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Deutscher Bundestag Magazin Mitbestimmung

Betriebsratsarbeit: Viel zu tun

Ausgabe 04/2021

Der Klimawandel, die Digitalisierung und die Bewältigung der Pandemiefolgen sind nur drei der großen Aufgaben, vor denen die nächste Bundesregierung steht. Betriebsräte und Gewerkschafter berichten, was für sie auf der Agenda ganz oben steht. Protokolle von Annette Jensen, Fabienne Melzer, Andreas Schulte und Andreas Wenderoth

Bei den deutschen Klimazielen sieht Thomas Ahme, Betriebsratsvorsitzender bei Siemens Gamesa in Hamburg, vor allem eins: eine Lücke. Wenn der Ausbau der erneuerbaren Energien im derzeitigen Tempo weitergeht, könnten 2050 rund 64 Gigawatt aus Sonne und Wind fehlen, um fossile Brennstoffe zu ersetzen. Die erneuerbaren Energien sind ein wichtiger Baustein der Klimapolitik und sollen in Deutschland 2030 rund 65 Prozent des Stroms liefern. Experten schätzen, dass dazu etwa 2000 neue Windräder jährlich gebaut werden müssten. Tatsächlich waren es 2020 aber nur 770 Anlagen.

Für den schleppenden Ausbau nennt Ahme mehrere Gründe: „Mit neuen Ausschreibungspflichten hat die Politik den Wettbewerb verschärft und mit größeren Abstandsregeln zur Wohnbebauung Zulassungsverfahren erschwert.“ In der Folge seien in der Branche seit 2015 rund 50 000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Siemens Gamesa traf der politische Umschwung nicht ganz so hart. Für den Hersteller von Offshore-Turbinen sei zwar der deutsche Markt zusammengebrochen, sagt Ahme, aber das Unternehmen ist international aufgestellt.

Dabei wird der Bedarf an Wind- und Sonnenenergie in Deutschland weiter wachsen. Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr ihre nationale Wasserstoffstrategie gestartet. Sie soll ein Kernelement der Energiewende werden und auch die industrielle Produktion klimaneutral machen. Siemens Gamesa arbeitet mit Siemens Energy an neuen Techniken für Wasserstoff. „Auf einem Versuchsfeld vor Helgoland soll Wasserstoff direkt an der Turbine erzeugt werden“, erzählt Ahme. In den Braunkohlerevieren überlege man, in Kohlekraftwerken mit Windenergie Wasserstoff zu erzeugen. Das Entwicklungstempo erinnert Ahme an den Wettlauf bei Computern: „Es herrscht ein enormer Kostendruck. Die Anlagen müssen immer leistungsstärker werden. Zurzeit stellen wir in Cuxhaven die Produktion von acht auf zehn Megawatt um. Einen Prototyp der nächsten Generation mit 14 Megawatt gibt es schon.“ Für diese kurzen Entwicklungszyklen brauchten alle Hersteller Planungssicherheit, um die Energiewende umzusetzen.

  • Thomas Ahme
    Betriebsrat Thomas Ahme und das neue Steinzeitalter: Strom aus Wind soll hier in Vulkangestein gespeichert werden.

„Wir wollen alle das Klima retten“

Ein anderes Hindernis sehen die Windanlagenbauer in langen Genehmigungsverfahren. Das Wirtschaftsministerium verweist auf Klagen gegen Bauvorhaben von Umwelt- und Tierschützern. In der Haut eines Politikers möchte Ahme auch nicht stecken. „Andererseits“, sagt er, „wir wollen alle das Klima retten.“

Einen neuen Schub könnte der Windenergie der Green Deal der Europäischen Union geben. Die Offshore-Windenergiekapazität soll in der EU bis 2030 auf 60 Gigawatt und bis 2050 auf 300 Gigawatt steigen. Aus Sicht der IG Metall muss die nächste Bundesregierung eine breitere Akzeptanz für erneuerbare Energien schaffen und die Genehmigungsverfahren beschleunigen. Zum einen, um die Klimaziele zu erreichen, zum anderen, um Wertschöpfung und Arbeitsplätze auch zukünftig in Deutschland zu halten.

