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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Ein Fundament ist noch nicht das Haus'

Ausgabe 06/2005

Michael Sommer; der Vorsitzende des DGB, über die Chancen der EU-Verfassung nach dem Nein der Franzosen und der Niederländer, über die Angst vor Billiglohnkonkurrenz und seinen Vorschlag für einen Europäischen Sozialkontrakt

Kollege Sommer, gerade haben sich die Franzosen mehrheitlich gegen die EU-Verfassung ausgesprochen. Würde eine Abstimmung unter DGB-Mitgliedern ebenso ausgehen?
Unter denen, die sich mit der Verfassung beschäftigt haben, würde sie wohl positiv ausgehen Wir haben ja durchaus auch Kritik am Verfassungsentwurf. Aber in der Gesamtschau steht für die deutschen Gewerkschaften fest: Diese Verfassung wäre ein Fortschritt gegenüber dem jetzigen Zustand. Allein die Aufnahme der Charta der sozialen Grundrechte steht auf der Habenseite. Aber die meisten haben sich meiner Meinung nach damit zu wenig beschäftigt - das betrifft übrigens nicht nur Gewerkschaftsmitglieder. Was wir an Aufklärungsarbeit tun können, machen wir. Aber vielleicht reicht das noch nicht. In Frankreich wurde im Vorfeld des Referendums  jedem die Verfassung nach Hause geschickt.

Ein ziemlich dicker Packen - und geholfen hat es nichts.
Egal - die Leute hatten so Gelegenheit, sich damit zu befassen. In Deutschland hat meines Wissens nur eine Zeitung den Verfassungstext vollständig abgedruckt - und das verbunden mit einer sehr abschätzigen Kommentierung. In Teilen Europas wird den Leuten abstruses Zeug über diese Verfassung erzählt - man diffamiert sie als Vorbereitung eines Angriffskrieges oder behauptet, sie ermögliche die Todesstrafe. Gegen solchen Blödsinn hilft nur Aufklärung. Was bedeutet die Verfassung wirklich?
Wenn sie in Kraft wäre, wäre es um Europa besser bestellt als heute, wo die Freihandelsstrategie dominiert und andere Themen beiseite gedrängt werden - von der Steuer- bis zur Arbeitsgesetzgebung. In der Diskussion über die Dienstleistungsrichtlinie haben die Leute zum ersten Mal gesehen, was es bedeutet, wenn die marktliberalen Positionen pur auf die Arbeits- und Sozialgesetzgebung durchschlagen würden. Dagegen haben 80000 Menschen in Brüssel demonstriert.

Sie bewerten die Verfassung als Fortschritt, gleichzeitig erklären Sie, das Nein der Franzosen sei ein "dringender Appell an die Erneuerung des europäischen Sozialmodelles". Ist die EU-Verfassung den Franzosen also nicht sozial genug?
Das Nein hatte auch innenpolitische Gründe - es war eine Abrechnung mit den marktliberalen Strategien der Regierung. Man muss sich aber schon die Frage stellen, ob die französischen Diskussionen nicht in Wahrheit europäische sind. Die politischen Entscheider sind gut beraten, sich über das Votum nicht hinwegzusetzen. Vor allem: Sie sollten jetzt klarstellen, dass sie es ernst meinen mit einer sozialen Dimension Europas. Die Stichworte sind: Dienstleistungs- und Arbeitzeitrichtlinie, Steuerharmonisierung und Ausweitung der Mitbestimmungsrechte für Arbeitnehmer. Das sind wichtige Signale, die jetzt kommen müssten.

Was würde eine Verfassung  ändern?
Sie gäbe uns den klaren Auftrag, ein soziales Europa zu schaffen. Ausdrücklich ist im Text von einer "sozialen Marktwirtschaft" die Rede. Das haben wir so gefordert - damit wollten wir deutlich machen, dass der Markt sozial gezügelt, dass er reguliert werden muss. Aber die Sätze müssen mit Leben gefüllt werden - wie schillernd es für sich genommen ist, sieht man an der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft - da segeln Leute unter diesem  Begriff, die eigentlich das Gegenteil wollen.

