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Magazin Mitbestimmung

: Italien trauert kollektiv

Ausgabe 03/2008

ARBEITSUNFÄLLE In Italien sterben täglich Menschen an ihrem Arbeitsplatz. Die drei großen Gewerkschaften wollen eine Gesetzesreform und Arbeitsschutzbestimmungen durchzusetzen.

Von MICHAELA NAMUTH, Journalistin in Rom


In der Nacht vom 5. Dezember 2007 bricht im Kaltwalzwerk der Thyssen-Krupp-Niederlassung in der Fiat-Stadt Turin ein kleines Feuer aus. Das geschieht öfters in dem Werk, das bald stillgelegt werden soll. Die Arbeiter, die wie so oft Überstunden machen, nehmen routiniert die Feuerlöscher von der Wand. Doch die sind diesmal leer. Vor ihnen explodiert ein mit Öl gefülltes Rohr.

Vier Arbeiter verbrennen bei lebendigem Leib, drei weitere erliegen später ihren Verbrennungen. Die italienische Staatsanwaltschaft ermittelt derzeit über die Ursachen des tödlichen Unfalls und ob die Unternehmensspitze, die schon wegen des scharfen Konflikts um das Werk in Terni in die Schlagzeilen gekommen war, gegen die Sicherheitsauflagen verstoßen hat.

AUFSCHREI DER EMPÖRUNG_ An der Beerdigung der toten Arbeiter nahmen 25 000 Menschen teil. Die Metallgewerkschaft Fiom rief in den Fabriken zum Streik auf. Die italienische Presse hat bislang ihr Versprechen gehalten, dass die Tragödie diesmal nicht sofort in Vergessenheit geraten solle, und liefert regelmäßig Berichte über den Stand der Ermittlungen, aber auch täglich über neue, tödliche Unfälle.

Als bekannt wurde, dass die ThyssenKrupp-Geschäftsführung in einem internen Schreiben die Arbeiter bezichtigte, sie hätten die Feuerlöscher selbst auffüllen müssen, ging ein Aufschrei der Empörung durch die Presse. Jetzt hat sich die Leitung der italienischen Filiale mit den Gewerkschaften auf eine neue Vereinbarung über die Anhebung der Sicherheitsstandards in allen italienischen Werken geeinigt. Auch darüber berichteten die Medien ausführlich.

In Deutschland wundert sich manch einer über diese nationale Anteilnahme, so auch die "Süddeutsche Zeitung": "Während zum Beispiel in Deutschland tödliche Arbeitsunfälle kaum noch wahrgenommen oder höchstens wie Verkehrstote bedauernd registriert werden, rufen sie in Italien kollektive Trauer hervor", heißt es in einem Artikel vom 8. Januar.

Das klingt gut, hat aber eher einen folkloristischen als einen realen Bezug zur Wirklichkeit, zumindest was Italien betrifft. Zum einen schaffen es die Unfalltoten nur selten in die Schlagzeilen und werden deshalb auch nur selten kollektiv betrauert. Zum anderen besagen die Statistiken, dass die Italiener einen triftigen Grund zur Trauer haben: In den vergangenen Jahren starben jährlich rund 1300 Menschen bei Arbeitsunfällen. Das sind doppelt so viele wie in Deutschland.

Zieht man zudem in Betracht, dass die Zahl der Beschäftigten in Deutschland bei rund 40 Millionen, in Italien hingegen bei 23 Millionen liegt, heißt dies, dass der Anteil der Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz das Leben lassen, gemessen an der Zahl der Beschäftigten in Italien fast vier Mal so hoch ist wie hierzulande. 2006 zählte die Versicherungsanstalt INPS insgesamt 928 000 gemeldete Unfälle. Diese Zahl war im Verlauf des vergangenen Jahres zurückgegangen, steigt jetzt aber wieder an. Dazu kommt eine hohe Dunkelziffer, denn ein großer Teil der Verunglückten sind illegale Einwanderer und prekär Beschäftigte, meistens auf dem Bau.

HÖCHSTES RISIKO BEI SUBUNTERNEHMEN_ Die Schattenwirtschaft, die nach Schätzungen rund ein Drittel des italienischen BIP ausmacht, ist nach Meinung der Gewerkschaften aber nur eine Ursache der hohen Unfallquote. Für die Gewerkschaften ist die Fragmentierung der Produktionsabläufe durch die Unternehmen eines der größten Probleme. "Am Ende der langen Kette der Subunternehmen ist niemand mehr für die Sicherheit der Beschäftigten zuständig", so Paola Agnello Modica, bei der Gewerkschaft CGIL zuständig für die Sicherheit am Arbeitsplatz.