Betriebsrat Ahme sieht ebenfalls diese beiden Ziele. Bei seinem Arbeitgeber ist es für ihn aber nicht immer einfach, die Interessen seiner Kolleginnen und Kollegen zu vertreten. Denn Siemens Gamesa ist an der spanischen Börse gelistet, und der Konzern unterliegt nicht der deutschen Mitbestimmung. „Wir werden oft zu spät informiert oder an den Prozessen nicht beteiligt. Das ist ein ständiger Kampf“, sagt Ahme und wünscht sich, dass die Mitbestimmung über Deutschland hinweg gilt und von jedem Unternehmen eingehalten wird, egal wo der Firmensitz ist.

Im Sanierungsstau

Ein riesiger Baukran steht vor der Aula. Durch das Dach hat es zehn Jahre durchgeregnet, bevor die Arbeiten endlich genehmigt wurden. Nun ist es vielleicht bald wieder dicht, aber in den Werkstätten im Keller wuchert weiterhin der Schimmel. Seit einem Wasserrohrbruch vor zweieinhalb Jahren kann das Pflichtfach Wirtschaft, Arbeit und Technik im Untergeschoss nur noch improvisiert unterrichtet werden.

Die Fritz-Karsen-Gemeinschaftsschule in Berlin-Britz ist weder Vorzeige- noch Brennpunktschule. Dennoch zeigt sie auf dramatische Weise, was in Deutschland falsch läuft, wenn politische Fehlplanung und Bürokratie Lehrern und Schülern Leben und Lernen erschweren.

Viele Außenwände sind großflächig mit Schimmel befallen, im Inneren hängt ein modriger Geruch. Von den Fensterrahmen blättert die Farbe. Weil viele Fenster nicht richtig schlossen, wurden sie kurzerhand zugenagelt – was in Coronazeiten natürlich kontraproduktiv ist. Das lang gestreckte Gebäude der Klassen 4 bis 6 hätte man vor zehn Jahren vielleicht noch sanieren können. Heute hilft nur noch ein Neubau. Der Sanierungsstau für die insgesamt acht Schulgebäude beläuft sich mittlerweile auf 18 Millionen Euro. Kein Einzelfall. Bundesweit sind es satte 44 Milliarden.

  • Ryan Plocher
    Lehrer Ryan Plocher vor Fenstern, die sich nicht mehr öffnen lassen

Schulen besser ausstatten

Es muss mehr und besser ausgestattete Schulen geben, fordert die GEW. Und: Das sogenannte Kooperationsverbot muss weg, jene grundgesetzliche Regelung, die verbietet, dass der Bund Bildungsmaßnahmen (an den Ländern vorbei) finanziert. Mit dem Ergebnis, dass Schulen in Deutschland heute generell unterfinanziert sind. Schulleiter Robert Giese: „Andere Länder, die in PISA weiter vorn sind, geben, gemessen am Bruttosozialprodukt, fast das Doppelte aus!“

Vor zwei Wochen haben die Lehrer ihre Dienst-Tablets bekommen, die allerdings nur eingeschränkt nutzbar sind: Bislang laufen weder die Stundenplansoftware noch der Messenger-Dienst. Aufgrund des Lehrermangels sind viele Kollegen permanent überarbeitet. Die derzeitige Unterrichtsstundenverpflichtung sei deutlich zu hoch, klagt Klassenlehrer Ryan Plocher von der GEW Berlin: „Es ist einfach nicht möglich, 28 Stunden in der Woche in der Grundschule zu unterrichten.“ Um den Burn-out zu vermeiden, gingen viele Kollegen in Teilzeit. Die Forderung der Berliner GEW: fünf Stunden weniger pro Woche.

Dazu müssten freilich deutlich mehr Lehrer eingestellt und der Beruf wieder attraktiver werden. Große Aufgaben für die Politik, an denen sie bisher regelmäßig scheiterte.

Wo bleiben die Taten?