Die Verfassung kann den ungezügelten Kapitalismus zivilisieren?
Sie könnte zumindest ein Fundament dafür sein, indem sie Verbindlichkeiten schafft. Aber ein Fundament ist noch lange nicht das Haus. Es gibt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes zur Arbeitszeitrichtlinie, wonach Bereitschaftszeit als Arbeitszeit zu gelten hat. Aber die Kommission setzt sich darüber hinweg, weil die Unternehmer das massiv bekämpfen. Solange so etwas zugelassen wird, stimmt etwas nicht in der Balance zwischen Exekutive und Rechtsprechung. Das würde durch die Verfassung schon anders werden.

Das klingt doch ganz optimistisch. Warum ist die Stimmung dann so mies wie nie?
Erstens, weil die soziale Verfassung noch nicht Realität ist. Und zweitens, weil wir derzeit Auswüchse erleben, die den Leuten Angst machen - bei der Entsendung von Fleischern oder beim Zuzug vermeintlich selbstständiger Handwerker. Wenn sich in einer Handwerksrolle 50 Fliesenleger mit derselben Adresse anmelden und behaupten, sie seien alle selbstständig, dann empfinden die Fliesenleger in Deutschland das als existenzielle Bedrohung. Wenn Menschen unter unwürdigen Bedingungen leben müssen und dabei, wie auf dem Bau, sogar Recht gebrochen wird, hat das allerdings ganz viel mit Kriminalität zu tun und wenig mit Europa.

Gleich, ob die Bedrohungen legal oder illegal sind - es gibt Menschen, die Angst vor Europa haben.
Ja, aber man kann die Probleme in den Griff bekommen. Doch solange das noch nicht der Fall ist, fühlt sich jeder deutsche Arbeitnehmer tendenziell bedroht. Die Tatsache, dass unsere Exportwirtschaft auch deshalb boomt, weil wir den Binnenmarkt haben, dass wir insgesamt davon profitieren, wird nicht zur Kenntnis genommen. Wie immer gibt es Gewinner und Verlierer. Derzeit melden sich vor allem die Verlierer. Die wollen Schutz vor Dumping, und dem muss man Rechnung tragen. Wir müssen die Diskussion weiterführen - mit allen Ängsten und allen Hoffnungen.

Vertreten die Gewerkschaften vor allem die Verlierer?
Wir organisieren auch Gewinner. Dabei haben wir - wie auch der Europäische Gewerkschaftsbund - ein klares Profil: Wir stehen für soziale Grundnormen, und die wollen wir durchsetzen - bei der Arbeitszeitrichtlinie ebenso wie bei der Dienstleistungsrichtlinie. Hier ist zum ersten Mal ein europäisches Thema zum Massenthema geworden. Ich habe große Hoffnungen, dass wir das Herkunftslandprinzip kippen. Wenn das nicht gelingt, wird die Ablehnung größer werden.

Für die Osteuropäer stellen die niedrigen Lohnkosten einen komparativen Vorteil dar.
Dieser Vorteil besteht nicht für die Arbeitnehmer, sondern für die Arbeitgeber. Ich bin sehr stolz darauf, dass es eine einheitliche Haltung aller europäischen Gewerkschaften zur Dienstleistungsrichtlinie gibt. Wir haben uns nicht spalten lassen. Nachdem meine polnischen und tschechischen Kollegen am 19. März an der Demonstration für ein soziales Europa in Brüssel teilgenommen hatten, haben sie förmliche Abmahnungsschreiben ihrer Regierungen bekommen. Der Vorwurf: Sie würden gegen die nationalen Interessen verstoßen.

