürchtet das Ende der klassischen Facharbeiter-Ausbildung: "Arbeitgeber würden sich dann mit Beschäftigten begnügen, die nur Teilqualifikationen erworben haben. Die wären zwar billiger, aber nicht flexibel." Ein weiteres Problem sieht Kupfer in der Komplexität des Baukastensystems bei einer vollständigen Modularisierung der Ausbildung. "Viele Jugendliche wären damit überfordert, sich selbst um die inhaltliche Zusammenstellung einer Ausbildung zu kümmern. Sie können doch noch gar nicht abschätzen, welche Qualifikationen in welchen Bereichen wichtig und gefragt sind", so Kupfer weiter. Gerade die Schwächeren - darauf läuft das Argument hinaus, wären die Verlierer. Ganz verschließen sich die Gewerkschaften aber nicht. ver.di und auch die IG Metall sind dafür, Kernberufe mit Grundqualifikationen zu schaffen: "Jugendliche sollten so breit und flexibel wie möglich ausgebildet werden. Sie müssen darin unterstützt werden, Fähigkeiten zu entwickeln, die ihnen später ein Selbstlernen ermöglichen", fordert auch Kupfer.

Die WZB-Direktorin Heike Solga sieht in den Tarifverbänden derzeit die Hauptblockierer - begründet durch ihre jeweils spezifischen Interessenlagen. Sie argumentiert, dass es für die an Mitgliedern interessierten Gewerkschaften schwieriger werden könnte, Nachwuchs zu gewinnen, wenn der Betrieb als Ausbildungsort an Bedeutung verliert. Aber auch die Arbeitgeber, sagt sie, seien zögerlich: "Für sie bedeuten betriebliche Ausbildungen, dass sie Nachwuchs frühzeitig an sich binden können - und das möchten sie, gerade in Zeiten des Fachkräftemangels." Noch aber, so scheint es, gelingt es den Unternehmen, die Politik mit warmen Worten zu besänftigen. In der Umfrage über die geplanten Ausbildungsaktivitäten in diesem Jahr geben sie an, dass sie den künftigen Fachkräftebedarf decken wollen, indem sie mehr Ausbildungsplätze bereitstellen werden - im Ausbildungsjahr 2010/2011. Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg lobte das Ausbildungsverhalten der Unternehmen als "weitsichtig und verantwortungsbewusst".

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