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Magazin Mitbestimmung

Sozialabbau in Ungarn: Orbáns autoritäre Offensive

Ausgabe 01+02/2012

UNGARN Der Furor, mit dem die rechtspopulistische Regierung das Land um- und demokratische Rechte abbaut, hat die EU-Kommission auf den Plan gerufen. Im Land ringen Gewerkschafter und soziale Bewegungen um eine gemeinsame Plattform. Von Silviu Mihai

SILVIU MIHAI ist Journalist, zurzeit in Budapest/Foto: Dagmar Gester

Auf dem Blaha-Lujza-Platz in Budapest, einem der zentralen Verkehrsknotenpunkte der Stadt, stehen an diesem milden Winternachmittag Dutzende Bedürftige Schlange. Sie warten auf eine warme Mahlzeit, die ihnen christliche Hilfsorganisationen regelmäßig anbieten. Eine Frau schüttet Bohnensuppe in Plastikschüsseln und verteilt sie mit einer dicken Scheibe Graubrot „im Namen Christi“. Männer und Frauen schlürfen wortlos ihre Teller leer, dann verschwinden sie in den benachbarten Seitenstraßen.

Das heutige Ungarn ist längst nicht mehr die fröhlichste Baracke Osteuropas. Mit mehr als zehn Prozent Arbeitslosigkeit und einer hohen Inflationsrate kriecht die Volkswirtschaft seit mehr als drei Jahren nur noch vor sich hin. Vorbei sind die Zeiten des Konsumoptimismus, verschwunden die enthusiastischen Experten, deren Analysen kurz nach dem EU-Beitritt des Landes eine Investitionsflut und Wachstumsraten chinesischen Ausmaßes voraussagten. Stattdessen präsentieren ausländische Banken und Investoren Ungarn nun eine unbezahlbare Rechnung. Aus Wut und Enttäuschung wählten die Bürger 2010 die Sozialdemokraten ab, es wurde ein Erdrutschsieg für Viktor Orbáns rechtspopulistische Partei Fidesz.

Seitdem vergeht kaum eine Woche, ohne dass die Regierung Grund- und Sozialrechte abbaut. Auf die umstrittenen Mediengesetze folgte eine ebenso kontroverse neue Verfassung, die die Macht des Ministerpräsidenten festigt und seine Entscheidungen praktisch unumkehrbar macht. Auf jede Herabstufung der ungarischen Staatsanleihen durch die US-Ratingagenturen, die die Finanzierung des Defizits erschweren, reagiert Orbán mit einer weiteren Drehung an den Daumenschrauben. Eine tief greifende Reform des Arbeitsrechts setzt jetzt den Kündigungsschutz so gut wie außer Kraft, verkürzt das Arbeitslosengeld auf drei Monate und verpflichtet die Arbeitslosen zu gemeinnütziger Arbeit. In einer Hauruckaktion kurz vor Weihnachten wurde das Gesetzespaket im Parlament durchgepeitscht – unter heftigen, aber vergeblichen Protesten der Opposition.

GEWERKSCHAFTSFEINDLICHES ARBEITSRECHT_ Zum einen möchte die Regierung mit der Reform ihre rechtskonservative Agenda durchsetzen und den Forderungen von Arbeitgeberorganisationen entgegenkommen. Diese beschweren sich seit Jahren über das angeblich zu komplizierte Arbeitsrecht und die niedrige Beschäftigungsrate, die der Staat durch zu viele Sozialleistungen und falsche Anreize nicht erhöhe. Zum andern sind die neuen Arbeitsgesetze Teil der allumfassenden Fidesz-Agenda, die eine Neujustierung aller Institutionen vorsieht. „Die Reform macht die Ausübung des Streikrechts abhängig vom guten Willen der Arbeitgeber oder der Gerichte und stellt dadurch eine erhebliche Einschränkung unseres Spielraums dar. Das neue Arbeitsgesetzbuch ist definitiv gewerkschaftsfeindlich“, erklärt Károly György, Abteilungsleiter für Internationale Kooperation beim Gewerkschaftsdachverband MSZOSZ.