Was ist der Preis für diese Einigkeit?
Sie ist ein Ergebnis der Erfahrungen, die wir machen. Die Schweden, die immer für totale Freizügigkeit waren, konnten gerade noch verhindern, dass eine lettische Baufirma in ihrem Land zu lettischen Bedingungen einen Kindergarten baut. Und die Tschechen sagen: "Wir ziehen mit dir gemeinsam gegen Steuerdumping zu Felde, weil wir die Nächsten sind, die darunter leiden." Denn die Firmen, die heute dort anklopfen, ziehen morgen in die Ukraine weiter. Im Gegenzug erwarten die Osteuropäer, dass wir bei der Frage nach der Arbeitnehmerfreizügigkeit anders agieren. Ich habe ihnen aber immer gesagt, dass wir eine Übergangsregelung brauchen, um die Öffnung des Arbeitsmarktes sozial zu gestalten.

Ist der Graben zwischen Ost und West nicht viel tiefer? Hier der saturierte Westen, dort die Nachzügler, die sich am US-Kapitalismus orientieren?
Als hierzulande die DDR dem Grundgesetz beitrat, hatte das Wort "Privatisierung" für viele einen positiven Klang. Es bedeutete die Abkehr vom Realsozialismus. So ähnlich ist es im Baltikum jetzt auch. Die Balten litten ein halbes Jahrhundert unter Diktaturen, unter Hitler wie unter Stalin. Ich muss akzeptieren, dass sie zuerst einmal einen anderen Weg gehen. Aber es ist ein Weg, der in weiten Teilen zu Lasten der Arbeitnehmer geht.

Als DGB-Vorsitzender fordern Sie einen "Sozialkontrakt für Europa". Was ist damit gemeint?
Nicht ein einzelner Vertrag, sondern ein Grundkonsens, wie ihn auch das deutsche Sozialmodell prägt. Das heißt aber nicht: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. In Europa gibt es ganz unterschiedliche Auffassungen von Sozialstaatlichkeit oder von Tarifautonomie. Aber es gibt Gemeinsamkeiten, die wir weiterentwickeln müssen - die Vereinigungsfreiheit, das Streikrecht, die Frage rechtsverbindlicher Abmachungen mit den Arbeitgebern, Partizipation im Wirtschaftsleben, das Recht auf Arbeit.

Wer soll ein Recht auf Arbeit garantieren?
Das ist ein moralisches, kein materielles Recht. Am Ende schaffen Unternehmen Arbeitsplätze, indem sie investieren. Es muss Aufgabe der Politik sein, dafür die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Das wird doch schon versucht - mit der Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000. Aber wir sind nicht auf einem guten Weg, die Ziele zu erreichen.
Die Vision ist nicht richtig umgesetzt worden. Außerdem haben wir in den Kernstaaten Europas ein großes Problem mit dem Wirtschaftswachstum. Wenn wir uns Deutschland ansehen mit schwächsten Wachstumsraten und einem rezessiven Binnenmarkt, dann wird deutlich, dass ökonomische Fehler gemacht worden sind. Viele Leute sind von den sozialdemokratischen Regierungen enttäuscht - da kann man die deutschen Wahlergebnisse gleich mit heranziehen.

Was hätte man anders machen müssen?
Man hätte auf europäischer Ebene sehr viel stärker eine aktive makroökonomische Politik verfolgen müssen - das fängt bei der Zentralbank an und hört bei der Kommission nicht auf. Jetzt wird versucht, die Lissabon-Strategie weiterzufahren, aber ohne die sozialen Bedingungen dazu. Man setzt auf Deregulierung, auf Liberalisierung, also auf die Rezepte, die seit 20 Jahren versagen.

Seit dem Jahr 2000 haben sich die politischen Mehrheiten in Europa verändert.
Ja, bedauerlicherweise sind die Konservativen auch im Europaparlament stärker geworden. Wir haben sehr große Schwierigkeiten, Mehrheiten zu organisieren. In der Kommission haben wir von 25 Personen noch sieben, die man im weitesten Sinne der Linken zurechnen kann. Was wir konkret erreichen können, hängt genau von diesen Kräfteverhältnissen innerhalb der Gesellschaft ab.

