Quelle: Cordula Kropke
Magazin MitbestimmungHandwerk: Offline auf der Baustelle
Die Digitalisierung rüttelt viele Berufe durch und stellt grundlegende Fragen zur Tarifbindung, zur Weiterbildung und Mitbestimmung. Von Stefan Scheytt
„Heute ist unser Handwerk Hightech, es geht um Tausendstel Millimeter“, schreibt eine saarländische Schreinerei auf ihrer Homepage. Woran man früher mit einem Hobel vier Tage arbeitete, das leiste die CNC-Fräse heute in zwei Stunden. Auf die Frage, ob solche Umwälzungen auch im Betriebsrat und von Gewerkschaftsmitgliedern im Betrieb diskutiert und mitbestimmt würden – die Schreinerei beschäftigt 60 Mitarbeiter –, antwortet der Chef: „Da sind Sie bei uns an der ganz falschen Adresse.“
In der kleinen Anekdote stecken zwei Themen. Das eine: Mitbestimmung und Handwerksunternehmen – das geht oft nicht zusammen. Das zweite Thema: Nach Handel und Industrie erfasst die Digitalisierung auch das Handwerk, von dem manche irrigerweise glaubten, es bleibe außen vor. Dachdecker steuern zur Schadensschätzung Drohnen übers Haus, Konditoren verschicken Torten über Onlineshops, und Augenoptiker fertigen Brillengestelle im 3-D-Druck.
Auch im Kfz-Handwerk schreitet die Digitalisierung voran, jedenfalls in großen Autohäusern wie der Fleischhauer-Gruppe. „Rollende Computer“ nennt Betriebsratsvorsitzender Alexander Hengst die Autos von heute: „Spurhalteassistent, Blind-Spot-Sensor, Nachtsichtgeräte: Die Kollegen entwickeln sich zu Multimediaexperten – man könnte auch von Kfz-Informatikern sprechen.“ Weil auch noch der Wechsel vom Verbrenner zum Elektroantrieb läuft, wofür es unter anderem Hochvolttechniker braucht, sei der Qualifizierungsbedarf sehr hoch.
Als Vizepräsident der Handwerkskammer zu Köln weiß IG-Metall-Mitglied Hengst aber auch, wie groß die Unterschiede im Handwerk sind. In großen Unternehmen wie der Fleischhauer-Gruppe mit insgesamt 1200 Beschäftigten, die vor allem Fahrzeuge des VW-Konzerns vertreibt, sorgen die Herstellermarken für eine breite Weiterbildung. Es gibt einen Haustarifvertrag, der 36,5 Stunden pro Woche, Urlaubs- und Weihnachtsgeld festschreibt. Weil das Kfz-Handwerk in NRW aber einen landesweiten Abschluss mit der IG Metall ablehnt, arbeiten viele Beschäftigte 40, 42 Stunden oder noch länger, während ihre Qualifizierungsmöglichkeiten bescheiden sind.
Der Bau hängt digital zurück
Digital zweigeteilt präsentiert sich der Bausektor: Während Konzerne längst mit dem Building Information Modeling (BIM) arbeiten, das alle Beteiligten vom Architekten über den Bauleiter bis zu den Handwerkern auf der Baustelle elektronisch vernetzt, sind kleinere Baufirmen oft noch offline unterwegs. Das berichtet Achim Bartels, Stahlbetonbaumeister und Polier bei der Hamburger Traditionsbauunternehmung Theo Urbach mit rund 100 Beschäftigten. „Manche Bauleiter laufen zwar mit dem Laptop herum. Aber die Handwerker auf der Baustelle arbeiten fast nur mit Bleistift und Papierplänen“, sagt der Betriebsratsvorsitzende.
Für Bartels, Mitglied der IG BAU und im Vorstand der Hamburger Handwerkskammer, steht fest: „Man kann vor Erneuerungen nicht weglaufen.“ Klar, man könne Bauhandwerkern einfach ein Tablet in die Hand drücken. Aber die Akzeptanz sei bei vielen, vor allem älteren Kollegen nicht da. „Wenn es das Handwerk nicht schafft, seine Beschäftigten zu schulen, ihnen die Angst vor den Geräten zu nehmen und die Vorteile der Digitalisierung zu vermitteln, wird‘s schwierig.“ Bartels sieht eine weitere Baustelle: „Unser Unternehmen zahlt Tariflöhne, aber es gibt genügend andere, die nur Mindestlohn bieten.“ Nach der Ausbildung wanderten viele ab, weil sie anderswo bessere Bedingungen fänden.
