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Magazin Mitbestimmung

: Netzwerk für abweichende Meinungen

Ausgabe 07+08/2011

20 JAHRE FORUM SOZIALE TECHNIKGESTALTUNG Das vom Querdenker Welf Schröter beim DGB in Baden-Württemberg angesiedelte Ehrenamtlichen-Netzwerk sieht sich als Moderator von Modernisierungsprozessen. Von Stefan Scheytt

STEFAN SCHEYTT ist Journalist in Rottenburg am Neckar/Foto: Klaus Franke/Composing

Der Mann kann aus dem Stegreif zwei Stunden über Cloud-Computing referieren oder über elektronische Signaturen im Internet, er saß in Beiräten und Enquete-Kommissionen von Landtagen und Bundesministerien zu Technologiethemen von E-Commerce bis E-Government. Es gibt wenige Menschen in Deutschland, die so viel wissen über IT und die Informationsgesellschaft – aber Welf Schröter telefoniert mit einem Uralt-Handy, für das ihn mancher IT-Freak auslachen würde: „Ich will mit dem Ding doch nur telefonieren und nicht kochen oder sonst was“, sagt er kühl.

Welf Schröter, 56, ist das, was man einen Unangepassten, einen Querdenker nennt, was er schon äußerlich zelebriert: Man sieht den kleinen Mann mit dem Pferdeschwanz fast nie anders als in schwarzer Hose und schwarzem T-Shirt. Auch als er 1991 das Forum Soziale Technikgestaltung (FST) beim DGB in Baden-Württemberg anschiebt, ist das gegen den Strich gebürstet: Denn „der DGB hatte seine Technologieabteilung gerade abgeschafft“, erinnert sich Schröter lächelnd. 20 Jahre später sagt Baden-Württembergs DGB-Vorsitzender Nikolaus Landgraf bei der FST-Geburtstagsfeier Ende Mai in Stuttgart stolz: „Kein anderes Bundesland verfügt über ein derartiges Netz von Wissen, Kompetenz und Kommunikationskultur.“ Zwar ist das Forum „beim“ DGB angesiedelt, wo Schröter auch ein Büro hat und manche Fahrtkosten abrechnen kann. Doch wie alle rund 1800 Mitglieder des Netzwerks ist auch er ehrenamtlich fürs Forum tätig, im Hauptberuf führt er das kleine Verlags- und Medienberatungsunternehmen Talheimer bei Tübingen. Diese Unabhängigkeit ist durchaus im Sinne Schröters: Denn „Netzwerke funktionieren nicht ‚top down‘. Sie sind offen, verlangen keinen Beitritt, haben keinen Vorstand und Kassierer. Sie leben vom Recht auf abweichende Meinung ohne Rücksicht auf die aktuelle Beschluss­lage.“

SCIENCE-FICTION oder HEINZELMÄNNCHEN?_ Seit 20 Jahren vernetzt Welf Schröter „abweichende Meinungen“. Etwa drei Viertel der Netzwerker sind gewerkschaftsnah, Betriebsräte, Vertrauensleute. Aber zum restlichen Viertel gehören auch Menschen, die mit Gewerkschaften wenig oder nichts zu tun haben: Abteilungsleiter in Forschungseinrichtungen, Geschäftsführer, Ministerial­beamte, Wirtschaftsförderer, Uni-Mitarbeiter, Bürgermeister. „Das Forum verfolgt einen strikt kooperativen Ansatz, wir fragen nicht nach Partei- oder Gesangbuch“, postuliert Schröter. „Mir geht es darum, inhaltliche Beziehungen herzustellen nach dem Motto: Wir haben ein gemeinsames Problem; wer hat die besten Ideen für die Lösung?“