Ganz offiziell meint es die Politik nur gut mit der Bahn: Verkehrsminister Scheuer fordert eine Bahnreform 3.0, die SPD verlangt eine „Mobilitätsgarantie“ für Bürger, und die Linke will die Ticketpreise halbieren. „Mehr Verkehr auf die Schiene“, dieses Parteiencredo deckt sich mit den Zielen der EVG. Denn: „Die Schiene muss Verkehrsträger Nummer eins werden“, sagt der stellvertretende Vorsitzende Martin Burkert.

So könnten Eisenbahner der Wahl eigentlich gelassen entgegensehen. Doch ihr Vertrauen in die Politik ist geschwunden. Immer wieder sind Versprechungen nur wenige Taten gefolgt. „Die Schiene ist von der Politik jahrelang vernachlässigt worden. Allein seit 2019 besteht ein Investitionsstau von 50 Milliarden Euro“, sagt Fabian Rettenweber. Der 28-Jährige ist Referent für Infrastrukturentwicklung bei der Deutschen Bahn in München und Ersatzmitglied im Betriebsrat.

Die Gewerkschaft fordert daher eine Verdopplung der Mittel für den Neu- und Ausbau der Bahninfrastruktur auf vier Milliarden Euro pro Jahr. Von dem Geld soll unter anderem das Streckennetz elektrifiziert werden – von derzeit gut 60 Prozent auf 75 Prozent im Jahr 2030. Auch für die weitere Digitalisierung sind Mittel vorgesehen, so zum Beispiel für ETCS. Das in Europa einheitliche Computersystem, eine Art Autopilot für Züge, sorgt für einen reibungsloseren grenzüberschreitenden Verkehr.

  • Florian Rettenweber
    Mit mehr Geld allein kommt die Bahn für Florian Rettenweber nicht voran.

Es fehlt Personal

Die EVG hat nun an viele Parteien acht sogenannte Wahlprüfsteine verschickt. Darin klopft die Gewerkschaft ab, welche Politik die jeweilige Partei nach der Bundestagswahl verfolgen will. Noch stehen die Antworten aus.

Wie viel Geld eine neue Regierung der Bahn zur Verfügung stellen würde, ist also unklar. Doch Investitionshilfen allein würden die Bahn ohnehin nicht entscheidend nach vorne bringen. Denn als Folge einer Politik, die über Jahrzehnte die Straße als Verkehrsträger bevorzugte, fehlen der Bahn für mehr Wachstum in fast allen Bereichen Arbeitskräfte. „Mit dem derzeitigen Personal können wir zusätzliche Gelder nicht verplanen“, sagt Rettenweber. Er fordert: „Unsere Arbeitsplätze müssen attraktiver werden.“ Aus seiner Sicht drängt ein Ungleichgewicht bei den Löhnen den Staatsbetrieb auf dem freien Arbeitsmarkt ins Abseits. „Ingenieure oder auch Mechatroniker verdienen in anderen Branchen besser.“

Dies ist nicht der einzige Nachteil. Weil die Bahn schon jetzt unter fehlendem Personal leidet, sind die Mitarbeiter überlastet. Dienstpläne erweisen sich als wenig verlässlich. Um Kollegen zu entlasten, müsse die Zahl der Neueinstellungen künftig steigen, sagt Jens Schwarz, Vorsitzender des Konzernbetriebsrats. 18 000 neue Beschäftigte pro Jahr hat die Bahn der EVG zugesagt. Mindestens 20 000 müssten es laut Schwarz sein.

Rettenweber indes treibt ein weiterer Missstand um: Airlines zahlen für ihre Flugzeuge im internationalen Verkehr nicht einen Cent Mehrwertsteuer. Für die umweltfreundlichere Bahn könnte er sich eine Senkung der Mehrwertsteuer vorstellen, um dadurch mehr Güter auf die Schiene zu verlagern. „Wir brauchen im Kampf gegen den Klimawandel eine steuerliche Bevorzugung der Bahn gegenüber der Luftfahrt“, sagt der Bahn-Betriebsrat. „Dies wäre für eine neue Regierung leicht umzusetzen.“

Patient vor Profit

Corona hat es für alle deutlich gemacht: Im Gesundheitssystem muss sich Grundsätzliches ändern. Personalmangel und Stress prägen den Alltag. Grund ist vor allem die totale Ökonomisierung der Betriebe. „Dabei haben Krankenhäuser doch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, sagt Regina Dickey, Betriebsrätin der Uniklinik Gießen und Mitglied im Aufsichtsrat des Rhön Klinikums.