„Mit einer Imagekampagne, die inzwischen über 100 Millionen Euro gekostet hat, versucht das Handwerk seit Jahren, sich als attraktiver Arbeitgeber darzustellen“, sagt Ralf Kutzner, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall für das Handwerk und selbst gelernter Kfz-Mechaniker. Allein: „Die Realität ist in vielen Betrieben leider eine andere.“ Zu den Dauerbrennern gehören eine erschreckende Lohndifferenz zur Gesamtwirtschaft (im Durchschnitt liegen die Löhne 1000 Euro unter vergleichbaren Vergütungen) sowie die hohe durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 40,6 Stunden (ein Fünftel arbeitet 48 Stunden und länger).
Corona wirkt wie ein Turbo
Am Handwerk mit seinen 5,4 Millionen Beschäftigten, von denen gut zwei Millionen im Organisationsbereich der IG Metall arbeiten, zerren viele Kräfte: Der Strukturwandel lässt Handwerkskonzerne entstehen und erhöht die Zahl der oft prekär arbeitenden Soloselbstständigen. Und nun greift auch noch die Digitalisierung, beschleunigt durch den Turbo Corona.
Während etwa die Mechatroniker in der Autowerkstatt immer anspruchsvollere Aufgaben am rollenden Computer lösen, müssen sich die Verkäuferinnen und Verkäufer im Showroom auf „massive Probleme“ gefasst machen, meint IG-Metall-Vorstandsmitglied Kutzner: „Die Hersteller suchen den direkten digitalen Kontakt mit den Kunden, ob beim Vermieten von Autos via App oder beim Aufspielen neuer Software fürs Fahrzeug.“ Die Kunden-Händler-Beziehung sortiere sich neu und in Zukunft wohl oft zulasten der umgangenen Verkäufer.
Studien kommen zu dem Schluss, „dass Angebot und Nachfrage über digitale Plattformen das Handwerk erheblich verändern werden. Auf MyHammer etwa, der größten Vermittlungsplattform für Handwerksdienstleistungen, bewerben sich Tausende von Betrieben um Hundertausende von Aufträgen von Privatkunden im Wert von über einer Milliarde Euro. Wer sich den Portalen verschließt, hat auf Dauer wohl schlechte Karten. „Der Druck kommt auch von den Kunden“, sagt Kutzner. „Sie beherrschen digitale Prozesse und erwarten von ihrem Handwerker dasselbe.“
Die alten Strukturen des Handwerks mit rund 4000 Innungen, denen stellenweise nur noch zehn bis 20 Prozent der Betriebe angehören, schreien nach Modernisierung, aber die Beharrungskräfte sind stark. Das gilt auch und gerade für das komplizierte Tarifsystem, das nur noch ein Drittel der Beschäftigten einbindet. „In Sonntagsreden sprechen Handwerksfunktionäre zwar gerne von Sozialpartnerschaft und einer Stärkung der Tarifbindung“, kritisiert Kutzner, „aber viele Handwerksmeister pflegen ihr Image als Familienbetrieb, der ohne Betriebsrat und Gewerkschaft besser fährt und wo eben der Chef bestimmt, wie viel jeder Beschäftigte verdient und welche Weiterbildungsmaßnahme er bekommt.“
Umso mehr versucht die IG Metall, neuen Schwung in die Debatte zu bringen. Die jüngste Initiative ist ein Diskussionspapier, das einen „neuen Ordnungsrahmen für das Handwerk“ fordert“. Zur überfälligen Transformation gehören aus Sicht der IG Metall viele Bausteine von der Novellierung der Handwerksordnung und des Berufsbildungsgesetzes bis zur stärkeren Tarifbindung und zur Etablierung einer Mitbestimmungskultur, in der Betriebsräte beim Thema Weiterbildung und Qualifizierung automatisch mitreden. „Je mehr die Digitalisierung das Handwerk durchrüttelt, umso mehr müssen wir sicherstellen, dass am Ende des Prozesses mehr Rechte und Perspektiven für die Beschäftigten im Handwerk 4.0 stehen“, meint Ralf Kutzner. „Diesen Weg wollen und müssen wir gehen – am liebsten gemeinsam mit den Sozialpartnern.“