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Europapolitiker Leinen: „Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kam die Euphorie, dann kam die Verunsicherung.“ Magazin Mitbestimmung

Das Gespräch führte KAY MEINERS.: Jo Leinen: "Wir brauchen ein Recht ohne Schlupflöcher"

Ausgabe 07/2018

Interview Jo Leinen über die Krise der EU, die Entfremdung der Bürger von der europäischen Idee und seinen Auftritt auf der Böckler-Konferenz für Aufsichtsräte

Das Gespräch führte KAY MEINERS.

Herr Leinen, sie gehören dem linken Flügel der SPD an, kommen aus der Anti-Atomkraft-Bewegung, sitzen seit knapp 20 Jahren im Europaparlament. Was ist Ihre persönliche Europabilanz?

Ich habe in den letzten 20 Jahren die Höhen, aber auch die Tiefen der Europäischen Einigung erlebt: Zuerst große Euphorie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, verbunden mit Zuversicht, dass wir in Europa gemeinsam stärker und besser werden und uns in einer turbulenten Welt behaupten können. Und dann die Verunsicherung in den letzten zehn Jahren mit dem Paukenschlag der Bankenkrise und zuletzt durch die Herausforderungen mit der Einwanderung nach Europa. Beide Krisen haben zu einer gewissen Spaltung geführt, die das europäische Projekt ernsthaft gefährden kann.

Viele Beobachter teilen Ihre Sorge. Sie sehen die EU in einer tiefen Krise, mit einem Trend zur Renationalisierung. Wo kann man konkret ansetzen, wenn man mehr Bürgerbeteiligung will?

Die Europäische Union hat den Menschen viele Vorteile und Freiheiten gebracht. Europa ist für große Teile der Welt ein Sehnsuchtsort geworden. Trotzdem hat eine Entfremdung zwischen den Bürgern und der europäischen Idee stattgefunden. Immer mehr Menschen folgen den einfachen Parolen für Abschottung und nationale Lösungen. Wir brauchen jetzt sichtbare Ergebnisse für ein Europa, das die Menschen schützt und eine größere Offenheit in der Europapolitik. Die jüngste Onlinebefragung der Menschen über die Vor- und Nachteile der Sommerzeit ist ein gutes Beispiel, wie man eine bessere Bürgerbeteiligung organisieren kann.

Allerdings auch ein eher unpolitisches Beispiel. Die Beteiligung an den Europawahlen ist stetig gesunken, je größer die EU wurde. Und die Europäische Bürgerinitiative, die es seit 2012 gibt, kennt kaum noch jemand. Das kann Ihnen kaum gefallen.

Alle fünf Jahre zur Europawahl zu gehen reicht nicht. Wir brauchen dringend bessere Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung während der gesamten Legislaturperiode. Im Parlament sind wir grade dabei, die Europäische Bürgerinitiative attraktiver zu machen. Sie ist ein direktdemokratisches Instrument, mit dem Menschen über die nationalen Grenzen hinaus Themen auf die Agenda der Europapolitik setzen können. Das Parlament wird sich in Zukunft noch intensiver mit den Themen einer erfolgreichen Bürgerinitiative befassen und auf deren Umsetzung drängen. Zudem soll das Mindestalter nach Willen des Parlaments auf 16 Jahre herabgesetzt werden, um junge Menschen einzubeziehen.

Im Juni waren Sie Gast auf der Aufsichtsrätekonferenz der Hans-Böckler-Stiftung. Was war Ihre Botschaft dort?

Mitbestimmung ist die Verwirklichung der Demokratie am Arbeitsplatz und im Betrieb. Die Mitbestimmung darf durch die Regeln des Binnenmarktes nicht eingeengt werden. Im Gegenteil, sie muss europaweit ausgebaut werden. Alle Studien zeigen, dass Demokratie in der Wirtschaft Hand in Hand geht mit politischer Demokratie. Mehr Mitgliedsländer in der EU sollten erkennen, dass Mitbestimmung den Zusammenhalt der Gesellschaft stärkt und kein Standortnachteil ist.

Ist Arbeitnehmerbeteiligung ein Thema mit genug Strahlkraft, um wieder Begeisterung für Europa zu wecken? Oder ist es einfach nur wichtig?