Krankenhäuser sind heute vor allem auf Gewinn ausgerichtete Unternehmen. Deswegen tummeln sich hier viele Privatinvestoren. Die Universitätskliniken in Gießen und Marburg wurden vor 15 Jahren verkauft. „Bevor wir privatisiert wurden, war der Ärztliche Direktor der oberste Chef, danach übernahmen die Kaufleute das Ruder“, erzählt Dickey, die als Sekretärin in der Rechtsmedizin arbeitet. Viele gute Kräfte hätten damals das Weite gesucht. Immerhin konnten sie zunächst, einen Kündigungsschutz durchsetzen und verhindern, dass weitere Betriebsteile ausgegliedert wurden. Doch diese Sicherheit läuft im Dezember 2022 aus, und im vergangenen Jahr hat der Klinikbetreiber Asklepios das gesamte Rhön-Klinikum geschluckt.

Dickey und ihre Kolleginnen und Kollegen befürchten, dass der Druck aus der Wirtschaftsabteilung steigt und die Tarifverträge in den Tochterunternehmen bald Geschichte sein werden, denn Asklepios ist bekannt für Outsourcing und Tarifflucht. Deshalb hat Verdi zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Fraktion der Linken im hessischen Landtag ein Gutachten in Auftrag gegeben, das eine Rückführung in staatlichen Besitz prüft. Joachim Wieland, Juraprofessor an der Universität Speyer, kommt darin zu dem Schluss, dass weder Bundesgesetze noch die Schuldenbremse dem entgegenstehen.

  • Regina Dickey
    Regina Dickey fordert, Krankenhäuser auskömmlich und nach dem Bedarf der Patienten zu finanzieren.

Ware Gesundheitsversorgung

Doch nicht allein Privatisierungen haben Krankenhausleistungen zunehmend zur Ware gemacht. Seit 2004 gelten Fallpauschalen. Im Fokus steht nicht der Bedarf der Kranken, sondern die Möglichkeit, sie mit wenig Aufwand schnellstmöglich wieder loszuwerden. In der Branche führte das zu einem massiven Personalabbau sowie zur Auslagerung von Servicebereichen.

Zwar wurde die Finanzierung der Pflege am Bett 2019 neu geregelt – ein 21-jähriger Krankenpfleger hatte Kanzlerin Angela Merkel in einer Talkshow kurz vor der letzten Bundestagswahl mit den unwürdigen Bedingungen für Patienten und Personal konfrontiert. „Das war zwar gut gemeint von der Bundesregierung, aber nicht gut gemacht“, lautet Dickeys Urteil über das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz. Im Ergebnis hat es die Belegschaften weiter gespalten: Während die Krankenkassen die Arbeit der Pflegekräfte auf den Stationen besser bezahlen müssen, nahm der Druck auf die Kolleginnen und Kollegen in allen anderen Bereichen weiter zu. Dickey verlangt, dass der Staat die Gewinnabführung an die Konzernmütter, die heute oft im zweistelligen Prozentbereich liegt, deckelt.

Genau wie Verdi fordert die Betriebsrätin eine grundlegende Reform der Krankenhaus­finan­zierung. Sie sollte auskömmlich sein und den Bedarf der Patienten ins Zentrum stellen. Kliniken sollten außerdem wieder als Einheiten gesehen werden – mit einem Betriebsrat für alle Beschäftigten und einer gemeinsamen Tarifstruktur. „Das Ganze ist ja im Prinzip wie ein Organismus.“ Nur wenn alle Hand in Hand arbeiten, sei eine gute Versorgung der hilfsbedürftigen Menschen im Krankenhaus möglich.

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