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Magazin Mitbestimmung

: Kontrollierte Flexibilität

Ausgabe 03/2005

In mehreren Entscheidungen hat das Bundesarbeitsgericht die "kontrollierte Flexibilität" als wichtigen Baustein moderner Tarifpolitik konturiert. Den Kritikern ist das nicht genug. Sie fordern gesetzliche Öffnungsklauseln - und stellen damit das Tarifrecht insgesamt infrage.

Von Ulrike Wendeling-Schröder
Dr. Wendeling-Schröder ist Professorin für Arbeits- und Unternehmensrecht an der Universität Hannover. Der Beitrag ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung eines Vortrages anlässlich der Jahrestagung der German Industrial Relations Association (GIRA) vom 14./15. Oktober 2004 in Jena. Die Langfassung mit umfangreichem Fußnotenapparat ist in der Redaktion erhältlich.
wendeling-schroeder@jura.uni-hannover.de

Betriebliche Bündnisse für Arbeit, das heißt Vereinbarungen, die den (zeitlich begrenzten) Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen gegen Entgeltverzicht und/oder Verlängerung oder Flexibilisierung der Arbeitszeit enthalten, etablieren sich zunehmend im strukturellen Gefüge unserer industriellen Beziehungen.

Ohne Wertung der Inhalte anerkennt die Rechtsprechung in zahlreichen Urteilen - bis hin zum Bundesarbeitsgericht - diejenigen Bündnisse, die durch einen Tarifvertrag oder auf der Basis eines Tarifvertrages erfolgen. Allen Bündnissen für Arbeit hingegen, die sich prozedural gegen den Tarifvertrag wenden, indem sie die Tarifvertragsparteien nicht an der Einigung beteiligen, wird jede Anerkennung versagt.

Sanierungs-Tarifvertrag oder Öffnungsklausel

Auch wenn eine Bindung an den Flächentarifvertrag besteht, kann nach der Rechtsprechung durch einen Haustarifvertrag eine dezentrale Regelung getroffen werden - selbst wenn dies zu Lasten der Arbeitnehmer geht (Sanierungstarifvertrag). Dies gilt allerdings nur, wenn der Haustarifvertrag von der auch ursprünglich tarifschließenden Gewerkschaft abgeschlossen wird. Dabei kann sogar in tarifliche Ansprüche (wohlerworbene Rechte) eingegriffen werden, wenn und soweit der Vertrauensschutz der Arbeitnehmer gewahrt wird. Die erhebliche Zunahme von Haustarifverträgen - laut WSI-Tarifarchiv seit 1990 um das Dreifache - basiert auf solchen Vereinbarungen.

Ist eine tarifändernde Konsolidierungsvereinbarung im Sinne eines "Bündnisses für Arbeit" zwischen Gewerkschaft, Betriebsrat und Arbeitgeber getroffen worden, ist nach der Rechtsprechung des BAG im Zweifel davon auszugehen, dass die Wirksamkeit der Regelung intendiert wurde. Ein solcher Vertrag ist damit regelmäßig als Haustarifvertrag anzusehen, der dem Flächentarifvertrag aufgrund seiner Spezialität vorgeht.

Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Flächentarifvertrag kaum je allen Bedürfnissen des einzelnen Betriebes entsprechen kann. Bereits seit geraumer Zeit haben sich die Tarifparteien darauf eingestellt und Möglichkeiten vereinbart, aufgrund derer man den Tarifvertrag auf betrieblicher Ebene konkretisieren, aber auch von ihm abweichen kann: durch tarifvertragliche Öffnungsklauseln.

Zwar normiert § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG an sich eine Sperrwirkung für Betriebsvereinbarungen zugunsten der von den Tarifvertragsparteien "ausgeübten und aktualisierten Tarifautonomie". Allerdings können die Tarifvertragsparteien durch tarifvertragliche Öffnungsklauseln Betriebsvereinbarungen zulassen (§§ 77 Abs. 3 BetrVG, 4 Abs. 3 TVG). Von dieser Möglichkeit wird in neuerer Zeit in erheblichem Maße Gebrauch gemacht.