Die Mitbestimmung muss aus der administrativen und technokratischen Ecke herauskommen. Ihre Bedeutung für die Betriebe, aber auch für die gesamte Gesellschaft, müsste deutlicher dargestellt werden. Sie ist ein Grundwert in einer aufgeklärten Industriegesellschaft. Ein bürgernahes Europa braucht Bürgerbeteiligung, ob in Firmen, Parteien oder den Organisationen der Zivilgesellschaft. Das Parlament als Bürgerkammer in der EU sollte sich ebenfalls mehr für die Stärkung der Mitbestimmung im gemeinsamen Europa einsetzen.

Aktuell wird viel über das Company Law Package diskutiert, in dem es ums Unternehmensrecht geht. Die Gewerkschaften sagen, es setze der Umgehung der Mitbestimmung durch europäische Rechtsformen nicht wirklich etwas entgegen. Teilen Sie diese Einschätzung?

Die Niederlassungsfreiheit im Europäischen Binnenmarkt ist kein Wert an sich. Sie muss mit einer sozialen Verpflichtung gekoppelt werden. Es kann nicht sein, dass Firmen per Mausklick am Computer ihren Sitz von einem Mitgliedsland in das andere verlegen und die Beschäftigten des Unternehmens damit ihre Rechte verlieren. Die Novelle zum europäischen Gesellschaftsrecht war zwar dringend nötig, um Urteile des Europäischen Gerichtshofs bei Sitzverlagerungen von Unternehmen in Recht und Gesetz umzusetzen. Im Europäischen Parlament werden wir aber darauf drängen, dass die neuen Regeln keine Schlupflöcher bieten, um die betriebliche Mitbestimmung auszuhebeln oder zu umgehen.

Die Gewerkschaften verlangen ja Nachbesserungen am Entwurf – unter anderem europäische Mindeststandards für die Mitbestimmung und einen Bestandschutz, der nicht nach drei Jahren ausläuft. Ist das sinnvoll?

Das Parlament wird sich intensiv mit dem Gesetzesentwurf der Kommission befassen. Ich sehe schon etliche Themen zur Verbesserung. Wir wollen Sicherheitsklauseln gegen reine Briefkastenfirmen. Wir fordern ein Unternehmensregister für alle Unternehmen in der Europäischen Union, die in mehr als einem Mitgliedstaat ihren Sitz oder eine Tochtergesellschaft haben. Wir brauchen zudem eine horizontale Richtlinie für Arbeitnehmermitbestimmung in Europa unter Absicherung der bestehenden Mitbestimmungsrechte. Erforderlich sind dringend bindende Mindestregeln für die soziale Verantwortung von Unternehmen. Nicht zuletzt auch europaweite Haftungsregelungen für Subunternehmerketten.

Sie sprachen auf der Böckler-Konferenz davon, dass man “Allianzen bilden“ müsse für mehr Demokratie in der Wirtschaft. Wo sehen Sie im EU-Parlament und im Rat und darüber hinaus Verbündete?

In den meisten Ländern der EU gibt es eine klare Mehrheit in der Bevölkerung für ein faires Wirtschaften und den Erhalt des europäischen Sozialmodells. Leider haben diese Umfragewerte jedoch in der politischen Tagesarbeit nicht denselben Wert, weil die Kräfte zersplittert sind. Ich selbst habe in meiner politischen Karriere erlebt, wie in der Politik Allianzen mit der Zivilgesellschaft erfolgreich sein können. Sowohl die Umweltbewegung wie auch die Friedensbewegung waren breite Bündnisse über politische Parteien und Organisationen hinweg. Die europäischen Gewerkschaften haben mehrfach bewiesen, dass sie mit solchen Allianzen auch Erfolge erzielen, wie kürzlich beim Widerstand gegen das Freihandelsabkommen TTIP. Ähnliche Allianzen sollten auch für den Ausbau der Mitbestimmung zustande kommen.

ZUR PERSON

Jo Leinen, geboren 1948 im saarländischen Bisten, sitzt seit 1999 für die SPD im Europäischen Parlament. Leinen war in den 1980er Jahren einer der Wortführer der  Anti-Atomkraft- und der Friedensbewegung. Von 1977 bis 1984 war er Vorstandssprecher beim Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) und von 1985 bis 1994 Umweltminister im Saarland.

Foto: Europäisches Parlament/Philip Lethen

WEITERE INFORMATIONEN

Dokumentation der Böckler-Konferenz für Aufsichtsräte 2018

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