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70 000 Stolpersteine hat der Kölner Künstler Gunter Demnig bereits geschaffen. Hier verlegt er seine „Steine gegen das Vergessen“ vor dem ehemaligen Wohnhaus von Hugo Sinzheimer im Frankfurter Nordend. Sinzheimer, bekanntester Arbeitsrechtler der Weimarer Republik, war Jude. 1933 floh er mit seinen Angehörigen vor den Nazis in die Niederlande. Magazin Mitbestimmung

Von THOMAS GESTERKAMP: Pionier des Arbeitsrechts

Ausgabe 11/2018

Stiftung An Hugo Sinzheimer, von den Nazis vertriebener Namensgeber eines Institutes der Hans-Böckler-Stiftung, erinnert jetzt ein Stolperstein.

Von THOMAS GESTERKAMP

Ein bürgerliches Wohngebiet im Frankfurter Nordend. Vor dem stattlichen Haus Voelckerstraße 11 hat sich an diesem kühlen Herbsttag eine Menschenmenge versammelt. Die rund 40-köpfige Gruppe, zu der auch Gäste aus dem Ausland gehören, ist zusammengekommen, um Stolpersteine für Hugo Sinzheimer und einige seiner Familienmitglieder zu verlegen.

70.000 Stolpersteine gibt es mittlerweile in Deutschland. Der Kölner Künstler Gunter Demnig lässt sie seit 1996 in das Pflaster vor den letzten frei gewählten Wohnorten von Opfern des nationalsozialistischen Regimes ein. Häufig handelt es sich dabei um „arisierte“ Häuser, die früher in jüdischem Besitz waren.

Im Falle der Sinzheimers ging die Initiative von der lokalen Initiative Stolpersteine e.V. aus. An der Oberseite der eher unauffälligen, nur zehn Kubikzentimeter großen Betonquader befindet sich eine Messingplatte. Die Inschriften der sechs Steine in der Voelckerstraße erinnern an Hugo Daniel, Paula, Gertrud, Hans-Simon, Eva und Ursula Doris Sinzheimer.

Eine jüdische Familie, die so wie viele andere aus Deutschland fliehen musste: 1933 ging Hugo Sinzheimer, der bedeutendste Arbeitsrechtler der Weimarer Republik mit großen Verdiensten für die Gewerkschaftsbewegung, mit seinen Angehörigen ins niederländische Exil.

Hugo Postma trägt den Vornamen seines Großvaters. Der jüngste Sohn von Sinzheimers Tochter Ursula lebt im holländischen Bloemendaal bei Haarlem, der 65-Jährige ist mit seinen drei erwachsenen Kindern nach Frankfurt gereist. Das heute von mehreren Parteien bewohnte Haus seiner Herkunftsfamilie, das diese deutlich unter Wert verkaufen musste, sieht er bei der Zeremonie zum ersten Mal. “Wir haben nicht nach einer Gedenkfeier gefragt, freuen uns aber natürlich, dass sie stattfindet.”

Weitere Verwandte sind dabei, haben lange Wege aus den USA auf sich genommen. Frank Mainzer kommt aus San Francisco, seine Frau und zwei Schwestern begleiten ihn. Mit 79 Jahren ist er der älteste noch lebende Angehörige; bei der Feier hält er eine kurze Rede. “Das ist ein bewegender Moment für uns”, sagt er. Er lobt die – wenn auch späte – Anerkennung jener Menschen, die während der NS-Zeit ermordet wurden, im Untergrund oder in Lagern überlebten.

Das 1949 in Westdeutschland etablierte Tarifvertragsrecht, Muster auch für andere europäische Staaten, beruht wesentlich auf Hugo Sinzheimers Pionierarbeit. Die Fortführung seiner wegweisenden Ideen in der frühen Bundesrepublik hat er nicht mehr erlebt. 1875 in Worms als Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten geboren, hatte der in Heidelberg promovierte Jurist schon 1907 sein grundlegendes Werk über den “korporativen Arbeitsnormenvertrag” veröffentlicht.

