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Magazin Mitbestimmung

Computerspiele: Kämpfen mit Karl Marx

Ausgabe 12/2015

Der neue Teil der erfolgreichen Spielreihe „Assassin’s Creed“ ist eine Zeitreise ins viktorianische England – und in die Frühgeschichte der Gewerkschaften. Von Dmitri Geidel

 London. Das Jahr 1863. Die Zeit der industriellen Revolution. Ein etwas zottelig wirkender deutscher Emigrant bittet uns an einem Bahnhof um Hilfe. Der Mann ist bereits aus Paris und Brüssel verbannt worden, auch hier hat er Ärger mit der Polizei. Sein Name ist Karl Marx. 

Wir sollen ihm helfen, zu einem Geheimtreffen zu gelangen. Kurz darauf beschützen wir Marx auf dem Weg zu einer Gewerkschaftsgründung vor der englischen Polizei und machen in einer Versammlung von streikenden Arbeitern einige Streikbrecher unschädlich. Der Kampf der Arbeiter um Anerkennung im viktorianischen England ist der Hintergrund von „Syndicate“, dem neusten Teil der Spielereihe „Assassin’s Creed“. Computerspiele sind ein relativ junges Medium – doch ein Medium, das das Geschichtsbild junger Menschen bald so stark prägen könnte wie die Filmindustrie. Schon heute macht die Spielebranche mehr Umsatz als die Filmindustrie.

Die Erfolgsprodukte des französischen Spieleherstellers Ubisoft, der weltweit bereits mehr als 9000 Mitarbeiter beschäftigt und im Jahr 2014 rund eine Milliarde Umsatz machte, gehören in das Genre der historischen Abenteuerspiele, wobei man sich, bei aller Detailtreue in der Ausstattung, von dem Gedanken einer wissenschaftlich korrekten Darstellung aber sogleich verabschieden sollte. Stattdessen ist die Handlung mit einem Schuss Mystizismus und mit Verschwörungstheorien angereichert, die man in der Literatur als abstrus kritisieren würde: Über alle Jahrhunderte, so die Erzählung, stehen sich zwei Geheimorden, die Templer und die Assassinen, gegenüber, die gegeneinander kämpfen. 

In früheren Folgen von „Assassin’s Creed“ ging es darum, Kreuzritter im Heiligen Land zu bekämpfen oder die Amerikaner in ihrem Unabhängigkeitskrieg gegen das Mutterland zu unterstützen. In „Syndicate“, das Produktionskosten von rund 70 Millionen Euro verschlungen hat, ist das ganze Spiel vom Grundkonflikt zwischen Kapital und Arbeit durchzogen. Der Spieler steuert abwechselnd die Zwillinge Evie oder Jacob Frye, die Kinder eines Assassinen, wobei die Entwickler viel Wert auf eine eingängige Steuerung gelegt haben. Dass mit Evie auch ein weiblicher Spielcharakter eingeführt wird, haben einige Rezensenten schon lobend hervorgehoben. Die Geschwister sollen, geführt durch den Spieler, London aus den Fängen der machthungrigen Templer entreißen. 

Die Templer, das sind die Kapitalisten. Evie und Jacob müssen Attentate auf ausbeuterische Fabrikbesitzer begehen, Kinder aus der Zwangsarbeit befreien oder im Auftrag von Karl Marx geheime Dokumente über mangelnde Arbeitssicherheit aus einem Büro stehlen. Das alles geschieht vor dem prachtvollen und detailreichen Szenario der viktorianischen Metropole London, einer Stadt mit Straßen voller Menschen und lärmender Pferdekutschen. Der Spieler erkundet Fabrikhallen mit brodelnden Schmelzöfen und elende Arbeiterviertel. Hier zahlt sich aus, dass sich die Spielemacher von Historikern beraten ließen. 

FAST, als wäre man DABEI GEWESEN_ Es macht Spaß, sich in dieser untergegangenen Welt zu bewegen, Auf den Dächern der Kutschen, die den Helden häufig als Verkehrsmittel dienen, lassen sich spannende Kämpfe ausfechten – einmal auch auf dem Dach eines Eisenbahnzuges. Bei der Kulisse bleibt es nicht. Es gelingt den Machern zugleich, einen Eindruck von den historischen Konflikten der Zeit zu zeichnen. Mit dem Schriftsteller Charles Dickens, der Begründerin der modernen Krankenpflege, Florence Nightingale, und dem Wissenschaftler und Theoretiker Karl Marx lernt der Spieler wichtige Personen dieser Zeit kennen. Und er nimmt selbst teil an dem Kampf der Arbeiter für ein besseres Leben. 

Kein anderes Computerspiel fängt die Geburtsstunde der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften so gut ein wie „Assassin’s Creed. Syndicate“. Allein dadurch ist es geeignet, gerade sehr jungen Menschen zu vermitteln, wie die Gewerkschaftsbewegung entstanden ist. Ein Blockbuster wie „Syndicate“ ist dennoch in erster Linie als Actionspiel konzipiert. Das geht zulasten der inhaltlichen Tiefe. Mehr Geschichte als in einem durchschnittlichen Hollywoodfilm darf man also nicht erwarten. Der besondere Mehrwert liegt in den Erfahrungen und in der Vermittlung impliziten Wissens, wie es nur ein Computerspiel vermitteln kann. Wer sich auf Assassin‘s Creed einlässt, der hat das Gefühl, er wäre fast dabeigewesen.

Mehr Informationen

Assassin’s Creed Syndicate. Preis ca. 47 Euro, erhältlich seit 23. Oktober für PlayStation 4 und Xbox One und seit 19. November für PC Entwickler: Ubisoft Quebec Publisher: Ubisoft

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