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Magazin Mitbestimmung

Zur Sache: Lehren aus zwei Weltkriegen

Ausgabe 11/2014

„Die deutschen Gewerkschaften als starke Stütze des europäischen Gedankens ziehen die richtige Lehre aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts“, sagt Stefan Berger, Historiker und Direktor des Instituts für Soziale Bewegungen an der Ruhr-Uni Bochum. 

 100 Jahre sind es her, seit in Europa „die Lichter ausgingen“, wie das Lord Grey, der britische Außenminister, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs formulierte. Und er ging davon aus, dass sie wohl zu seinen Lebzeiten nicht mehr angehen würden. In der Tat wurde die Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielfach als Geschichte eines „dunklen Kontinents“ erzählt. Es war die Geschichte einer zerstörerischen Moderne, wie sie grausamer kaum sein könnte. Zu ihr gehören die Gräuel der Weltkriege ebenso wie Genozide, besonders die systematische Ermordung der europäischen Juden, ethnische Säuberungen, Seuchen und Hungerkatastrophen. 

Die Erinnerung an die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hatte in Deutschland die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg überdeckt. Der musste erst wiederentdeckt werden. Dabei standen die Bücher von Christopher Clark und Herfried Münkler im Vordergrund, beides erzählerische Meisterwerke. Sie nähern sich dem Ersten Weltkrieg vor allem aus dem Blickwinkel der Diplomatiegeschichte und der Geschichte der „großen Männer“ – mit einem Geschichtsbild, das, karikaturhaft überzeichnet, davon ausgeht, dass Krieg droht, wenn Reichskanzler Bethmann Hollweg eine Depression bekommt. Als Sozial- und Kulturhistoriker kann man das nur bedauern. 

Welche Lehren wurden aus dem Krieg gezogen? Sowohl Clark als auch Münkler argumentieren nicht nur gegen die angeblich dominante These von der Alleinschuld Deutschlands am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Mehr noch bekommt man den Eindruck, dass die Serben, die Österreicher und die Russen allesamt „schuldiger“ am Kriegsausbruch waren als die Deutschen.

Daraus zogen wiederum andere Historiker den Schluss: War Deutschland nicht schuldig am Ersten Weltkrieg, so müsse man nun auch den Vertrag von Versailles und seine Folgen – einschließlich des Nationalsozialismus – einer Neubewertung unterziehen, und das Projekt der Europäischen Union werde damit für die Deutschen nicht mehr zur notwendigen Schlussfolgerung aus der deutschen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 

Man sollte solchen revisionistischen Thesen mit Vorsicht begegnen. Dass aus dieser steilen These kein neuer Historikerstreit hervorgegangen ist, verwundert. Meine Antwort darauf ist ein dezidiertes Nein. Die deutschen Eliten hätten es im Sommer 1914 in der Hand gehabt, durch eine umsichtigere Politik den Krieg zu verhindern. Dass sie es nicht taten, lastet ihnen eine erhebliche Schuld am Kriegsausbruch an, auch wenn es in anderen Staaten auch Verantwortliche gegeben hat, die deeskalierend hätten wirken können. 

Der Erste Weltkrieg ist und bleibt die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, sie begründet eine Spirale der Gewalt, die im Genozid an den Armeniern, dem Zweiten Weltkrieg, in ethnischen Säuberungen und in der Shoah gipfelt. Die oftmals über Jahrhunderte bestehende Feindschaft der europäischen Nationalstaaten war ein wichtiger Faktor, der Europa in der ersten Jahrhunderthälfte zum dunklen Kontinent werden ließ. Darüber hinaus waren es auch die tiefen sozialen Verwerfungen, die antidemokratische Bewegungen beförderten, den Bolschewismus wie den Faschismus stark werden ließen und damit der parlamentarischen Demokratie in der Zwischenkriegszeit ihre stärkste Krise bescherten. 

Auch 2014 ist richtig, was nach 1945 richtig war: Aus dieser europäischen Geschichte den Schluss zu ziehen, ein gemeinsames, friedliches und soziales Europa bauen, das tief sitzende nationale Feindschaften überwindet und dazu beiträgt, dass sich die europäischen Gesellschaften einander annähern – mit dem Ziel, ihre Gesellschaften sozial zu gestalten und das Trennende zu überwinden. 

Selbst wenn das europäische Projekt nach wie vor stark nationalstaatlich geprägt ist, auch wenn es an Konstruktionsmängeln leidet – die deutschen Gewerkschaften als eine starke Stütze des europäischen Gedankens ziehen für meine Begriffe damit die richtige Lehre aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

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„Ein soziales Europa ist das Ziel“ heißt die Konferenz am 20./21. November 2014 in Düsseldorf, die die Hans-Böckler-Stiftung mit dem DGB und dem Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum veranstaltet. 

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