Die Gewerkschaften in den neuen Mitgliedsstaaten sind eher schwach.
Ich habe großen Respekt vor meinen Kollegen, die ihre Arbeit unter zum Teil sehr schwierigen Bedingungen verrichten müssen. Andererseits gibt es auch positive Entwicklungen, zum Beispiel bei den tschechischen Gewerkschaften. Die sind durchaus in der Lage, den VW-Konzern zu bestreiken, wenn es darauf ankommt. Wir müssen einfach dabei mithelfen, dass sich überall starke Gewerkschaften entwickeln.

Und - wie geht es damit voran?
Wir helfen an vielen Stellen, etwa mit Seminaren. Die interregionalen Gewerkschaftsräte leisten hervorragende Arbeit. Und ich bemühe mich, seit ich DGB-Vorsitzender bin, regelmäßig meine europäischen Nachbarn zu besuchen. Gerade kümmere ich mich darum, dass mein tschechischer Kollege Milan Stech mit mir an der Anhörung des Deutschen Bundestages zur Dienstleistungsrichtlinie teilnimmt.

Wie werden die harten Fragen - Löhne, Arbeitszeiten - angegangen?
Es gibt den Weg über Branchentarifverträge, die man auf Europa ausweitet, und den Weg über den sozialen Dialog mit dem Europäischen Arbeitgeberdachverband UNICE, dessen Bereitschaft, zu belastbaren Regeln zu kommen, aber abgenommen hat. Vielleicht brauchen wir beides. Ich glaube aber, dass wir einige der harten Sachfragen - Löhne, Arbeitszeit - nur über die Branchengewerkschaften lösen können.

Welche Institutionen sind für die Lobbyarbeit besonders wichtig?
Denken Sie an die Kollegen, die im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss arbeiten, wo die Grundlagen für unsere Diskussionen gelegt werden, an die Leute, die die Lobbyarbeit im Europäischen Parlament machen, an die internationalen Branchenverbände der Gewerkschaften, an die Kollegen beim EGB. Und dass sein Generalsekretär John Monks in Deutschland oder Frankreich interviewt wird, ist schon ein Fortschritt an sich.

John Monks hat den Deutschen in einem Interview mit der "Zeit" depressive Neigungen unterstellt.
Anders herum: Man kann nicht wirklich glücklich werden, wenn man ein Foto von Denis Law im Büro hängen hat.

Law spielt bei Manchester United, einem börsennotierten Club, der an den US-Milliardär Malcolm Glazer verkauft wurde.
So etwas muss doch depressiv machen. Aber im Ernst: John hat in einer Sache Recht: Wir dürfen nicht immer wie die Beladenen und Mühseligen durch die Gegend rennen. Ich arbeite daran, dass das nicht länger so ist.

Der EGB als europäischer Dachverband der Gewerkschaften ist mit etwa 50 Mitarbeitern immer noch recht bescheiden ausgestattet.
Das wird besser. Die Bereitschaft der Gewerkschaften, dafür Geld in die Hand zu nehmen, steigt in dem Maße, in dem die Verbindlichkeit steigt. Die große Leistung von Monks-Vorgänger Emilio Gabaglio war, dass er die Sozialcharta in der Europäischen Verfassung mit durchgesetzt hat. John ist zwar ein anderer Typ - macht aber auch eine ausgesprochen gute Arbeit.

Die Beteiligung der Arbeitnehmer gehört zum europäischen Sozialmodell unbedingt dazu. Doch in manchen Oststaaten gelten Gewerkschaften und Mitbestimmung als Symbole der alten Ordnung.
Um sie aus dieser Ecke herauszuholen, müssen wir zeigen, welche positiven Erfahrungen wir damit gemacht haben. Wir müssen zeigen, was die Mitbestimmung wert ist - für die Beschäftigungssicherung, für Innovationen, für Investitions- und Standortentscheidungen. Wir müssen unsere Kollegen mit einbeziehen - in den Euro-Betriebsräten und auf den Arbeitnehmerbänken multinationaler Unternehmen. Dabei dürfen wir aber nicht als Missionare auftreten. Wir müssen respektieren, dass es ganz verschiedene Mitbestimmungsmodelle gibt.


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