Das Bundesarbeitsgericht hat mehrere Entscheidungen zu solchen tariflichen Öffnungsklauseln gefällt, die alle auf die Sicherung weitgehender Spielräume für die Tarifvertragsparteien hinauslaufen. Die Entwicklung reicht dabei von der Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1987 über die Rechtsprechung zur nachträglichen Genehmigung einer tarifwidrigen Betriebsvereinbarung bis hin zur Entscheidung, dass von einer Beschränkung von Tariföffnungsklauseln auf bereits bestehende Betriebsvereinbarungen grundsätzlich nicht ausgegangen werden kann. Damit ist das Konzept der "kontrollierten Flexibilität" zu einem entscheidenden Baustein moderner Tarifpolitik geworden.

Auch die betrieblichen Bündnisse für Arbeit müssen sich nach der Rechtsprechung in diese Struktur einpassen, d. h. sie können nur dann durch Betriebsvereinbarung, Regelungsabreden oder sonstige betriebliche Einheitsregelungen rechtswirksam werden, wenn eine entsprechende Öffnungsklausel im Tarifvertrag besteht.

Bündnisse gegen den Tarifvertrag

In der Praxis sind aber auch Vereinbarungen über ein Bündnis für Arbeit nicht selten, die weder in der Form eines Haustarifvertrages noch auf der Basis einer tarifvertraglichen Öffnungsklausel erfolgen, sondern unmittelbar mit dem Betriebsrat und/oder der Belegschaft oder einem Teil von ihr verhandelt werden. Solche Bündnisse werden von der Rechtsprechung ausnahmslos nicht anerkannt. Die Gerichte sehen keine rechtliche Bindungswirkung dieser Vereinbarungen: Jeder Arbeitnehmer kann auf das uneingeschränkte Entgelt klagen, die betroffenen Gewerkschaften haben gegen solche betrieblichen Vereinbarungen einen Unterlassungsanspruch.

Insbesondere haben die Gerichte auch einhellig entschieden, dass das Günstigkeitsprinzip in § 4 Abs. 3 TVG nicht in der Weise interpretierbar ist, dass eine kollektive Arbeitsplatzsicherung in einen Günstigkeitsvergleich zu Entgelt und/oder Arbeitszeit gestellt wird. Das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG ermöglicht es dem Arbeitnehmer, bessere Bedingungen als die im Tarifvertrag vereinbarten auszuhandeln, wenn er die Marktmacht dafür hat. Es ist die Basis der übertariflichen Leistungen.

Konzeptionell wird in diesem Falle die Kollektivautonomie zugunsten der klassischen Privatautonomie zurückgenommen, weil hier die Schutzfunktion des Tarifvertrages weder nötig ist, noch die Funktionsweise des Tarifvertrages durch den abweichenden Individualvertrag unterhöhlt wird. Eine Günstigkeit in diesem Sinne kann aber nur bestehen, wenn der Individualvertrag nach Sachgruppen mit dem Tarifvertrag verglichen wird (Entgelt, Arbeitszeit, Urlaub etc.). Eine pauschalisierende Gesamtbetrachtung ebenso wie ein Vergleich Arbeitsplatzsicherheit gegen Entgeltverzicht passt nicht in diese Systematik.

Auch die Beteiligung eines kollektivrechtlichen Gremiums wie des Betriebsrates erlaubt keine andere Betrachtung. Der Betriebsrat ist nach dem geltenden Recht von der Aushandlung der Preise der Arbeitskraft bewusst ausgeschlossen, er hat auch nicht das Recht auf einen Arbeitskampf. Das duale System von Gewerkschaft einerseits und Betriebsrat andererseits basiert auf einer deutlichen Funktionsabgrenzung.

CDU, CSU und FDP zündeln

Dieser Rechtsprechung zum Trotz und trotz der nachgewiesenen Flexibilität des Tarifrechts werden seit langem und immer wieder gesetzliche Öffnungsklauseln zur Beschäftigungssicherung gefordert. Das Gesetz zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) vom 28. Juli 2001 ist derartigen Vorschlägen nicht gefolgt. Auch die neuen Gesetze zur Reform des Arbeitsmarktes ("Harz I - IV" und das "Gesetz zur Reform des Arbeitsmarktes") enthalten keine solchen Regelungen. Demgegenüber liegen gleich mehrere neue Gesetzentwürfe der Opposition vor, die Abweichungen von Tarifverträgen durch Änderungen des Tarifvertragsgesetzes (TVG) und der Betriebsverfassung zulassen wollen.

Ein Blick auf die grundsätzliche Wirkungsweise von Tarifverträgen macht deutlich, welche rechtlichen und strukturellen Risiken mit diesen gesetzlichen Öffnungsklauseln verbunden wären.

