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Die Juristin Antonia Seeland arbeitet im Referat Sozialrecht und Europäisches Arbeits- recht am Hugo Sinzheimer Institut. Magazin Mitbestimmung

Zur Sache: Menschen mit Behinderung: Rechte müssen besser ineinandergreifen

Ausgabe 05/2022

Antonia Seeland über den schwierigen Weg zur gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung.

Der Staat muss Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben ohne Diskriminierung ermöglichen. Dazu hat er sich mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und dem Artikel 3 Grundgesetz verpflichtet. Um diesem Auftrag nachzukommen, wurde unter anderem das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (BGG) im Jahr 2002 verabschiedet und 2016 novelliert. Kernanliegen des BGG ist es, Barrierefreiheit herzustellen und Menschen mit Behinderung vor Benachteiligung zu schützen. Auf Bundesebene sind die Träger der öffentlichen Gewalt wie Bundesministerien, Statistisches Bundesamt, Bundesagentur für Arbeit oder Barmer GEK der Einhaltung des BGG verpflichtet.

Im täglichen Leben stoßen viele Menschen aber immer wieder auf Hindernisse, die eine gleichberechtigte Teilhabe verhindern. Diese Defizite zeigten sich 2019 auch im zweiten und dritten Staatenbericht für Deutschland zur Umsetzung der UN-BRK. Die Evaluation des novellierten BGG, die das Hugo Sinzheimer Institut (HSI) in Kooperation mit der Universität Kassel, dem ISG Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik und dem SOKO Institut für Sozialforschung und Kommunikation erstellt hat, bestätigt die Defizite. Es wurde deutlich, dass es neben den Problemen einzelner Regelungen auf rechtlicher Ebene auch strukturelle Defizite gibt.

Als großes Problem hat sich das Zusammenspiel von Bundes- und Landesrecht erwiesen. Die Umsetzung der Vorgaben zur gleichberechtigten Teilhabe erfolgt nicht allein auf Bundes-, sondern auch auf Landesebene; es gibt 16 Landes-BGG! Das führt insgesamt zu wenig Transparenz und verhindert, dass Betroffene ihre Rechte wahrnehmen. Entsprechend spielt das BGG in Gerichtsverfahren bisher kaum eine Rolle.

Will man die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen voranbringen, müssen weitere Gesetze besser ineinandergreifen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) hat große Relevanz für Betroffene: Sie erleben laut den Befragungen besonders häufig Diskriminierung im Privatbereich. Hier braucht es ein besseres Zusammenspiel des BGG mit dem Zivilrecht.

Das im Antidiskriminierungsrecht wichtige Verbandsklagerecht (§ 15 BGG) wird nahezu nicht genutzt. Laut Umfrage fehlen den Verbänden nicht nur Ressourcen. Klagen würden derzeit nur begrenzt wirken, da Rechtsverstöße zwar festgestellt, aber nicht beseitigt werden können. Ein eigenes Klagerecht der Schwerbehindertenvertretungen (SBV) könnte hier effektiver wirken, so ein Ergebnis der Evaluation. SBVen kennen das novellierte BGG am besten.

Mit der Neudefinition des Begriffs „Behinderung“ (§ 3 BGG) macht die Novellierung deutlich, dass eine Behinderung erst in Wechselwirkung mit Barrieren entsteht. Die gesetzliche Klarstellung schärfte das Bewusstsein für die Relevanz von Barrieren. Allerdings werden geistige und psychische Beeinträchtigungen weiter zu wenig berücksichtigt. Laut Umfrage kennen nur neun Prozent der Behördenbeschäftigten das Gebot zur Übersetzung in Leichte Sprache nach § 11 BGG.

Allgemein wurde deutlich, dass sich die Relevanz des BGG in der Rechtswirklichkeit nicht widerspiegelt, das Gesetz zu unbekannt ist und großer Sensibilisierungs- und Schulungsbedarf zu allen Inhalten besteht. Nicht nur einzelne Regelungen des BGG müssen reformiert werden, auch müssen die einzelnen Rechtsgebiete – BGG, Zivil- und Sozialrecht – besser aufeinander abgestimmt werden. Die Evaluation zeigt, wie wichtig die Arbeit der Schwerbehindertenvertretungen, die ab 1. Oktober zur Wahl stehen, für die Gleichstellung im Betrieb ist.

Die Juristin Antonia Seeland arbeitet im Referat Sozialrecht und Europäisches Arbeits- recht am Hugo Sinzheimer Institut.

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