Es bestehe „kein Zweifel, dass das moderne deutsche Arbeitsrecht auf Sinzheimers Forschung und Lehre beruht”: So würdigte ihn sein Schüler Otto Kahn-Freund, später Professor in Oxford, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 1975 anlässlich Sinzheimers 100. Geburtstages. „Denn er war es, der die kollektiven Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern oder deren Verbänden, der Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht von der Peripherie der rechtswissenschaftlichen Analyse in deren Zentrum rückte.“

Sinzheimer gilt als Vater des deutschen Arbeitsrechts. Erst durch seine Publikationen, die längst Klassiker sind, entstand daraus eine eigenständige Fachdisziplin. Er verstand sich aber auch als politischer Akteur. Anfangs linksliberal eingestellt und Mitglied der nationalsozialen Bewegung Friedrich Naumanns, trat er 1917 in die SPD ein, blieb 16 Jahre lang Frankfurter Stadtverordneter. Nach der Novemberrevolution ernannte ihn der örtliche Arbeiter- und Soldatenrat für sechs Monate gar zum provisorischen Polizeipräsidenten.

1919 wurde er in die Nationalversammlung gewählt. Öffentliches Aufsehen erregte er bald durch seine Tätigkeit in einem Untersuchungsausschuss, der die Gründe für die unnötige Verlängerung des Krieges bis zur endgültigen Niederlage klären sollte. Seine hartnäckigen Befragungen der als Zeugen geladenen Generäle Ludendorff und Hindenburg trug ihm früh den Hass der politischen Rechten ein. Sie starteten eine antisemitische Hetzkampagne gegen ihn.

Angesichts dieser Bedrohung zog sich Sinzheimer aus dem Parlament zurück. Er konzentrierte sich wieder auf sein Kerngebiet, das Arbeitsrecht. An der Verankerung des Rätesystems im Wirtschaftsleben nach Artikel 165 der Weimarer Verfassung war er federführend beteiligt, ebenso prägend war sein Anteil bei der Ausarbeitung des 1920 verabschiedeten Betriebsrätegesetzes.

Hauptberuflich arbeitete er weiter als Rechtsanwalt, lehrte parallel als ordentlicher Honorarprofessor an der Universität Frankfurt. 1921 gründete er dort die Akademie der Arbeit, die als Europäische Akademie bis heute eine wichtige Rolle in der Fortbildung von Gewerkschaftern und Interessenvertretern spielt.

Was bleibt von Hugo Sinzheimer? Nicht nur die Erinnerung an seine bahnbrechenden rechtlichen, politischen und pädagogischen Initiativen – neuerdings auch ein Stolperstein vor seiner einstigen Wohnung.

In der Frankfurter Zentrale der IG Metall ist seit 2010 das nach ihm benannte arbeitsrechtliche Institut angesiedelt, inzwischen ein Teil der Hans-Böckler-Stiftung. Auch in Amsterdam, wo Sinzheimer nach seiner Vertreibung Rechtssoziologie lehrte, trägt eine Forschungseinrichtung seinen Namen.

„Er war sehr traurig, Deutschland verlassen zu müssen, konnte seine Tätigkeit aber immerhin fortsetzen“, berichtet sein Enkel Hugo Postma. Während die Nazis ihm die Lehrbefugnis und den Doktortitel entzogen und ihn schließlich ausbürgerten, wechselte Sinzheimer als Professor an die Universität Leiden. Als die Wehrmacht im Mai 1940 die Niederlande besetzte, wurde er von der Hochschule entlassen und mehrfach verhaftet, kam schließlich wieder frei.

Die nächsten Jahre verbrachte er in wechselnden Verstecken bei holländischen Freunden. Im September 1945, vier Monate nach Kriegsende, starb er entkräftet an den Folgen des Lebens in der Illegalität.

Aufmacherfoto: Alexander Paul Englert

WEITERE INFORMATIONEN

Stolpersteine-Website von Gunter Demnig

Website des Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht

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