Das deutsche Arbeitsbeziehungssystem geht derzeit in Übereinstimmung mit den Arbeitsbeziehungssystemen in Europa davon aus, dass die Arbeitsbedingungen im Kern autonom ausgehandelt, nicht staatlich vorgeschrieben werden sollen. Wegen der strukturellen Ungleichgewichtigkeit der Verhandlungspartner auf der Ebene des individuellen Arbeitsvertrages wird die Möglichkeit eröffnet, dass die Arbeitnehmer durch den freiwilligen Zusammenschluss in Gewerkschaften zu einer gleichgewichtigen Aushandlung von Mindestarbeitsbedingungen kommen: Die Privatautonomie wird so in der Form der Kollektivautonomie verwirklicht. Diese Grundstruktur wird durch das Prinzip der zwingenden Wirkung des Tarifvertrags und durch den Ausschluss des individuellen Verzichts auf tarifliche Rechte gesichert. Damit wird rechtlich ein Unterbietungswettbewerb verhindert.

Die demokratischen Strukturen beim Zustandekommen der Tarifforderungen und die Notwendigkeit, im Falle von Arbeitskämpfen auf die aktive Solidarität der Mitglieder und möglichst auch der Außenseiter bauen zu können, legitimieren die Verbandsentscheidungen; die vertragstypische Austarierung gegensätzlicher Interessen rechtfertigt die Verhandlungsergebnisse (Richtigkeitsgewähr oder besser Richtigkeitschance). Deren Stabilität gewährleistet die Friedenspflicht. Die Bildung und Betätigung von Koalitionen in diesem Sinne und damit die Tarifautonomie werden in Art. 9 Abs. 3 GG garantiert.

Strukturelles Ungleichgewicht

Grundvoraussetzung für die Notwendigkeit des Wechsels von der Privatautonomie zur Kollektivautonomie ist die Feststellung von Defiziten der Privatautonomie. In der Tat geht die herrschende Meinung davon aus, dass es auf der individualvertraglichen Ebene im Arbeitsrecht ein strukturelles Ungleichgewicht der Vertragsparteien gibt, welches einen Korrekturbedarf auslöst.

Nicht ganz selten wird im Gegensatz dazu erklärt, dass heutzutage ein tarifvertragliches Korrektiv nicht mehr nötig sei. Vor allem wird dabei auf neue Personaltechniken, wie etwa flachere Hierarchien in den Betrieben, abnehmende direkte Kontrolle oder Vertrauensarbeitszeit Bezug genommen. In der Tat sind all diese neuen Strukturen im Arbeitsleben vorhanden, sie ändern aber nichts am wirtschaftlichen Grundsachverhalt, der die Anknüpfung für die Notwendigkeit der Kollektivautonomie bildet: an der Tatsache nämlich, dass der Arbeitnehmer auf den Verkauf der Arbeitskraft angewiesen ist und deshalb ein so vitales Interesse am Arbeitsplatz hat, dass Erpressbarkeit entsteht.

Diese Erpressbarkeit zeigt sich in der Bereitschaft, immer schlechtere Bedingungen zu akzeptieren, um den Arbeitsplatz zu bekommen oder zu behalten (Unterbietungswettbewerb). Der Arbeitsvertrag bietet unter diesen Bedingungen keinen gerechten Interessenausgleich; der Arbeitsmarkt ist und bleibt ein "Sondermarkt". Zwar erfolgt die Überlassung von Arbeitskraft unter Marktregeln, die Arbeitskraft ist aber keine Ware, die für den Verkauf am Arbeitsmarkt hergestellt wird; ihre "Produktion" richtet sich vielmehr nach außerökonomischen Prinzipien.

Die Bindung der Arbeitskraft an die Person führt zu einer eingeschränkten Verfügbarkeit: So kann ein sinkender Lohn typischerweise nicht mit einem sinkenden Arbeitskraftangebot beantwortet werden, weil der permanente Einsatz der Arbeitskraft für alle, die nur ihre Arbeitskraft zum Lebensunterhalt haben, unverzichtbar ist.

Auch die Alternative einer direkten Vermarktung der Arbeitskraft in Form der selbstständigen Arbeit steht nicht vielen offen, weil es nicht ausreichend viele Berufe gibt, in denen man mit relativ wenig Kapital auskommt. Unter diesen Bedingungen ist eine rechtliche Kompensation im Bereich der Austauschgerechtigkeit (Lohn-Leistung), eben die Tarifautonomie, unerlässlich.