Die Arbeit des Forums verdichtet Schröter zu dem Satz: „Wir schauen uns die neuen Technologien an und überlegen gemeinsam, wie man sie gestalten muss, damit durch sie gute Jobs entstehen.“ Aktuell unterstützt das Forum zum Beispiel Handwerksbetriebe und deren Kammern, um bei elektronischen Auftragsausschreibungen mithalten zu können. „Das ist mehr als auf der Tastatur rumklimpern, da wird Wertschöpfung ins Netz geschoben. Die Wettbewerbssituation verändert sich ganz stark, vor allem für kleine und mittlere Betriebe“, sagt Schröter. Bei einem anderen Projekt namens MAP („Multimedia-Arbeitsplatz der Zukunft“) ging es um den Einsatz von sogenannten Software-Agenten, die für ihren Anwender einen vollständigen Auftrag erfüllen, zum Beispiel von der Suche nach einem Produkt bis zur elektronischen Unterzeichnung des Kaufvertrags und zur automatischen Zahlungsanweisung. „Das Thema hat eine unglaubliche Wucht und ist wie viele IT-Anwendungen sehr ambivalent: Software-Agenten können Entlastung für die Beschäftigten bedeuten, aber auch Verdichtung“, sagt Schröter. Entsprechend gemischt waren die Reaktionen von Gewerkschaftskollegen: „Die einen sahen darin nur Quatsch und Science-Fiction, ein Betriebsrat aber sagte begeistert: ‚Wir sind so wenig Leute, da können wir ein paar Heinzelmännchen gut gebrauchen.‘“

Ähnliches erlebt Schröter beim gerade ausgezeichneten Projekt BEAM 21, einem von der EU geförderten, energiepolitischen Bildungsangebot für Gemeinderäte und Mitarbeiter von Kommunalverwaltungen in neun Ländern, an dem das Forum mit vielen anderen Partnern beteiligt ist. „Es geht darum, Kommunen zu qualifizieren, vor dem Hintergrund des Klimawandels ihren CO2-Ausstoß zu verringern“, erklärt Schröter. „Das finden zunächst alle ganz toll, weil es modern ist und eigentlich jeder die Energiewende begrüßt, zumal wenn sie neue, qualifizierte Jobs bringt. Aber wenn man tiefer ins Thema einsteigt, erkennt man, dass damit zwangsläufig auch eine massive Beschleunigung beim Einsatz von Informationstechnologie verbunden ist – also genau das, was viele Arbeitnehmervertreter als neue Rationalisierung fürchten.“

Den Vorwurf, im Forum rede man über IT-Innovationen, forciere damit aber letztlich nur Arbeitsverdichtung und Rationalisierung, hört Welf Schröter seit der Gründung des Netzwerks vor 20 Jahren. Schlimmstenfalls wird er gefragt, ob er jetzt bei IBM oder Alcatel arbeite. Doch Schröter ist klar verortet, zum Beispiel als GEW-Mitglied seit Studientagen oder als Vorstandsmitglied der Ernst-Bloch-Gesellschaft. „Informationstechnologie ist eine offene Technologie, über Interessengegensätze muss man offen reden“, sagt Schröter. Aber dafür müsse man die Technik erst mal verstehen. „Man darf den Antagonismus nicht vergessen, aber sehr oft geht es darum, dass beide Seiten erst mal Kompetenzen aufbauen müssen, bevor sie sich über Telearbeit, das ‚virtuelle Rathaus‘ oder sonst ein IT-Thema streiten.“

DAS VIRTUELLE ALS SPRENGSATZ_ Selbstredend scheut Welf Schröter auch nicht den Dissens mit den Gewerkschaften, von denen er zum Beispiel sagt, dass er „das innere Beharrungsvermögen mancher Organisationen unterschätzt“ habe. Etwa wenn es darum geht, zu realisieren, dass „normale“, unbefristete Arbeitsverhältnisse heute wohl nur noch 60 Prozent ausmachen. „Wenn man die anderen 40 Prozent, darunter viele Selbstständige, für sich interessieren will, muss man ihre Kultur verstehen, muss wissen, wie sie neue Technologien nutzen, wie sie ihre Arbeitszeit organisieren“, sagt Schröter, der dabei auch über sich selbst spricht. „Wenn man denen sagt: ‚Die Norm ist der Facharbeiter bei Daimler‘, dann schalten die ab. Die Norm-Identität der industriellen Gesellschaft bröselt nach allen Seiten weg. Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass der Betrieb nicht mehr der dominierende Ort für Arbeit ist. Es werden ganz neue Wertschöpfungszusammenhänge entstehen, die weitgehend über das Netz ablaufen. Das zu Ende gedacht ist ein Sprengsatz für Gewerkschaften.“ Gut, wenn es ein Forum gibt, um dar­über zu reden.

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