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Delegierte beim Verdi-Kongress in Berlin Magazin Mitbestimmung

Gewerkschaften: Lust auf Erfolg

Ausgabe 05/2023

Verdi feiert einen Rekordzustrom neuer Mitglieder. Beim Bundeskongress in Berlin war die Regierung mit Kanzler und Vizekanzler vertreten. Von Jeannette Goddar

Tausend Delegierte, noch einmal so viele Besucher, 900 Anträge, sechs Tage unter einem Dach – das war der Verdi-Bundeskongress,  der im September in Berlin stattfand, in nüchternem Zahlenwerk. Die beeindruckendste Zahl jedoch las der alte und neue Vorsitzende Frank Werneke vom Papier ab: 142 549 neue Mitglieder sind in diesem Jahr bislang in die Dienstleistungsgewerkschaft eingetreten – ein Rekord seit der Gründung von Verdi im Jahr 2001. Weil Werneke am Vortag zudem mit 92,5 Prozent Zustimmung im Amt bestätigt worden war, hatte der Bundesvorsitzende mächtig Rückenwind, als er sich mit einer Grundsatzrede an das Plenum wandte. „Wir haben viel vor – und viel Lust, erfolgreich zu sein!“, rief Werneke. Er freue sich auf „viele knackige Tarifrunden“ und stehe „selbstbewusst für Umverteilung“.

Den Ruf „Mit uns ist zu rechnen“ vernahm auch die Bundespolitik, die in beachtlicher Zahl ins Tagungshotel gekommen war. Arbeitsminister Hubertus Heil gestand mit Blick auf die Eintrittswelle, er sei „ein bisschen neidisch“; Doppelmitgliedschaften in Verdi und SPD seien „übrigens möglich“. Politisch wichtiger war, dass er mehrere Gesetzesvorstöße vorstellte: Ein Tariftreue- und -stärkungsgesetz, das sowohl öffentliche Aufträge an Tarifbindung koppelt als auch das von den Gewerkschaften und der Hans-Böckler-Stiftung hartnäckig geforderte digitale Zugangsrecht enthalten soll, werde nun kommen.Außerdem: „Union Busting“ soll Offizialdelikt werden. Es dürfe nicht von einer Anzeige abhängen, wenn Gewerkschaftsarbeit sabotiert wird: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Länder dafür Schwerpunktstaatsanwaltschaften einsetzen“, forderte Heil unter großem Applaus.

Der Bundeskanzler führte sich zum Auftakt  gleich als Kollege ein: „Als Gewerkschafter beklage ich, dass die Tarifbindung zurückgegangen ist. Als Bundeskanzler setze ich mich für mehr davon ein“, so Olaf Scholz. Dann wechselte er zu einem Thema, das sich wie ein roter Faden durch die sechs Tage ziehen sollte: der Zustand der Demokratie. Der Beitrag von Gewerkschaften mit ihrer „klaren Haltung gegen rechtspopulistische Strömungen“ sei „nicht hoch genug zu schätzen“, lobte Scholz und verwies auf das Kongressmotto „Morgen braucht uns“: „Sich für morgen einsetzen heißt, denen entgegenzutreten, die nicht für die Zukunft stehen, sondern für Rückschritt.“

Sein Vizekanzler stieß zwei Tage später in das gleiche Horn. Robert Habeck attestierte „schwierige, politisch aufwühlende Zeiten“ und appellierte an die Teilnehmer: „Sie können eine Antwort auf Vereinzelung, Rückzug und Populismus geben. Ihre Bedeutung, im Sinne der englischen ‚union‘, Vereinigung, wird in meinen Augen zu wenig gesehen.“ Habeck vergaß nicht, zu erwähnen, dass er als erster Bundeswirtschaftsminister überhaupt auf einem Verdi-Bundeskongress spricht: „Aber ich bin ja auch der Erste, der für einen Mindestlohn ist.“

Der allerdings wurde jüngst von der Mindestlohnkommission gegen die Stimmen der Gewerkschaften auf nur 12,41 Euro statt auf mindestens 13,50 Euro erhöht, was vor Ort immer wieder lautstark kritisiert wurde. Beispielsweise von der DGB-Vorsitzenden Yasmin Fahimi, die von einer „schallenden Ohrfeige“ für die Beschäftigten sprach.

Die Forderungen an die Politik, die Frank Werneke in seiner Rede ansprach, reichten ohnehin viel weiter: Es brauche ein Sondervermögen für Bildung, Wohnen, Gesundheit und Verkehr, ein sozial gerechtes Steuerrecht, eine Rentenversicherungsreform. „Und es braucht mehr gute Arbeit, mehr durch Tarifverträge geschützte und mitbestimmte Arbeitsplätze statt Ausbeutung und verstrahlte Rechtsextremisten und Reaktionäre an jeder Ecke“, so Werneke.

Die 1,9 Millionen Mitglieder starke Gewerkschaft richtete den Blick auch nach innen. Auch Verdi müsse sich wandeln, konstatierte der Vorsitzende, hin zu „mehr Aktion, weniger Stellvertreterpolitik“. Bei der Mitgliederwerbung sollten drei Gruppen im Fokus stehen: Jugendliche, Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte. „Wenn Deutschland ein Einwanderungsland ist“, so Frank Werneke, „müssen wir eine Einwanderungsgewerkschaft werden.“

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