„Als wir im Spätsommer von diesen neuen Plänen der Regierung erfahren haben, konnten wir es kaum glauben“, erinnert sich Péter Kónya. Der 42-Jährige sitzt an seinem Schreibtisch im Haus des Verbands der Unabhängigen Gewerkschaften. „Danach haben wir verstanden, dass sie es ernst meinen“, fährt er fort. „Spätestens seit September haben wir angefangen, uns mit vereinten Kräften dagegen zu organisieren. Die Reform konnten wir nicht verhindern, aber wir geben nicht auf“, sagt er entschlossen.

Bis vor Kurzem war Kónya Oberstleutnant und vertrat 15 Jahre lang die Interessen der Beschäftigten der ungarischen Armee, Polizei und Feuerwehr. Gegen Kürzungen im öffentlichen Sektor und Erhöhungen des Renteneintrittsalters ist im Frühjahr sein Gewerkschaftsverband mehrmals auf die Straße gegangen. Doch wie alle anderen Protestaktionen blieb auch diesen Demos jeder Erfolg verwehrt. „Die Regierung ist keinen Zentimeter zurückgewichen. Nur gemeinsam, als große Plattform haben wir überhaupt eine Chance, Einfluss zu nehmen“, sagt Kónya.

DER NEUE OPPOSITIONELLE KERN_ Tatsächlich war es die Idee einiger Gewerkschafter, noch vor der Ankündigung der jüngsten Arbeitsrechtsreformen eine Sammelbewegung zu gründen, die die Kräfte von Arbeitnehmerorganisationen und kleineren, aber sehr aktiven Bürgerinitiativen vereinen soll. „So ist die Protestplattform Szolidaritás entstanden, die jetzt landesweit in allen wichtigen Städten und Landkreisen vertreten ist. Auf diese Art und Weise können wir viel mehr Bürger erreichen und mobilisieren als durch klassische Aktionen einzelner Gewerkschaften, die die Regierung immer wieder als Besitzstandswahrer abtut“, erklärt Kónya die Strategie der neuen Bewegung. „Bei der Namenswahl haben wir uns von der polnischen Solidarnosc inspirieren lassen: Genau wie unsere Kollegen aus Gdansk verlangen wir nicht nur unsere Sozialrechte, sondern protestieren gegen eine autoritäre Regierung“, kommentiert er die Kommunikationsstrategie.

Ein paar Meter von der Suppenküche entfernt sammeln sich auf dem Blaha-Lujza-Platz an dem gleichen Nachmittag die Anhänger der neuen Bewegung. Junge Aktivisten, die mit ihren Mobiltelefonen auf Facebook zur Demo aufrufen, unterhalten sich mit 50-jährigen Arbeitnehmern, die sich an die Zeiten vor der Wende erinnern. „Genossen, hier ist das Ende!“, steht auf den Transparenten, die ironisch die Vertreter der rechtskonservativen Fidesz-Regierung mit den alten staatssozialistischen Parteikadern vergleichen. „Orbán und seine Leute bezichtigen jede oppositionelle Stimme als kommunistisch. Dabei sind sie es doch selbst, die den ungarischen Rechtsstaat Stück für Stück abbauen!“, empört sich Sándor Székely, neben Kónya einer der Szolidaritás-Vorsitzenden.

Für das Frühjahr sind landesweit weitere Protestaktionen geplant. „Im Moment halten wir uns alle Optionen offen, vom Status einer breiten Sozialbewegung, die mit den Oppositionsparteien zusammenarbeitet, bis hin zur direkten politischen Partizipation als eine neue Partei“, erklärt Péter Kónya. Eine neue politische Bewegung, die für die Rechte der Arbeitnehmer eintritt, könnte tatsächlich erfolgreich sein, zumal die Sozialdemokraten von der MSZP fast zwei Jahre nach ihrer Wahlniederlage noch immer ein Korruptions- und Glaubwürdigkeitsproblem haben und mit der Absplitterung einer Fraktion konfrontiert sind. Allerdings ist Szolidaritás nicht die einzige Oppositionsbewegung. Als Antwort auf die zahlreichen umstrittenen Maßnahmen der Fidesz-Regierung wurden viele kleine Bürgerinitiativen ins Leben gerufen, die ein allgemeines Unbehagen konkret ausdrücken. Wer dieser bunten Szene eine kohärente Stimme gibt, der kann sich politische Hoffnungen machen – solange in Ungarn die demokratischen Grundlagen noch in Kraft sind.

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