Sie kritisiert, dass vor allem Unternehmensteile mit hohem Unfallrisiko von größeren Konzernen abgestoßen und als kleine Subunternehmen ausgewiesen werden. Dies spart die hohen Versicherungskosten für riskante Arbeitsplätze. In den Unternehmen mit weniger als 15 Beschäftigten sind die Kontrollen nicht so häufig und die Gewerkschaften kaum präsent. Nach Agnello Modica gehen 92 Prozent der Unfälle auf das Konto dieser Kleinbetriebe, die wiederum über 90 Prozent der italienischen Unternehmen stellen. Dementsprechend selten sind Betriebsvereinbarungen, die zusätzlich zu den gesetzlichen Mindestvorschriften die Sicherheit der Beschäftigten thematisieren.

Die CGIL, die größte der italienischen Gewerkschaften, hat das Problem deshalb jetzt zur Chefsache gemacht. "Nur rund 17 bis 18 Prozent der Betriebsvereinbarungen thematisiert die Sicherheit, und selten geht es dabei um Fortbildung und Prävention. Deshalb müssen wir jetzt wieder von unten anfangen, auch um starke Wurzeln für eine neue Gesetzgebung zu schaffen", erklärte CGIL-Generalsekretär Guglielmo Epifani zu Beginn des Jahres.

MEHR KONTROLLEURE, HÄRTERE STRAFEN_Angesichts der Notlage haben sich die politischen Richtungsgewerkschaften - die linke CGIL, die christdemokratische CISL und die liberale UIL - auf einen gemeinsamen Forderungskatalog geeinigt. Dieser verlangt von der Mitte-Links-Regierung, die in einem Gesetzesdekret vom August 2007 zusammengefassten Maßnahmen nun auch tatsächlich in eine Reform der bestehenden Normen umzusetzen und dafür die nötigen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen.

Zu den wichtigsten Maßnahmen, die nach Meinung der Gewerkschaften sofort angegangen werden sollten, gehören die Intensivierung der Kontrollen und höhere Strafen für die Unternehmen. Die Zahl der Inspekteure der Gesundheitsbehörde ASL soll nach und nach von 78 000 auf 250 000 aufgestockt werden. Die Sanktionen für die Unternehmen, die gegen die Arbeitsschutzregelungen verstoßen, sollen empfindlich verschärft werden. Betriebe, die mehr als 20 Prozent des Personals illegal beschäftigen, können umgehend geschlossen werden.

Jede Belegschaft soll einen Sicherheitsbeauftragten wählen. Betriebliche Fortbildung in Sachen Arbeitsschutz wird zu 50 Prozent subventioniert. Die Gewerkschaften kritisieren, dass folgende Aspekte in dem Regierungspapier nicht berücksichtigt werden: die Möglichkeit, nicht nur die Subunternehmen, sondern auch ihre Auftraggeber zur Verantwortung zu ziehen und eine Beschränkung der Einstellung von Personal mit atypischen Arbeitsverträgen. Doch trotz dieser offen gebliebenen Forderungen ist im letzten Jahr etwas in Bewegung geraten.

Dies liegt zum einen an der neuen Strategie der Gewerkschaften, die den Arbeitsschutz jetzt als erste Priorität behandeln. In der Vergangenheit hatten sie, im Clinch mit einer kaum zu sozialpartnerschaftlichen Gesten geneigten Unternehmer-Clique, Themen wie Sicherheit und Qualität der Arbeit immer hinter die Lohnpolitik oder den Kampf um Arbeitsplätze gestellt. Zum anderen haben die Arbeitnehmer seit fast zwei Jahren einen Verbündeten auf höchster Instanz. Staatspräsident Giorgio Napolitano lässt keine Gelegenheit aus, die Nation an die zahlreichen "morti bianche" - das heißt die "weißen", unschuldigen Toten - zu erinnern.

"Dem Thema Arbeitsschutz gebührt die höchste Aufmerksamkeit der Gesellschaft und das Höchstmaß an Interventionen vonseiten der Arbeitswelt und der Institutionen", mahnte er am 12. Januar anlässlich einer denkwürdigen Premiere. Zum ersten Mal wurde im goldverzierten Zeremoniensaal des Präsidentenpalastes die Lancierung einer Medienkampagne zur Sicherheit am Arbeitsplatz gefeiert. Die Gewerkschaften begrüßen die Initiativen des Präsidenten, aber die Zeit drängt. Paola Agnello Modica: "Wir brauchen jetzt schnell Gesetze, die auch umgesetzt werden."  


 

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