Diese Kompensation kann nur in engen Grenzen auch durch gesetzliche Mindestarbeitsbedingungen erfolgen ("Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen" vom 1. Januar 1952). In § 1 Abs. 1 dieses Gesetzes ist ein ausdrücklicher Vorrang tarifautonomer Regelungen der Arbeitsbedingungen vorgeschrieben; nur in Bereichen, die ganz ohne tarifvertragliche Regelungen sind, kommt also eine staatliche Festsetzung der Arbeitsbedingungen in Betracht.

Die gerichtliche Kontrolle vertraglicher Regelungen, etwa unter dem Gesichtspunkt der Sittenwidrigkeit (Lohnwucher), kann ebenfalls eine tarifliche Regelung der Arbeitsbedingungen nicht ersetzen. Eine solche Kontrolle bezieht sich immer nur auf Auswüchse. Deren Feststellung setzt aber gerade die Existenz eines "Normallohnes", des Tariflohnes, voraus.

Der Kern der Tarifautonomie liegt also in dem zwingenden Charakter der Regelungen, die Unterbietungswettbewerb verhindern sollen: Nur so unterscheidet sich die Koalition gemäß Art. 9 Abs. 3 GG von den Vereinigungen nach Art. 9 Abs. 1 GG. Die Freiheit des einzelnen Tarifgebundenen zur individuellen Unterbietung der Tarife wird unter diesen Bedingungen insofern eingeschränkt, als entsprechende Vereinbarungen nicht rechtswirksam sind. Man mag dies als Einschränkung der Freiheit des Einzelnen sehen, diese ist aber beim Gewerkschaftsbeitritt und beim Verbleib in der Gewerkschaft wohl erwogen erfolgt, denn nur so lässt sich Marktmacht auf der Arbeitnehmerseite schaffen.

Droht ein Unterbietungswettbewerb?

Gesetzliche Öffnungsklauseln für betriebliche Bündnisse zur Unterbietung des Tarifniveaus folgen im Kern demselben Mechanismus wie die gesetzliche Ermöglichung der individuellen Tarifunterbietung. Ihre grundsätzliche Unzulässigkeit gehört damit ebenfalls zu den tarifrechtlichen Kernelementen. Das Argument, dass viele Arbeitnehmer aber zu einem solchen Arrangement bereit sind, kann rechtlich ebenso wenig Bedeutung gewinnen wie das Interesse des einzelnen Arbeitnehmers, die anderen zu unterbieten, um den Arbeitsplatz zu bekommen oder zu behalten.

Da dem Gesetzgeber ebenso wie der Rechtsprechung die Problematik der Unternehmenskrise durchaus präsent war und ist, gibt es - wie gezeigt - zur Reduzierung der Arbeitskosten sowohl die Möglichkeit, einen Sanierungstarifvertrag zu schließen als auch eine tarifliche Öffnungsklausel zu vereinbaren. Dieser Ansatz setzt auf eine prozedurale Lösung, nicht auf einen Akteurswechsel und ist deshalb mit den Grundstrukturen des Zivilrechts wesentlich besser kompatibel als die Vorschläge für gesetzliche Öffnungsklauseln, die Dritten eine Vertragsänderung ermöglichen.

Nimmt man das Kernelement des Zivilrechts, die Vertragstreue (pacta sunt servanda) ernst, so kann eine Vertragsänderung nur von den Vertragspartnern (also den Tarifvertragsparteien) erfolgen. Zu bedenken ist zudem, dass derjenige Tarifgebundene Schutz verdient, der auf die Bestandskraft des Tarifvertrags vertraut. Wie sollte ihm gegenüber legitimiert werden, dass Dritte seine mitunter erkämpften, jedenfalls aber über die Verbandsmitgliedschaft "bezahlten" Ansprüche reduzieren?

Insgesamt haben die Novellierungsvorschläge - bewusst oder unbewusst - eine "überschießende" Tendenz. Sie beschränken sich nicht auf Verbesserungsvorschläge für Anpassungsverhandlungen, sondern stellen das Regelungsinstrument Tarifvertrag insgesamt in Frage, indem sie die Verhandlungsmacht Dritten - in diesem Fall dem Gesetzgeber - überantworten.

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